

Die Reserve an freien Intensivbetten schien lange beruhigend. Viele der Betten werden aber nur zu betreiben sein, wenn die Krankenhäuser elektive Leistungen zurückfahren. Doch in der zweiten Welle soll die Behandlung anderer Notfälle eigentlich nicht verschoben werden. Ein Dilemma.
Derzeit werden 2 243 COVID-19-Patienten intensivmedizinisch betreut, 52 Prozent von ihnen werden invasiv beatmet (Stand 2. November). Im Sommer waren es noch 230 bis 250 Patienten. Je mehr Infizierte auf den Intensivstationen behandelt werden, desto schneller sinkt die Zahl der freien Intensivbetten. Aktuell sind 28 814 Intensivbetten im Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldet. 20 921 dieser Betten sind belegt, darunter 13 691 Low-Care- und 7 230 High-Care-Betten (siehe Kasten). Frei sind noch 7 893 Intensivbetten, darunter 1 982 Low-Care- und 5 911 High-Care-Betten.
Gerade im Vergleich zu unseren Nachbarn sind Deutschlands Intensivstationen gut ausgestattet. Wie das Statistische Bundesamt im April mitteilte, kommen in Deutschland 33,9 Intensivbetten auf 100 000 Einwohner. In Spanien sind es hingegen 9,7, in Italien 8,6.
Mehr Patienten als im April
Die täglich anwachsenden Infektionszahlen in der Bevölkerung werden jedoch zwangsläufig dazu führen, dass auch die Zahl der schwerkranken Patienten auf den Intensivstationen wächst. „Wir wissen aus der ersten Welle der Pandemie, dass die steigenden Neuinfektionen in einem Zeitversatz von etwa 14 Tagen auch in den Krankenhäusern ankommen“, sagt der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Dr. rer. pol. Gerald Gaß, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Schon in der ersten Novemberwoche werden wir deshalb die Höchstzahl der Intensivpatienten aus dem April übertreffen. Das können wir nicht mehr verhindern.“
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Zwar melden die Krankenhäuser dem DIVI-Register nur die Intensivbetten, für deren Betreibung auch grundsätzlich Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen. Doch diese Zahl wird sich während der kommenden Wochen und Monate reduzieren. „Viele Intensivpflegekräfte werden in der kalten Jahreszeit nicht zur Arbeit kommen können: entweder weil sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben, weil sie als Verdachtsfall in Quarantäne bleiben müssen oder wegen einer anderen Erkrankung“, sagt Prof. Dr. med. Christian Karagiannidis von der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) dem DÄ.
Um sich ein aktuelles Bild von dem Personalstand auf den Intensivstationen zu machen, hat die DGIIN ihre Mitglieder dazu befragt. 1 098 Mitglieder haben sich an der Umfrage beteiligt, darunter 72 Prozent Intensivpflegekräfte und 25 Prozent Ärzte. Das Ergebnis: 97 Prozent glauben nicht, dass ausreichend Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen, um die im DIVI-Register gemeldeten Intensivbetten in der zweiten Welle einsetzen zu können. Ein Grund dafür ist die Kinderbetreuung. Der Umfrage zufolge haben 36 Prozent der Befragten Kinder im Vorschulalter oder in der Schule. 71 Prozent davon müssen ihr Kind aus der Kita oder der Schule nehmen, wenn es Husten oder Schnupfen hat. Nur 26 Prozent können in der Regel jedoch an diesen Tagen eine alternative Kinderbetreuung organisieren. Im Endergebnis befürchten 33 Prozent der Befragten, dass sie infolge der aktuellen Coronaregelungen mehr der Arbeit fernbleiben müssten als vor der Pandemie.
„Ein düsteres Bild“
„Die Umfrage zeigt ein eher düsteres Bild der kommenden Monate“, schreiben die Initiatoren der Umfrage, zu denen auch Karagiannidis gehört. Der Betreuungsschlüssel auf den Intensivstationen liegt derzeit in der Tagschicht bei 1:2,7 und damit unter dem Schlüssel von 1:2, den die DGIIN empfiehlt – „obwohl bisher noch keine COVID-19-bedingte Überlastung in der Intensivmedizin stattgefunden hat“. Dies sei insbesondere in Anbetracht der Schwere der COVID-19-Erkrankung und dem damit verbundenen hohen pflegerischen Versorgungsaufwand kein guter Ausgangswert.
„COVID-19-Patienten sind sehr aufwendig in der intensivpflegerischen Betreuung“, betonte auch Dr. med. Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivstation des Universitätsklinikums Köln, auf einem Press Briefing des Science Media Center (SMC) Ende Oktober. „Eine Intensivpflegekraft kann zwei bis drei Herzinfarktpatienten gut betreuen. Aber bei COVID-19-Patienten ist fast eine 1:1-Betreuung notwendig.“ Dabei könnten 30 bis 40 Prozent der Tätigkeiten auf einer Intensivstation von Pflegekräften übernommen werden, die für diese Arbeit angelernt wurden. Der Rest seien hochspezialisierte Aufgaben, die nur eine ausgebildete Intensivpflegefachkraft durchführen könne.
Seit dem Frühjahr haben die Krankenhäuser zahlreiche Intensivbetten aufgebaut, die jedoch infolge des Intensivpflegemangels nicht betrieben werden können. Karagiannidis nennt sie die „stille Reserve“. Dem DIVI-Intensivregister zufolge handelt es sich dabei zurzeit um 12 858 Betten. „Diese Betten sind der wahre Joker in der zweiten Welle“, sagt Karagiannidis. „Eine solche Reserve ist einmalig in Europa. Allerdings können diese Betten nur betrieben werden, wenn die Krankenhäuser wieder ihre elektiven Leistungen zurückfahren und dadurch Personal frei wird.“
Eine der Lehren aus der ersten Pandemiewelle sollte sein, die Behandlung anderer Notfallpatienten nicht zu verschieben. „Wir wollen die elektive Behandlung der Nicht-COVID-19-Patienten nicht zurückstellen“, betonte auch Prof. Dr. med. Uta Merle, kommissarische ärztliche Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektionen und Vergiftungen am Universitätsklinikum Heidelberg, auf dem Briefing des SMC. Denn elektiv bedeute zwar, dass eine Behandlung geplant werden könne, aber nicht, dass sie sich aufschieben lasse, vor allem nicht in den Bereichen Herzinfarkt, Schlaganfall und Onkologie. „Wir werden aber zunehmend in die Situation hineingezogen, dass wir elektive Eingriffe hintenanstellen müssen“, so Merle. „Doch man kann nicht alles verschieben. Man schiebt dann eine Welle vor sich her. Und der Winter könnte lang werden.“ Vor diesem Hintergrund lobte Kochanek den ab dem 2. November geltenden Teil-Lockdown. „Die politischen Entscheidungen dazu kann ich nur maximal unterstützen“, sagte er.
Auch der Präsident der DIVI, Prof. Dr. med. Uwe Janssens, lobte die Entschlüsse der Regierung Ende Oktober als „folgerichtig“. Zugleich forderte er Entlastungen der Krankenhäuser durch die Politik. Es sei notwendig, die Pflegepersonaluntergrenzen sowie verschiebbare Eingriffe und Behandlungen auszusetzen und finanzielle Kompensationen für Krankenhäuser bereitzustellen –, wie es in der ersten Pandemiewelle geschehen war.
Derzeit (Stand: 2. November) plant das Bundesgesundheitsministerium (BMG) jedoch keine neuen Rahmenbedingungen für die zweite Welle. Weder sei ein Aussetzen der Pflegepersonaluntergrenzen geplant noch eine erneute Finanzierung der Krankenhäuser durch Freihaltepauschalen, wie das BMG dem DÄ erklärte. Das Ministerium verweist darauf, dass die Krankenhäuser coronabedingte Erlösrückgänge von den Krankenkassen zurückfordern könnten. „Wichtig ist, dass die Freihaltung von Kapazitäten für potenzielle COVID-19-Patienten nicht zu einer Unterversorgung anderer Patienten führt“, betont das BMG. Wie viele Kapazitäten freigehalten werden, müssten die Ärzte vor Ort entscheiden. Eine Entscheidungshilfe, die sich an den regionalen Infektionszahlen orientiert, hat ein Forscherteam aus Baden-Württemberg erarbeitet (siehe folgenden Artikel). Falk Osterloh
DIVI-Intensivregister
Seit April sind die etwa 1 300 deutschen Krankenhäuser mit Intensivstationen dazu verpflichtet, ihre freien und betreibbaren Intensivbetten täglich an das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu melden. Als betreibbar gilt dabei ein Intensivbett, „wenn entsprechend der Versorgungsstufe jeweils ein vorgesehener Raum, funktionsfähige Geräte und Material pro Bettenplatz, Betten und personelle Besetzung mit pflegerischem und ärztlichem Fachpersonal vorhanden sind und eingesetzt werden können“.
Erfasst werden Low-Care- und High-Care-Betten sowie Behandlungsplätze zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO). Low-Care-Betten verfügen über ein Basismonitoring mit High-Flow-Sauerstoff-Therapie. Eine nichtinvasive Beatmung und/oder die Behandlung tracheotomierter Patienten im Weaning sind möglich, eine invasive Beatmung jedoch nicht. Bei High-Care-Behandlungsplätzen muss eine differenzierte Katecholamintherapie und eine kontrollierte invasive Beatmung mittels Intensivbeatmungsgeräten rund um die Uhr möglich sein. Nur an einem High-Care-Behandlungsplatz kann ein ECMO-Gerät zum Einsatz kommen.
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Sonntag, 8. November 2020, 11:24
Unwahre Behauptungen
Mit freundlichen Grüßen
am Freitag, 6. November 2020, 10:20
Verknappung?