THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Prof. Dr. med. Hartmut Berger, Psychiater, Psychotherapeut und Sachverständiger: „Was immer noch bleibt, ist Containment“


Egal, ob selbst gewählt oder zwangsweise, Menschen, die lange in gewalttätigen und sozial abgeschotteten Organisationen oder Institutionen gelebt haben, tragen psychische Wunden davon. Erfahrungen in IS-Terrorcamps, Konzentrationslagern oder Inhaftierungslagern – niemand übersteht das unbeschadet.
Wenn Menschen aus rigiden Organisationsstrukturen wie Terrorsystemen wieder herauskommen, welche Erfahrungen bringen diese Menschen mit in das soziale und gesellschaftliche Leben?
Hartmut Berger: Im Zentrum steht fast immer das extreme Zugehörigkeitsgefühl, das diese Personen erlebt haben. Das Bedürfnis danach war ja meistens auch der Grund, warum sie sich in solche Strukturen begeben haben – ich rede jetzt mal nur von denen, die freiwillig eingetreten sind. Autoritäre Organisationen scheinen für solche Menschen zwei Vorteile zu haben: Sie selbst gehören dann zu einer übergeordneten Organisation, der sie einen hohen Wert geben. Denkt man beispielsweise an den IS, dann ist der ja durchaus auch von Staaten unterstützt worden, sodass er sehr mächtig und bedeutend wirkte.
Der zweite, eher unbewusste Vorteil ist, dass diese Menschen die eigene Verantwortung abgeben konnten. Die Submission unter so ein rigide reguliertes System hat für sie eine deutlich entlastende Funktion. Diese Menschen tun sich schwer, die individuelle Verantwortung für ihr Leben selbst zu tragen. Bei so klaren ideologischen Vorgaben gibt man die dann ab.
Das heißt, und das muss man sehen, dass sich diese Personen sogar psychisch befreit gefühlt haben. Gleichzeitig gab es „als Belohnung“ noch, dass man Teil einer so mächtigen Organisation war.
Entsteht da dann die Haltung „ich gegen den Rest der Welt“?
Berger: Nein, „wir gegen den Rest der Welt“. Der Vorteil besteht darin, das eigene Ich aufgeben zu können und es in einen höheren Kontext zu heben. Daraus resultiert dann eben auch, dass es die höchste Ehre ist, als Märtyrer zu sterben.
Nun sind die Mitglieder solcher Gruppen nicht ohne Konflikte untereinander – wie stabilisieren sich diese Gruppen intern?
Berger: Spricht man mit Rückkehrern, die hier inhaftiert worden sind, dann hört man, dass Konflikte eben auch strikt hierarchisch-strafend gelöst werden. Ein Gruppenführer trifft eine Anordnung, der gefolgt werden muss. Falls jemand nicht folgt, gibt es eine Bestrafung, und zwar bis hin zum Erschießen. Diese Art der Konfliktlösung ist es bei vielen auch, die sie schließlich wieder flüchten lässt aus diesen Organisationen. Sie haben ja hierzulande in den muslimischen Organisationen ein offenes Diskutieren erlebt und schätzen das durchaus. Damit ist es beim IS aber vorbei. Übrigens ist das bei al-Shabaab und al-Nusra nicht anders.
Wer dort hinkommt, wird erst einmal kaserniert, der Pass wird ihm abgenommen und anschließend wird er eine Zeit lang beobachtet. Die ideologische Ausbildung kommt erst dann, wenn die örtlichen Milizen den Eindruck haben, dass diese Personen auch genügend gefestigt sind im Sinne der Folgsamkeit. Dieses Vorgehen haben viele schon als ersten Bruch erlebt.
Der IS war in vielem allerdings weniger wählerisch, denn die Organisation scheint die Haltung zu vertreten, dass es für sie auf jeden Fall gut ist, wenn sie aus dem Ausland verstärkt wird. Die Freiwilligen können Zuarbeiten übernehmen und dadurch die Kämpfenden unterstützen. Sie wurden dafür sogar relativ gut bezahlt. Der Zulauf allein galt schon als ein internationaler Erfolg für die Organisation.
Auch in solchen Organisationen existieren immer Fraktionen, die unterschiedliche Richtungen vertreten. Lässt sich das anschließend therapeutisch nutzen?
Berger: Ja, wir in Europa simplifizieren diese Strukturen immer. In der Tat lässt sich das nutzen. Mir erzählte ein Rückkehrer, dass in seinem Ort in Syrien drei unterschiedliche Milizen rivalisierten. Da können sich innerhalb weniger Tage völlig unterschiedliche Frontlagen entwickeln. Individuell ist das natürlich extrem belastend, weil man nie richtig weiß, wo der Feind steht.
Es ist eine Basiserfahrung dieser Menschen, dass es auch in einer so rigiden Organisation schon wieder nicht nur eine Meinung gibt. Wenn man therapeutisch an diesen Punkt kommt, kann man gut damit arbeiten, dann ist man eben doch wieder bei bestimmten „westlichen“ Werten. Die Menschen haben plötzlich begriffen, dass diese Ideologien eben nicht frei machen. Rückkehrer haben zum Beispiel auch massiv Korruption in den eigenen Reihen erlebt. Ich habe einen jungen Mann begutachtet, der sehr gut mit dem Autohandel auf türkischer Seite im Geschäft war und die dicksten SUVs an die IS-Obersten in Syrien verkaufte, die nämlich wie die Made im Speck lebten.
Diese Widersprüchlichkeiten müssen ein Ansatz dafür sein, therapeutisch zu arbeiten und sich die Flucht in diese Strukturen und die damit verbundenen Wünsche genauer anzusehen.
Egal, ob sich jemand freiwillig in eine rigide Struktur begeben hat oder beispielsweise inhaftiert wurde, kommen diese Menschen zurück in eine feindliche Gesellschaft?
Berger: Zunächst einmal kommen diese Menschen zurück in eine Gesellschaft, die ihnen viele Türen verschließt, sobald jemand diesen Teil seiner Biografie erzählen muss. Damit müssten wir uns viel stärker auseinandersetzen. Das Problem der Wiedereingliederung ist, dass gleichzeitig diese anderen, problematischen Strukturen mehr oder weniger verdeckt weiterhin zur Verfügung stehen, nämlich dann, wenn es für den Entlassenen oder den Rückkehrer nicht weitergeht, wenn er eben doch keinen anderen Weg für sich sieht.
Wie gelingen die Umdeutungen, wenn für diese Menschen die Gesellschaft weiterhin feindlich bleibt?
Berger: Ja, das ist fast die Quadratur des Kreises. Man wird die Überzeugungsarbeit leisten müssen, dass eine offene Gesellschaft doch viele Vorteile bietet. Bei manchen Menschen stoßen wir dann auch auf eher krude Vorstellungen, bei denen zwei Seiten völlig unverbunden nebeneinanderstehen. Ich hatte mal einen Eritreer, der sagte, ja, er wolle schon gerne hier leben, aber die Scharia finde er trotzdem gut.
Wir müssen diese Menschen danach fragen, was ihre Lebensbedingungen zuvor waren und was die reizvollen Punkte waren, warum sie sich auf solche Ideologien eingelassen haben. Wir stoßen da oft auf nicht sonderlich glückliche Kindheiten, die zu Verunsicherungen und zu den entsprechenden Selbstwertproblematiken geführt haben. Bei manchen hat sich dann Drogenkonsum angeschlossen. An diese Punkte müssen wir zurückgehen und diese Konflikte bearbeiten.
Wie sieht es nun mit der Isolation in Straflagern aus? Wer zerbricht darin und wer überlebt?
Berger: Wir wissen, seitdem sich Aaron Antonovsky damit beschäftigt hat, dass tatsächlich eben nicht alle Menschen an diesen Inhaftierungen zerbrechen. So kam es dann auch zum Begriff der Resilienz. Man braucht offenbar eine Widerständigkeit, die man früh gelernt hat. Drei Faktoren scheinen besonders hilfreich: Erstens muss jemand verstehen, warum er in eine solche Situation gekommen ist. Zweitens muss man Strategien entwickeln, wie man konstruktiv mit der Inhaftierung umgeht. Drittens gilt, dass man dem Ganzen eine Art Sinn zuschreiben kann. So schrecklich die Inhaftierung auch ist, für etwas ist sie gut, indem ich beispielsweise etwas dagegen tun kann. Wenn man diese drei Punkte therapeutisch gut zu nutzen weiß, dann lernen die Menschen, dieses Erleben zu verarbeiten, ohne dass sie daran zugrunde gehen.
Schon ein aktiver Widerstand während solcher Inhaftierungen zeigt diese drei Punkte. Wer sich dabei politisiert und beispielsweise Kassiber nach außen befördert, mit denen die eigene Lebenssituation für die Menschen draußen sichtbar gemacht werden, kann aktiv etwas tun und erzeugt für sich damit Sinn. Man kann das bei Menschen aus sowjetischen Straflagern sehen.
Nun kommen solche Menschen zurück in die Gesellschaft – sie bleiben oft widerständig und sperrig.
Berger: Sie bleiben widerständig. Man sieht das historisch auch an den Überlebenden des Holocaust und sogar an den Nachfahren. Diese psychischen Narben merkt man ihnen auf Dauer an. Natürlich geht man aus Inhaftierungen nicht unbeschadet hervor. Das bleiben Menschen, die sich zumindest in Teilen immer außerhalb einer Gesellschaft wahrnehmen. Sie bleiben in einer kritischen Distanz. Da ist das Urvertrauen verloren, wenn man es mal so nennen will. Das hat ja auch eine Schutzfunktion, die wir in der therapeutischen Arbeit sehen müssen. Geben diese Personen die Distanz auf, erleben sie das schnell als Verlust eines Schutzes.
Wenn nun jemand aus einer großen Distanz gar nicht mehr herausfindet und es ihm extrem schwerfällt, Lebenszufriedenheit zu erreichen, was tun Sie dann?
Berger: Wichtig scheint mir therapeutisch, diesen Menschen dabei zu helfen, dass sie mit hilfreichen und wohlwollenden anderen Menschen zusammenkommen. Das ist oft extrem schwer. Und es reicht auch nicht, dass der Therapeut die einzige vertrauensvolle Beziehung darstellt.
Und wenn Sie nun mit so einem Menschen so gar nicht weiterkommen?
Berger: Das, was immer noch bleibt, ist Containment, also weiterhin Unterstützung anzubieten, damit dieser Mensch weiß, dass zumindest der Therapeut zur Verfügung steht, wann immer es sein muss. Sie sollten sicher sein, dass sie in einer Institution oder auch bei einem niedergelassenen Therapeuten einen zuverlässigen Ansprechpartner finden, und zwar auch auf lange Sicht. Wir sollten therapeutisch eine Partnerschaft anbieten können, vielleicht sogar so etwas wie Beistand.
Das Interview führte Uwe Britten