ArchivDeutsches Ärzteblatt48/2020Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie
Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Kinder und Jugendliche sind entwicklungsbedingt vulnerabel, weshalb die COVID-19-bedingten Kontaktbeschränkungen für sie besonders belastend sein können (1, 2). Vor diesem Hintergrund wurde die bundesweite COPSY-Studie (Corona und Psyche) zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie initiiert, in der Kinder und Jugendliche selbst – zusätzlich zu ihren Eltern – befragt wurden. Ziel war die Erfassung der Auswirkungen der Krise auf die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen.

Methoden

Insgesamt haben n = 1 040 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren per Selbsteinschätzung und deren n = 1 040 Eltern(teile) per Fremdeinschätzung sowie weitere n = 546 Eltern in Fremdeinschätzung für ihre 7- bis 10-jährigen Kinder vom 26. 5. 2020 bis 10. 6. 2020 an der Online-Studie teilgenommen (Teilnahmequote: 46 %). Die Quotenstichprobe und die Studienteilnehmer entsprechen in den wesentlichen Merkmalen der Struktur der entsprechenden Grundgesamtheit laut aktuellem Mikrozensus (2018). Gemäß Empfehlungen des International Consortium for Health Outcomes Measurement (ICHOM) wurden international validierte Fragebögen zur Erhebung psychosomatischer Beschwerden, gesundheitsbezogener Lebensqualität (KIDSCREEN-10-Index), psychischer Auffälligkeiten (Strengths and Difficulties Questionnaire [SDQ]), generalisierter Ängstlichkeit (Screen for Child Anxiety Related Disorders [SCARED]) und depressiver Symptome (Center for Epidemiological Studies-Depression [CES-D]) erhoben. Die Datenanalyse erfolgte mit deskriptiven Statistiken, bivariaten und multivariaten Regressionsanalysen. Die Ergebnisse werden mit Resultaten repräsentativer longitudinaler bundesweiter Studien vor der Pandemie verglichen (3, 4).

Ergebnisse

Der Altersdurchschnitt der Kinder- und Jugendstichprobe (n = 1 040) betrug 14,3 Jahre (51,1 % Mädchen, 15,5 % mit Migrationshintergrund), der der Elterngruppe betrug 43,9 Jahre (Altersmittel ihrer Kinder: 12,2 Jahre, 50 % Mütter, 55,7 % mit mittlerem Bildungsgrad). 71 % 95-%-Konfidenzintervall: [68 ; 74] der Kinder und Jugendlichen fühlten sich durch die Kontaktbeschränkungen während der Pandemie belastet. 65 % [62; 68] erlebten Schule und Lernen als anstrengender als zuvor. 27 % [24; 30] berichteten, sich häufiger zu streiten. 37 % [35; 39] der Eltern gaben an, dass Streits mit ihren Kindern öfter eskalierten. Bei 39 % [36; 42] der Kinder und Jugendlichen verschlechterte sich das Verhältnis zu den Freunden durch die eingeschränkten persönlichen Kontakte, was fast alle Befragten belastete. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit geminderter gesundheitsbezogener Lebensqualität war während der Pandemie deutlich erhöht (40 % [37; 43] versus 15 % [13; 17]) (Grafik 1).

Selbstberichtete Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
Grafik 1
Selbstberichtete Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie

Es traten vermehrt psychosomatische Beschwerden auf im Vergleich zu vor der COVID-19-Krise: Gereiztheit (54 % [51; 57] versus 40 % [38; 41]), Einschlafprobleme (44 % [41; 47] versus 39 % [38; 41]), Kopfschmerzen (40 % [37; 43] versus 28 % [27; 30]), Niedergeschlagenheit (34 % [31; 37] versus 23 % [22; 24]) und Bauchschmerzen (31 % [28; 34] versus 21 % [20; 23]) (Grafik 2). Das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg von rund 18 % [16; 20] auf 30 % [28; 32] während der Pandemie (SDQ, Proxy Report; Cohens f² = 0,04). Es ergab sich jedoch kein deutlicher Unterschied (p > 0,05) in der Häufigkeit selbstberichteter depressiver Symptome (CES-D) im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie. Für generalisierte Ängstlichkeit (SCARED) lagen etwas ausgeprägtere Symptome während der Pandemie vor (24 % [21; 27] versus 15 % [13; 17] vor der Krise), jedoch nur mit zu vernachlässigender Effektstärke (Cohens f² = 0,01).

Psychosomatische Beschwerden von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
Grafik 2
Psychosomatische Beschwerden von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie

Risiken und Ressourcen für die psychische Gesundheit und Lebensqualität

Wir vermuteten, dass Kinder und Jugendliche, in deren Elternhaus ein schlechtes Familienklima herrscht und bei denen gleichzeitig entweder ihre Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund haben oder wenn sie auf beengtem Raum leben (< 20 qm Wohnfläche/Person), die Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie als besonders belastend erleben könnten. Bei dieser Gruppe (n = 126) konnten eine deutlich stärkere Belastung durch die Pandemie (43 % [53; 32] versus 27 % [29; 24], p = 0,005), häufigere psychosomatische Beschwerden (d-Effektstärke [d-ES] = 0,67; p < 0,001), eine deutlich geminderte Lebensqualität (d-ES = 0,67; p < 0,001) sowie ausgeprägtere Symptome von Angst (d-ES = 0,37; p < 0,001) und Depression (d-ES = 0,64; p < 0,001) nachgewiesen werden. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse eines multivariaten linearen Regressionsmodells (n = 1 016; F(8,1.007) = 122,36; p < 0,001; korrigiertes R² = 0,49), dass Ressourcen die gesundheitsbezogene Lebensqualität stärken können. So hatten Kinder und Jugendliche, die optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft schauten (persönliche Ressource; Regressionsgewicht [B] = 7,58; [6,82; 8,33]; p < 0,001; Cohens f² = 0,39) sowie jene, die viel gemeinsame Zeit mit ihren Eltern verbrachten (familiäre Ressource; B = 1,46 [0,91; 2,02]; p < 0,001; Cohens f² = 0,14) jeweils eine höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität.

Diskussion

Die COPSY-Studie zeigt, dass die Herausforderungen der Pandemie Lebensqualität und psychisches Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verringern sowie das Risiko für psychische Auffälligkeiten erhöhen. Die Befunde ähneln Studien aus China (2), Indien, Italien, den USA und Deutschland (5), die während der Pandemie auch mehr depressive, Angst- und Stressreaktionen fanden, wobei die Datenlage unzureichend ist. Zudem ist zu beachten, dass selbstberichtete Symptome noch keine Erkrankung darstellen, sondern als positives Screening mit weiterem Abklärungsbedarf zu verstehen sind. Betroffen scheinen vor allem sozial benachteiligte Kinder zu sein. Zum Schutz und Erhalt der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während Krisensituationen werden zielgruppenspezifische und niedrigschwellige Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung benötigt.

* Die Autorinnen teilen sich die Erstautorenschaft

Ulrike Ravens-Sieberer*, Anne Kaman*, Christiane Otto, Adekunle Adedeji, Janine Devine, Michael Erhart, Ann-Kathrin Napp, Marcia Becker, Ulrike Blanck-Stellmacher, Constanze Löffler, Robert Schlack, Klaus Hurrelmann

Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (Ravens-Sieberer, Kaman, Otto, Adedeji, Devine, Erhart, Napp, Becker, Blanck-Stellmacher) ravens-sieberer@uke.de; Alice Salomon Hochschule, Berlin (Erhart); Apollon Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen (Erhart); Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (Löffler); Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Fachgebiet Psychische Gesundheit, Robert Koch-Institut, Berlin (Schlack); Hertie School of Governance, Berlin (Hurrelmann)

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 18. 8. 2020, revidierte Fassung angenommen: 15. 10. 2020

Zitierweise
Ravens-Sieberer U, Kaman A, Otto C, Adedeji A, Devine J, Erhart M, Napp AK, Becker M, Blanck-Stellmacher U, Löffler C, Schlack R, Hurrelmann K: Mental health and quality of life in children and adolescents during the COVID-19 pandemic—results of the COPSY study.

Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 828–9. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0828

Dieser Beitrag erschien online am 5. 11. 2020 (online first) auf www.aerzteblatt.de.

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Fegert JM, Vitiello B, Plener PL, Clemens V: Challenges and burden of the coronavirus 2019 (COVID-19) pandemic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality. Child Adolesc Psychiatr Ment Health 2020; 14: 20 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.
Xie X, Xue Q, Zhou Y, et al.: Mental health status among children in home confinement during the coronavirus disease 2019 outbreak in Hubei Province, China. JAMA Pediatr 2020; e201619. doi: 10.1001/jamapediatrics.2020.1619. Online ahead of print CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.
Ravens-Sieberer U, Otto C, Kriston L, et al.: The longitudinal BELLA study: design, methods and first results on the course of mental health problems. Eur Child Adolesc Psychiatr 2015; 24: 651–63 CrossRef MEDLINE
4.
Inchley J, Currie D, Budisavljevic S, et al.: Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey in Europe and Canada. International report. Volume 1. Key findings. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2020. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO. www.hbsc.org/publications/international/ (last accessed on 18 August 2020).
5.
Langmeyer A, Guglhör-Rudan A, Naab T, et al.: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. In. München: Deutsches Jugendinstitut; 2020.
Selbstberichtete Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
Grafik 1
Selbstberichtete Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
Psychosomatische Beschwerden von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
Grafik 2
Psychosomatische Beschwerden von Kindern und Jugendlichen vor und während der COVID-19-Pandemie
1.Fegert JM, Vitiello B, Plener PL, Clemens V: Challenges and burden of the coronavirus 2019 (COVID-19) pandemic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality. Child Adolesc Psychiatr Ment Health 2020; 14: 20 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.Xie X, Xue Q, Zhou Y, et al.: Mental health status among children in home confinement during the coronavirus disease 2019 outbreak in Hubei Province, China. JAMA Pediatr 2020; e201619. doi: 10.1001/jamapediatrics.2020.1619. Online ahead of print CrossRef MEDLINE PubMed Central
3.Ravens-Sieberer U, Otto C, Kriston L, et al.: The longitudinal BELLA study: design, methods and first results on the course of mental health problems. Eur Child Adolesc Psychiatr 2015; 24: 651–63 CrossRef MEDLINE
4.Inchley J, Currie D, Budisavljevic S, et al.: Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey in Europe and Canada. International report. Volume 1. Key findings. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2020. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO. www.hbsc.org/publications/international/ (last accessed on 18 August 2020).
5.Langmeyer A, Guglhör-Rudan A, Naab T, et al.: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. In. München: Deutsches Jugendinstitut; 2020.

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.
Themen:

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote