SUPPLEMENT: Perspektiven der Diabetologie

EASD-Kongress 2020: Das Wichtigste in Kürze

Dtsch Arztebl 2020; 117(44): [18]; DOI: 10.3238/PersDia.2020.10.30.06

Reisdorf, Simone

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Beim ersten vollständig online veranstalteten Jahreskongress wurde eine breite Palette neuer Daten und Erkenntnisse zum Krankheitsmanagement bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes präsentiert. Auch mögliche Stoffwechselinteraktionen mit SARS-CoV-2 wurden thematisiert.

Von der Vision zur Studie: Japanische Forscher berichten über die Messung von Glukose und Glycoalbumin in der Tränenflüssigkeit. Foto: metamorworks stock.adobe.com
Von der Vision zur Studie: Japanische Forscher berichten über die Messung von Glukose und Glycoalbumin in der Tränenflüssigkeit. Foto: metamorworks stock.adobe.com

Das Risiko für Beatmung, Verlegung auf die Intensivstation oder Tod im Verlauf einer COVID-19-Erkrankung ist bei Menschen mit Diabetes mellitus erhöht. Das bestätigen aktuelle Daten, die von Prof. Dr. Juliana Chan, Hongkong, präsentiert wurden: „Selbst nach Adjustierung für andere Risikofaktoren – wie hohes Lebensalter, Herzerkrankung, Niereninsuffizienz, Adipositas und Zustand nach Schlaganfall – war die Wahrscheinlichkeit schwerer COVID-19-bezogener Endpunkte bei Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes um das 2- bis 3-Fache erhöht“, so Chan.

Dabei bezog sie sich auf eine britische Studie, die mit mehr als 61 Millionen beinahe alle Einwohner Großbritanniens erfasst und in der „nur“ bei 0,4 % der Menschen ein Typ-1-Diabetes und bei 4,6 % ein Typ-2-Diabetes gefunden wurde.

Unter den mehr als 24 000 Todesfällen aufgrund von COVID-19 von Anfang März bis Mitte Mai 2020 waren Diabetespatienten dagegen viel häufiger vertreten, als es ihr Anteil an der Allgemeinbevölkerung nahelegen würde. So waren 1,5 % der COVID-19-Todesopfer Menschen mit Typ-1-Diabetes und 31,4 % waren Menschen mit Typ-2-Diabetes. Nach Adjustierung für zahlreiche Risikofaktoren hatten Personen mit Typ-1-Diabetes ein 2,86-faches und Personen mit Typ-2-Diabetes ein 1,8-faches Todesrisiko durch COVID-19-Erkrankung, verglichen mit Nichtdiabetikern.

Das individuelle Risiko ist indes auch von der Qualität der Blutzuckereinstellung abhängig. Chan unterstrich die Bedeutung einer optimalen glykämischen Kontrolle sowohl im Krankenhaus als auch in der ambulanten Betreuung. „Patienten, die ihre Glukose nicht effektiv einstellen können, sind in dieser besonderen Situation [einer COVID-19-Erkankung – Anm. d. Red.] besonders vulnerabel“, warnte sie.

So waren in einer chinesischen Studie mehrere glukosebezogene Marker mit einer signifikanten Steigerung des Risikos für einen kritischen oder tödlichen Verlauf von COVID-19 assoziiert. Dazu gehörten vor allem ein hoher Blutzuckerspiegel bei Einlieferung (≥ 6,1 mmol/l bzw. ≥ 110 mg/dl), eine hohe glykämische Variabilität sowie ein hoher medianer Blutzuckerspiegel während der COVID-19-bedingten Hospitalisierung. „Sogar der Glukosewert bei Klinikentlassung hat noch eine prognostische Bedeutung“, schloss Chan.

Nichtinvasive Glukosemessung in der Tränenflüssigkeit

Statt belastender Bluttests könnte künftig die Untersuchung von Tränenflüssigkeit eingesetzt werden, um den Glukosestoffwechsel zu überwachen, berichtete ein Forscherteam um Dr. Masakazu Aihara aus Tokio beim EASD-Kongress. In der Tränenflüssigkeit wird nicht die Glukose per se gemessen, sondern der Biomarker Glycoalbumin (GA). Ähnlich wie der HbA1c-Wert gibt auch der GA-Wert Aufschluss über die durchschnittliche Stoffwechselkontrolle in der zurückliegenden Zeit – in diesem Falle in den vorangegangenen 2 Wochen.

Eine Studie mit 100 Diabetespatienten zeigte einen signifikanten (p < 0,001) Zusammenhang zwischen deren Blutzuckerwerten und den GA-Werten in der Tränenflüssigkeit. Der Zusammenhang blieb auch dann konsistent, wenn die Werte im Hinblick auf zahlreiche Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Nierenfunktion und Adipositas adjustiert wurden. Die Konzentration der Tränenflüssigkeit spielt für das Ergebnis keine Rolle.

Aihara und Kollegen betonten die starke Korrelation zwischen Blutzucker und Tränen-Glycoalbumin; damit habe die neue Methode das Potenzial für ein nichtinvasives Diabetesmonitoring. Die Wissenschaftler kündigten an: „In Zukunft planen wir, die Messbedingungen zu optimieren und Messgeräte zu entwickeln sowie die Effektivität und den Nutzen der Methoden des Diabetesmonitorings zu überprüfen.“

Körperliche Bewegung reduziert Gesamtsterblichkeit deutlich

Um ein Viertel bis ein Drittel reduziert war die Gesamtsterblichkeit von Typ-2-Diabetespatienten in einer taiwanesischen Studie, wenn diese sportlich aktiv waren. Das zeigten wiederholte persönliche Interviews mit den Teilnehmern, die von 2001 bis 2013 alle 4 Jahre durchgeführt wurden; die Beobachtungszeit reichte von 2000 bis Ende 2016.

Die Analyse auf Basis des National Health Interview Survey und der National-Health-Insurance-Forschungsdatenbank in Taiwan umfasst 4 859 erwachsene Typ-2-Diabetiker, die im Durchschnitt knapp 60 Jahre alt waren. Im Beobachtungszeitraum waren insgesamt 996 bestätigte Todesfälle aufgetreten.

Die Auswertung der (für zahlreiche Confounder adjustierten) Sterberate in Assoziation zur körperlichen Bewegung ist eindeutig; die Daten zeigen einen „dosisabhängigen“ Nutzen der sportlichen Betätigung: Patienten, die bis zu 800 kcal/Woche in Bewegung investierten, hatten eine um 25 % reduzierte Mortalität im Vergleich zu Patienten, die angaben, sich gar nicht oder kaum zu bewegen. Und bei Patienten mit wöchentlich mehr als 800 kcal Energieverbrauch durch Sport war die Gesamtmortalität im Vergleich zu den inaktiven Patienten sogar um 32 % vermindert.

Diabetespatienten haben erhöhtes Sturzrisiko

Eine retrospektive dänische Registerstudie, die mehr als 400 000 Typ-2-Diabetespatienten und beinahe 13 000 (erwachsene) Typ-1-Diabetespatienten einschloss, weist auf ein signifikant erhöhtes Sturzrisiko bei Menschen mit Diabetes hin.

Die kumulative Inzidenz für erste und weitere Stürze mit nachfolgender Krankenhausbehandlung betrug bei den Diabetespatienten 13,3 % (Typ 1) beziehungsweise 11,9 % (Typ 2). Es zeigte sich ein um 19 % erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetespatienten und ein um 33 % erhöhtes Risiko für Typ-1-Diabetespatienten für einen ersten Sturz, verglichen mit alters- und geschlechtsgematchten Kontrollpersonen ohne Diabetes.

Zu den weiteren Risikofaktoren für einen Sturz gehörten bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern weibliches Geschlecht, ein Lebensalter > 65 Jahre, die Einnahme von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI; eine häufig verwendete Antidepressiva-Klasse), die Anwendung von Opioiden sowie Alkoholmissbrauch in der Anamnese.

Auch sturzbedingte Frakturen und deren Lokalisation wurden in der Registerstudie genauer unter die Lupe genommen. Bei Typ-1-Diabetespatienten wurde eine erhöhte Inzidenz von Hüft- und Femurfrakturen beobachtet gegenüber Personen ohne Diabetes. Bei Typ-2-Diabetespatienten waren Hüfte, Oberarm, Unterarm (Speiche) und Schädel beziehungsweise Gesicht gehäuft von Frakturen betroffen.

Rheumapatienten haben häufiger Diabetes – kann man vorbeugen?

Die Wahrscheinlichkeit, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, ist bei Menschen, die bereits an rheumatoider Arthritis (RA) leiden, um 23 % erhöht gegenüber Nichtrheumatikern. Das stellten die Autoren eines systematischen Reviews mit Daten von mehr als 1,6 Millionen Patienten fest.

Die Forscher betonen die Assoziation beider Erkrankungen zu systemischen Entzündungsvorgängen im Körper. Sie empfehlen deshalb, „bei Menschen mit RA ein intensiveres Screening und Management von Diabetesrisikofaktoren in Betracht zu ziehen“.

Finden sich bei RA-Patienten solche Diabetesrisikofaktoren oder Diabetesvorstufen, könnte sich eine strikte antiinflammatorische RA-Therapie besonders lohnen. Denn: „Mittel, die die systemischen Entzündungsmarker senken, könnten eine Rolle bei der Vorbeugung von Typ-2-Diabetes spielen“, so die Studienautoren.

Länger im Glukosezielbereich – weniger mikrovaskuläre Schäden

Eine Subanalyse der Daten aus der RESCUE-Studie, die 515 Typ-1-Diabetespatienten einschloss, untermauert die Bedeutung einer guten Glukoseeinstellung. So war eine günstige Entwicklung des HbA1c-Wertes mit einem verringerten Risiko für Nephropathie und für makrovaskuläre Folgeschäden assoziiert.

Aber nicht nur der HbA1c-Wert allein kann die Qualität der Glukosekontrolle aufzeigen. Die Patienten in dieser Studie – allesamt Nutzer von Insulinpumpen – erfassten ihre Stoffwechsellage mittels kontinuierlichem Glukosemonitoring (CGM) 2 Wochen lang in Echtzeit. Zur Erinnerung: Laut aktuellen Empfehlungen soll die Zeit im therapeutischen Bereich („time in range“, TIR) mit Blutglukosewerten von 3,9–10,0 mmol/l (70–180 mg/dl) ≥ 70 % der gesamten Zeit betragen.

Die Analyse zeigt: Patienten, welche die TIR-Zielvorgabe erfüllten, mussten signifikant seltener wegen einer Hypoglykämie oder wegen Ketoazidose ins Krankenhaus. Auch Retinopathien sowie mikrovaskuläre Komplikationen insgesamt traten bei den Patienten mit adäquater TIR seltener auf. So wurde der kombinierte mikrovaskuläre Endpunkt aus Retinopathie, Nephropathie oder peripherer beziehungsweise autonomer Neuropathie bei 50,0 % der Patienten mit einer TIR < 40 %, aber nur bei 27,3 % der Patienten mit einer TIR ≥ 70 % beobachtet.

Wenig überraschend war, dass ansonsten vor allem das Lebensalter und die Diabetesdauer der Patienten bedeutsam waren für die Inzidenz von Folgeschäden.

Tausende unentdeckte Typ-2- Diabetiker in britischer Biobank

Eine gezielte Suche in der britischen Biobank brachte bei mehreren Tausend Personen einen bislang nicht diagnostizierten Typ-2-Diabetes zutage. Die Biobank schließt insgesamt etwa eine halbe Million Teilnehmer ein, die bei ihrer Rekrutierung 40–70 Jahre alt waren und von denen die Hälfte bereits chronische Krankheiten aufwies.

201 465 Teilnehmer der Biobank mit chronischen Krankheiten, aber (noch) ohne Diabetesdiagnose, deren HbA1c-Wert bei Einschluss in die Biobank gemessen worden war, bildeten die Studienpopulation. Bei 1 % von ihnen – genauer: bei 2 022 Personen – betrug der HbA1c schon zu diesem Zeitpunkt ≥ 6,5 %; ein Wert, der als Hinweis auf einen manifesten Diabetes gelten darf.

Die Teilnehmer waren von vornherein damit einverstanden, dass ihnen oder ihren Ärzten eventuell auffällige Laborbefunde nicht eigens mitgeteilt werden – dies wäre zu aufwendig gewesen. So erfuhren die Betroffenen zunächst nichts von ihrer Zuckerkrankheit. Letztlich dauerte es im Median 2,3 Jahre, bis sie in der täglichen Praxis ihre Diabetesdiagnose erhielten. Bei 23 % waren sogar schon mehr als 5 Jahre vergangen, ohne dass ihr Diabetes inzwischen entdeckt worden wäre.

Die Personen mit bislang unentdecktem Typ-2-Diabetes waren im Durchschnitt älter, häufiger männlich und häufiger adipös als die übrigen Teilnehmer der Biobank. Studienautorin Dr. Katherine Young aus Exeter, Großbritannien, wünschte sich weitere Untersuchungen, um zu evaluieren, inwieweit ein gezieltes Diabetesscreening in der betreffenden Altersgruppe dazu beitragen könnte, Folgeschäden zu vermeiden, zu verzögern oder abzumildern.

DOI: 10.3238/PersDia.2020.10.30.06

Simone Reisdorf

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4420

1.
Chan J, et al.: Overview on COVID-19 in persons with diabetes: What is the evidence? EASD 2020 Virtual Congress, Session Hall#12, 23 September 2020.
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Lai YJ, et al.: Association between exercise capacity and all-cause mortality in people with type 2 diabetes, EASD 2020 Virtual Congress, Eposter#267.
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Rasmussen NH, et al.: Increased risk of falls, fall-related injuries and fractures in people with type 1 and type 2 diabetes compared with the general population: a nationwide cohort study, EASD 2020 Virtual Congress, Eposter#279 CrossRef MEDLINE
5.
Tian Z, et al.: The relation between rheumatoid arthritis and diabetes incidence: a systematic review and meta-analysis, EASD 2020 Virtual Congress, Eposter#271.
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7.
Young KG, et al.: HbA1c screening in 201,465 ‘non-diabetic’ individuals (40–70 years) identifies 1.0 % with undiagnosed diabetes two years before clinical diagnosis, EASD 2020 Virtual Meeting, Eposter#331.
8.
Aihara M, et al.: Development of noninvasive diabetes monitoring method using tear samples, EASD 2020 Virtual Congress, Eposter#644.
1.Chan J, et al.: Overview on COVID-19 in persons with diabetes: What is the evidence? EASD 2020 Virtual Congress, Session Hall#12, 23 September 2020.
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8.Aihara M, et al.: Development of noninvasive diabetes monitoring method using tear samples, EASD 2020 Virtual Congress, Eposter#644.

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