ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2020Intensivbetten: Die Kapazitäten schwinden

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Intensivbetten: Die Kapazitäten schwinden

Osterloh, Falk

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Die Reserve an freien Intensivbetten schien lange beruhigend. Viele der Betten werden aber nur zu betreiben sein, wenn die Krankenhäuser elektive Leistungen zurückfahren. Doch in der zweiten Welle soll die Behandlung anderer Notfälle eigentlich nicht verschoben werden. Ein Dilemma.

Foto: picture alliance/dpa/LaPresse/AP/Cecilia Fabiano
Foto: picture alliance/dpa/LaPresse/AP/Cecilia Fabiano

Derzeit werden 2 243 COVID-19-Patienten intensivmedizinisch betreut, 52 Prozent von ihnen werden invasiv beatmet (Stand 2. November). Im Sommer waren es noch 230 bis 250 Patienten. Je mehr Infizierte auf den Intensivstationen behandelt werden, desto schneller sinkt die Zahl der freien Intensivbetten. Aktuell sind 28 814 Intensivbetten im Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldet. 20 921 dieser Betten sind belegt, darunter 13 691 Low-Care- und 7 230 High-Care-Betten (siehe Kasten). Frei sind noch 7 893 Intensivbetten, darunter 1 982 Low-Care- und 5 911 High-Care-Betten.

Gerade im Vergleich zu unseren Nachbarn sind Deutschlands Intensivstationen gut ausgestattet. Wie das Statistische Bundesamt im April mitteilte, kommen in Deutschland 33,9 Intensivbetten auf 100 000 Einwohner. In Spanien sind es hingegen 9,7, in Italien 8,6.

Mehr Patienten als im April

Die täglich anwachsenden Infektionszahlen in der Bevölkerung werden jedoch zwangsläufig dazu führen, dass auch die Zahl der schwerkranken Patienten auf den Intensivstationen wächst. „Wir wissen aus der ersten Welle der Pandemie, dass die steigenden Neuinfektionen in einem Zeitversatz von etwa 14 Tagen auch in den Krankenhäusern ankommen“, sagt der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Dr. rer. pol. Gerald Gaß, dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Schon in der ersten Novemberwoche werden wir deshalb die Höchstzahl der Intensivpatienten aus dem April übertreffen. Das können wir nicht mehr verhindern.“

Hinzu kommt ein weiteres Problem. Zwar melden die Krankenhäuser dem DIVI-Register nur die Intensivbetten, für deren Betreibung auch grundsätzlich Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen. Doch diese Zahl wird sich während der kommenden Wochen und Monate reduzieren. „Viele Intensivpflegekräfte werden in der kalten Jahreszeit nicht zur Arbeit kommen können: entweder weil sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben, weil sie als Verdachtsfall in Quarantäne bleiben müssen oder wegen einer anderen Erkrankung“, sagt Prof. Dr. med. Christian Karagiannidis von der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) dem .

Um sich ein aktuelles Bild von dem Personalstand auf den Intensivstationen zu machen, hat die DGIIN ihre Mitglieder dazu befragt. 1 098 Mitglieder haben sich an der Umfrage beteiligt, darunter 72 Prozent Intensivpflegekräfte und 25 Prozent Ärzte. Das Ergebnis: 97 Prozent glauben nicht, dass ausreichend Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen, um die im DIVI-Register gemeldeten Intensivbetten in der zweiten Welle einsetzen zu können. Ein Grund dafür ist die Kinderbetreuung. Der Umfrage zufolge haben 36 Prozent der Befragten Kinder im Vorschulalter oder in der Schule. 71 Prozent davon müssen ihr Kind aus der Kita oder der Schule nehmen, wenn es Husten oder Schnupfen hat. Nur 26 Prozent können in der Regel jedoch an diesen Tagen eine alternative Kinderbetreuung organisieren. Im Endergebnis befürchten 33 Prozent der Befragten, dass sie infolge der aktuellen Coronaregelungen mehr der Arbeit fernbleiben müssten als vor der Pandemie.

„Ein düsteres Bild“

„Die Umfrage zeigt ein eher düsteres Bild der kommenden Monate“, schreiben die Initiatoren der Umfrage, zu denen auch Karagiannidis gehört. Der Betreuungsschlüssel auf den Intensivstationen liegt derzeit in der Tagschicht bei 1:2,7 und damit unter dem Schlüssel von 1:2, den die DGIIN empfiehlt – „obwohl bisher noch keine COVID-19-bedingte Überlastung in der Intensivmedizin stattgefunden hat“. Dies sei insbesondere in Anbetracht der Schwere der COVID-19-Erkrankung und dem damit verbundenen hohen pflegerischen Versorgungsaufwand kein guter Ausgangswert.

„COVID-19-Patienten sind sehr aufwendig in der intensivpflegerischen Betreuung“, betonte auch Dr. med. Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivstation des Universitätsklinikums Köln, auf einem Press Briefing des Science Media Center (SMC) Ende Oktober. „Eine Intensivpflegekraft kann zwei bis drei Herzinfarktpatienten gut betreuen. Aber bei COVID-19-Patienten ist fast eine 1:1-Betreuung notwendig.“ Dabei könnten 30 bis 40 Prozent der Tätigkeiten auf einer Intensivstation von Pflegekräften übernommen werden, die für diese Arbeit angelernt wurden. Der Rest seien hochspezialisierte Aufgaben, die nur eine ausgebildete Intensivpflegefachkraft durchführen könne.

Seit dem Frühjahr haben die Krankenhäuser zahlreiche Intensivbetten aufgebaut, die jedoch infolge des Intensivpflegemangels nicht betrieben werden können. Karagiannidis nennt sie die „stille Reserve“. Dem DIVI-Intensivregister zufolge handelt es sich dabei zurzeit um 12 858 Betten. „Diese Betten sind der wahre Joker in der zweiten Welle“, sagt Karagiannidis. „Eine solche Reserve ist einmalig in Europa. Allerdings können diese Betten nur betrieben werden, wenn die Krankenhäuser wieder ihre elektiven Leistungen zurückfahren und dadurch Personal frei wird.“

Eine der Lehren aus der ersten Pandemiewelle sollte sein, die Behandlung anderer Notfallpatienten nicht zu verschieben. „Wir wollen die elektive Behandlung der Nicht-COVID-19-Patienten nicht zurückstellen“, betonte auch Prof. Dr. med. Uta Merle, kommissarische ärztliche Direktorin der Klinik für Gastroenterologie, Infektionen und Vergiftungen am Universitätsklinikum Heidelberg, auf dem Briefing des SMC. Denn elektiv bedeute zwar, dass eine Behandlung geplant werden könne, aber nicht, dass sie sich aufschieben lasse, vor allem nicht in den Bereichen Herzinfarkt, Schlaganfall und Onkologie. „Wir werden aber zunehmend in die Situation hineingezogen, dass wir elektive Eingriffe hintenanstellen müssen“, so Merle. „Doch man kann nicht alles verschieben. Man schiebt dann eine Welle vor sich her. Und der Winter könnte lang werden.“ Vor diesem Hintergrund lobte Kochanek den ab dem 2. November geltenden Teil-Lockdown. „Die politischen Entscheidungen dazu kann ich nur maximal unterstützen“, sagte er.

Auch der Präsident der DIVI, Prof. Dr. med. Uwe Janssens, lobte die Entschlüsse der Regierung Ende Oktober als „folgerichtig“. Zugleich forderte er Entlastungen der Krankenhäuser durch die Politik. Es sei notwendig, die Pflegepersonaluntergrenzen sowie verschiebbare Eingriffe und Behandlungen auszusetzen und finanzielle Kompensationen für Krankenhäuser bereitzustellen –, wie es in der ersten Pandemiewelle geschehen war.

Derzeit (Stand: 2. November) plant das Bundesgesundheitsministerium (BMG) jedoch keine neuen Rahmenbedingungen für die zweite Welle. Weder sei ein Aussetzen der Pflegepersonaluntergrenzen geplant noch eine erneute Finanzierung der Krankenhäuser durch Freihaltepauschalen, wie das BMG dem erklärte. Das Ministerium verweist darauf, dass die Krankenhäuser coronabedingte Erlösrückgänge von den Krankenkassen zurückfordern könnten. „Wichtig ist, dass die Freihaltung von Kapazitäten für potenzielle COVID-19-Patienten nicht zu einer Unterversorgung anderer Patienten führt“, betont das BMG. Wie viele Kapazitäten freigehalten werden, müssten die Ärzte vor Ort entscheiden. Eine Entscheidungshilfe, die sich an den regionalen Infektionszahlen orientiert, hat ein Forscherteam aus Baden-Württemberg erarbeitet (siehe folgenden Artikel). Falk Osterloh

DIVI-Intensivregister

Seit April sind die etwa 1 300 deutschen Krankenhäuser mit Intensivstationen dazu verpflichtet, ihre freien und betreibbaren Intensivbetten täglich an das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu melden. Als betreibbar gilt dabei ein Intensivbett, „wenn entsprechend der Versorgungsstufe jeweils ein vorgesehener Raum, funktionsfähige Geräte und Material pro Bettenplatz, Betten und personelle Besetzung mit pflegerischem und ärztlichem Fachpersonal vorhanden sind und eingesetzt werden können“.

Erfasst werden Low-Care- und High-Care-Betten sowie Behandlungsplätze zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO). Low-Care-Betten verfügen über ein Basismonitoring mit High-Flow-Sauerstoff-Therapie. Eine nichtinvasive Beatmung und/oder die Behandlung tracheotomierter Patienten im Weaning sind möglich, eine invasive Beatmung jedoch nicht. Bei High-Care-Behandlungsplätzen muss eine differenzierte Katecholamintherapie und eine kontrollierte invasive Beatmung mittels Intensivbeatmungsgeräten rund um die Uhr möglich sein. Nur an einem High-Care-Behandlungsplatz kann ein ECMO-Gerät zum Einsatz kommen.

Kommentare

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Avatar #848176
Hinnerker
am Sonntag, 8. November 2020, 11:24

Unwahre Behauptungen

Wenn in dem Artikel von rund 28.000 Intensivbetten die Rede ist, so stimmt dies nicht bzw. unterschlägt so einige Fakten. Es hat sich lediglich die Anzahl der gemeldeten Betten am Tag aus den Bundesländern gegenüber den Höchstständen verändert. In der Spitze wurden während der "Laufzeit" der Pandemie rund 33.500 Betten als verfügbar gemeldet. Seit einigen Wochen sinkt die Zahl der gemeldeten Betten auf 28.000 Bettten. Dies ist eine Abnahme der offen sichtbaren Betten aus den Meldungen von über 5.000 Betten bei einer gleichzeitig seit dem 4. August im DIVI register gemeldeten Notfalllreserve von etwas über 12.000 Betten. Davon wurden bereits im August erstmals sichtbar diese Zahl genannt, nachdem ARD die Frage stellte, wo denn die zusätzlichen Betten, die aus den hunderten von Millionen Euro Steuergeld abgeblieben sind. Nun heißt es, das Personal sei nicht vorhanden. Was soll diese Panik oder Zahlenmanipulation? Von der Ärztekammer wäre eine echte Recherche-Arbeit zu erwarten, die die realen Geschehnisse abbildet und erläutert. Auf Wunsch kann ich gern die Statistiken seit APRIL bereitstellen, die diese Zahlen eindeutig belegen. Es wurden in der Spitze - wie bereits ausgeführt - rund 33.500 Betten betrieben/vorgehalten. Hinzu kommt die 7 Tage - Notfallreserve aus von über 12.000 Betten. Addieren wir diese Zahlen mal, so sind etwa 5.000 Betten + 12.000 Betten aus der 7 Tage Reserve und die durchschnittlich 8.000 noch freien Betten zusammen also noch 25.000 freie Betten. Also keinerlei Grund, hier irgendeine Panik zu verbreiten, weshalb man ja nun auf die Personadecke abstellt, was aber seit Jahren bekannt ist. Zudem kommt es in jeder "Wintersaison" wegen Influenza zu erheblichen Engpässen in der Intensivbelegung... nur dann fragt man sich auch, weshalb hier 7305 neue Intensivbetten aus Steuermitteln angeschafft werden, wenn das Personal dafür ja angeblich nicht vorhanden ist. Sorry, aber vom Ärzteblatt als Medium der Ärzteschaft hätte ich nun deutlich mehr ernsthafe Recherche erwartet.

Mit freundlichen Grüßen
Avatar #768286
Nofri
am Freitag, 6. November 2020, 10:20

Verknappung?

So lange wir auch Sars2 Patienten aus Belgien und Holland aufnehmen können und es aktuell auch tun, sollten wir diese aus dieser Panik- Rechnung raus nehmen. Denn wie wäre die Lage ohne diese Patienten? Es ist nicht legitim zu behaupten, dass die Anzahl der Intensivbetten schwindet-, dann Schlimmes befürchtet, aber gleichzeitig Patienten aufnimmt aus anderen Ländern, die zu diesem Schwinden von Kapazitäten führen - und nicht etwa die aus der eigenen Bevölkerung- da heir die Zahl der Hospitalisierungen genau so hoch ist wie zu einer Influenza, die einen schweren Verlauf nimmt (und das gabs schon immer). So könnte auch der Eindruck einer weiteren Kapazitäts-Panik entstehen - von vollen Intensivbetten, obwohl (extrem betrachtet) da gar kein einziger neuer Fall aus Deutschland wäre! Insofern erwarte ich eine ehrliche Statistik, die genau darüber Auskunft gibt wer das da ist, der in der Intensivbehandlung liegt! Denn einen Lockdown in Deutschland zu betreiben (der nur auf angeblicher überlastung des Gesundheitswesens hinsichtlich der Intensivbetten geschieht - was schon im Frühjar nicht geschah), weil Belgier oder Holländer bei uns totsterbenskrank eingeliefert werden, wäre etwas merkwürdig. D.h. nicht das wir nicht helfen sollen, aber wahrheitshalber muss dies differenziert betrachtet werden. Nicht desto trotz ist es problematisch betrachtet man die Fälle, die jetzt nicht operiert werden oder adequat behandelt, weil man Betten füretwas frei hält, was in Deutschland gar nicht notwendig sein würde. Die Infizierten sagen nichts über deren Schwere aus...!

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