ArchivDeutsches Ärzteblatt10/2000Serie: Sexuelle Funktionsstörungen – Psychosomatische Aspekte bei Erektionsstörungen

MEDIZIN: Zur Fortbildung

Serie: Sexuelle Funktionsstörungen – Psychosomatische Aspekte bei Erektionsstörungen

Hartmann, Uwe

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LNSLNS Psychologische Faktoren spielen bei Erektionsstörungen eine große Rolle. Sie nehmen Einfluss auf die Genese, auf Lebensqualität und Partnerschaft, die diagnostische Evaluation und die Effektivität der Therapie. Die Kausalfaktoren lassen sich unterteilen in unmittelbar wirkende Komponenten (Versagensängste, Ablenkung), Faktoren aus der jüngeren Vergangenheit und entwicklungsbedingte Vulnerabilitäten. Das diagnostische Vorgehen sollte in drei Stufen die Symptomatik bestimmen, eine diagnostische Einordnung der Störung und eine ätiologische Spezifizierung vornehmen. Für die Behandlung steht mit der Sexualtherapie ein effektives Verfahren zur Verfügung, das in integrativen Ansätzen mit somatischen Behandlungsoptionen kombiniert werden sollte. Die durch die Verfügbarkeit wirksamer oraler Medikamente absehbare Verlagerung in den primärärztlichen Bereich wird eine stärkere sexualmedizinische Kompetenz notwendig machen, für deren Erwerb qualifizierte Weiterbildungsangebote bestehen.
Schlüsselwörter: Erektionsstörung, Impotenz, sexuelle Dysfunktion, Sexualtherapie

Psychological Aspects of Erectile Disorders
Psychological aspects are major determinants in erectile disorders and influence the etiology, the effects on quality of life and partnership, the diagnostic evaluation as well as the effectiveness of all therapeutic options. The main causes of psychogenic erectile disorders can be divided into: immediate factors (performance anxiety), antecedent life events from recent history, developmental vulnerabilities from childhood and adolescence. The diagnostic evaluation should encompass three steps: an assessment of symptoms, a diagnostic classification, and an etiological specification. In treating psychogenic erectile dysfunctions sex therapy offers an efficient treatment option that should be combined with somatic treatments. The availability of oral erectogenic agents will lead to a shift towards the primary care setting. A better proficiency in sexual medicine will be required for which qualified educational programs have recently been developed.
Key words: Erectile disorder/dysfunction, impotence, sexual dysfunction, sex therapy


Erektionsstörungen sind aufgrund der hohen Anzahl betroffener Männer und der weitreichenden negativen Auswirkungen dieser Störungen ein bedeutsames Gesundheitsproblem. Das intensive öffentliche Interesse, das von der Markteinführung des oral wirksamen Phosphodiesterase-Hemmers Sildenafil (Viagra) ausgelöst wurde, hat Laien- wie Fachpublikum die Dimension der Problematik verdeutlicht und das Gesundheitssystem erstmals offen mit den Kosten sexueller Störungen konfrontiert. Im Zuge der eindrucksvollen Fortschritte der Grundlagenforschung, die in den vergangenen 15 Jahren das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des Erektionsprozesses grundlegend verbessert und zur Entwicklung einer Reihe neuer diagnostischer und therapeutischer Optionen geführt haben, wurde psychologischen Aspekten von Erektionsstörungen allenfalls noch am Rande Beachtung geschenkt. Nach einer Phase, die eher von einem Gegeneinander als von einem Miteinander von somatischer und psychologischer Medizin in diesem Feld gekennzeichnet war, hat sich in letzter Zeit zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass bei Erektionsstörungen psychische beziehungsweise partnerschaftliche und organische Faktoren fast immer eng ineinandergreifen und nur ein psychosomatischer Ansatz dem Patienten gerecht werden kann (5, 8).
Darüber hinaus wurde der hohe Stellenwert psychosozialer Faktoren in neueren empirischen Studien an unselektionierten Stichproben klar bestätigt (4, 6, 15). Schließlich hat sich heute weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Komplexität und Multidimensionalität der Problematik "einfache" Lösungsansätze nicht zulässt und sich psychosoziale Faktoren in den meisten Fällen nicht ausblenden oder umgehen lassen, sondern die Effektivität aller Behandlungsansätze beeinflussen und limitieren.
Die aktuellen Zahlen zur Prävalenz lassen erkennen, dass zirka zehn Prozent der Männer unter klinisch relevanten Erektionsstörungen leiden (3, 9), was einer Zahl von drei bis vier Millionen Männern in Deutschland entspricht. Die Inzidenz ist mit dem Lebensalter und einer Reihe körperlicher (Diabetes, koronare Herzkrankheiten, Bluthochdruck) und psychosozialer (Depression, Stress, Ärger) Risikofaktoren korreliert. Die Umstände, dass nur ein kleiner Teil der befragten Männer (weniger als 20 Prozent) professionelle Hilfe für ihre Erektionsstörungen suchen und die Mehrzahl der Ärzte ihre Patienten nicht aktiv auf sexuelle Störungen anspricht, zeigen, dass es sich bei Erektionsstörungen und sexuellen Dysfunktionen insgesamt um bislang unzureichend diagnostizierte und therapierte Krankheitsbilder handelt.
Auswirkungen der Erektionsstörungen
Erektionsstörungen sind mehr als die meisten anderen psychischen oder körperlichen Beschwerden in der Lage, das Selbstwertgefühl des Mannes zu untergraben und das Wohlbefinden zu beeinträchtigen. Für den Patienten selbst bestehen die Auswirkungen in der Regel in einer Verminderung der Selbstachtung und des männlichen Identitätsgefühls, in Rückzugs- und Vermeidungstendenzen, es kann zu sozialen und beruflichen Schwierigkeiten kommen, zu psychischen oder psychosomatischen Störungen. Der bedeutsamste Faktor, der mit Erektionsstörungen in einer engen Wechselwirkung assoziiert ist, ist die Depression. In der Massachusetts Male Aging Study (3) war eine klinisch relevante Depression ein stärkerer statistischer Prädiktor für das Vorliegen einer Erektionsstörung als alle körperlichen Faktoren (inklusive Diabetes) und im eigenen Patientenkollektiv berichteten 26 Prozent der erektionsgestörten Männer über depressive Symptome (6).
Neben den individuellen Folgen von Erektionsstörungen sind die Auswirkungen auf die Partnerbeziehung besonders nachhaltig. Unabhängig von den Störungsursachen kommt es fast immer zu einer erheblichen Beeinträchtigung der partnerschaftlichen Sexualität, zu Kommunikationsstörungen, einer Bindung von Energie und Kraft, die sexuelle wie nichtsexuelle Bereiche der Beziehung negativ tönt.
Darüber hinaus konnten Studien zur Lebensqualität von erektionsgestörten Männern erhebliche und weitreichende Beeinträchtigungen feststellen (11), die sich bei adäquater Behandlung wieder deutlich verbessern ließen.
Psychosoziale Faktoren in der Entstehung
Die klinische Erfahrung zeigt, dass psychosoziale Faktoren bei Erektionsstörungen das Störungsgeschehen in verschiedenen Stadien und auf unterschiedliche Weise prägen. Sie beeinflussen die Genese der Erektionsstörung, die Auswirkung der Störung auf die Lebensqualität, das psychische Befinden und die Partnerbeziehung, die diagnostische Evaluation, die Entscheidung für eine Therapieoption und nicht zuletzt die Durchführung und Effektivität der Therapie.
Betrachtet man gezielt die Verursachung von Erektionsstörungen, kann man generell sagen, dass psychosoziale Faktoren bei einem Teil der Störungen als Haupt- oder Nebenfaktoren unmittelbar ätiopathogenetisch wirken, darüber hinaus aber bei praktisch allen Patienten reaktiv eine sehr bedeutsame Rolle spielen.
Bei der Verursachung psychogener Erektionsstörungen handelt es sich um ein komplexes Geschehen, in das innerpsychische, partnerbezogene und lebensgeschichtliche Faktoren involviert sind. Psychogene Erektionsstörungen sollten nicht länger als Rest- oder Sammeldiagnose betrachtet werden, sondern es muss, ähnlich wie bei den somatischen Ursachenfaktoren, eine differenziertere Klassifizierung vorgenommen werden, die dann das therapeutische Handeln bestimmt. In der ärztlichen Praxis dürfen psychogene Erektionsstörungen keinesfalls als eine Art "Light-Version" der Erektionsstörungen angesehen werden, da sie im Selbsterleben des Patienten oftmals subjektiv belastender sind und auch beim Partner auf weniger Verständnis stoßen und mehr Konflikte verursachen.
Allgemein kann man sagen, dass Erektionsstörungen bei jüngeren Männern in der Regel auf einer durch Ängste und Konflikte bedingten Hemmung sexueller Reaktionen beruhen, bei älteren Männern dagegen auf einem Nachlassen der zentralen und peripheren Erregbarkeit, die dann die Sexualität störungsanfälliger macht.
Die an der Entstehung psychogener Erektionsstörungen beteiligten Kausalfaktoren lassen sich nach einem Vorschlag Levines (10) in drei Bereiche unterteilen:
- unmittelbar wirkende Faktoren (Versagensängste, Ablenkung, Partnerkonflikte),
- Faktoren aus der jüngeren Vergangenheit (Lebensereignisse, die der Störung vorausgegangen sind),
- länger zurückliegende, biografische Faktoren (entwicklungsbedingte Vulnerabilitäten aus Kindheit und Adoleszenz).
Das Gewicht der drei Bereiche ist bei jedem Patienten individuell verschieden, im Zusammenspiel der Faktoren lassen sich gleichwohl bestimmte Gesetzmäßigkeiten isolieren, die für primäre und sekundäre Erektionsstörungen unterschiedlich sind (Grafik). Danach beruhen sekundäre Erektionsstörungen in erster Linie auf belastenden Lebensereignissen, deren emotionale Auswirkungen auf die Sexualität sich der Mann meist nicht bewusst ist und die über den entscheidenden Pathomechanismus der Versagensangst dann zum Erektionsversagen führen. Zwar kann es auch bei sekundären Erektionsstörungen bedeutsame entwicklungsbedingte Vulnerabilitäten geben, doch spielen diese bei den primären Erektionsstörungen eine viel wichtigere Rolle. Bei den primären Erektionsstörungen führen diese früh angelegten Konflikte und Traumatisierungen nie zur Herausbildung einer stabilen sexuellen Funktionsfähigkeit und manifestieren sich ebenfalls in Form sexueller Versagensängste, während die "mittlere" Ebene der belastenden Lebensereignisse für die Pathogenese von untergeordneter Bedeutung ist.
Auswirkung auf die Partnerbeziehung
Sexualität hat wichtige Funktionen für den seelischen Haushalt des einzelnen Menschen, ist andererseits aber untrennbar verwoben mit Partnerschaft, Paardynamik und Paarbindung (1). Daraus folgt, dass auch eine sexuelle Störung wie die Erektionsstörung nicht losgelöst von der Partnerbeziehung betrachtet werden kann, die bei einem Teil der Patienten maßgeblich an der Entstehung der Störung beteiligt ist oder diese durch destruktive Interaktionsprozesse aufrechterhält. Paarbezogene Störungsursachen können beim Patienten selbst liegen, in Form von tiefverwurzelten Ängsten vor Frauen beziehungsweise weiblicher Sexualität, sie können aber auch direkt aus der Partnerbeziehung stammen. Letztere lassen sich unterteilen in Konflikte um Status und Dominanz, Probleme mit Intimität und Vertrauen und Schwierigkeiten mit sexueller Attraktivität und sexuellem Verlangen. Viele erektionsgestörte Männer weisen in ihrem sexuellen Verhalten gegenüber Frauen eine profunde Unsicherheit und Kompetenzangst auf und erleben sich in belastender Weise alleinverantwortlich für die sexuelle Befriedigung der Partnerin, ohne recht zu wissen, worin diese eigentlich besteht. Zusammen mit den verbreiteten überhöhten Vorstellungen bezüglich sexueller Leistungsfähigkeit und dem gestiegenen sexuellen Selbstbewusstsein der Frauen, erleben sich viele Patienten in der Sexualität gefordert, unter Druck und in einer defensiven Position, in der es in erster Linie darum geht, nichts "falsch" zu machen und nicht zu versagen. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass eine tragfähige Partnerbeziehung und eine zugewandte Partnerin eine wichtige Schutzfunktion gegenüber sexuellen Störungen ausübt, da Probleme aufgefangen werden können und sich passagere Probleme in der sexuellen Funktion kompensieren lassen. Viele Paare finden befriedigende Arrangements auch mit einer durch bestimmte Faktoren beeinträchtigten Sexualität und in verschiedenen Untersuchungen zeigte sich, dass Männer in einer längerfristigen Beziehung mit ihrer Sexualität zufriedener sind und weniger Erektionsstörungen beklagen. Die skizzierten Gesichtspunkte zeigen, dass es in jedem Fall wichtig ist, partnerschaftliche Aspekte in der Diagnostik und Therapie von Erektionsstörungen zu berücksichtigen. Diagnostisch ist besonders auf die folgenden Kriterien zu achten:
- Ist die Erektionsstörung in einer langfristigen Partnerschaft oder bei einer neuen Partnerin aufgetreten?
- War die erektile Potenz früher stabil oder seit jeher labil?
- Ist das sexuelle Problem Ausdruck einer gestörten Paarbeziehung oder steht es im Kontrast zu einer guten Partnerschaft?
- Wie ist das sexuelle Interesse und die sexuelle Erlebnisfähigkeit der Partnerin?
Psychosomatische Faktoren in der Diagnostik
Die psychosomatische Evaluation sollte bei Erektionsstörungen folgende Aufgaben erfüllen: Die psychologischen Faktoren identifizieren, die zur Auslösung beziehungsweise Aufrechterhaltung des Symptoms beitragen; abklären, ob die Erektionsstörung primär psychogen ist und welcher Verursachungsmodus im Vordergrund steht; dem Patienten die (somatischen und organischen) Untersuchungsbefunde auf empathische Art verständlich machen und die möglichen Therapieoptionen erörtern, um gemeinsam zu einem "passenden" Behandlungsansatz zu kommen.
Die Erektionsstörung sollte nach verschiedenen formalen Beschreibungsmerkmalen klassifiziert werden, die gleichzeitig einen guten Leitfaden für die Sexualanamnese bilden. Zu unterscheiden ist nach
- Beginn (initial, primär und sekundär),
- Schweregrad (generalisiert oder situativ) und nach
- Verlauf (akut eintretend versus chronisch einschleichend).
Das klinisch-diagnostische Vorgehen sollte drei Stufen umfassen, nämlich erstens die genaue Bestimmung der Symptomatik, zweitens die diagnostische Einordnung (Art der Störung, formale Beschreibungsmerkmale) und drittens die ätiologische Spezifizierung (psychogener Typus, organogener Typus, gemischter Typus). Damit lässt sich nicht nur das individuelle Störungsbild des Patienten genau bestimmen, sondern in den meisten Fällen auch ein passender Behandlungsplan erstellen.
Die enge Interaktion somatischer und psychosozialer Faktoren macht bei den meisten männlichen Funktionsstörungen ein interdisziplinäres Vorgehen in der Diagnostik notwendig. Wichtigstes Instrument zur Evaluation der psychischen Determinanten ist die Sexualanamnese (Textkasten), die sich primär auf die konkreten Entstehungsbedingungen und den sexuellen Status sowie partnerbezogene Faktoren konzentrieren sollte, bevor die sexuelle Entwicklung und Aspekte der Biografie fokussiert werden. Eine Einbeziehung der Partnerin in den diagnostischen Prozess ist in den meisten Fällen günstig und kann die Einschätzung maßgeblich komplettieren oder korrigieren.
Sexualtherapie
Für die Therapie psychisch bedingter Erektionsstörungen verfügen wir seit der Pionierarbeit von Masters und Johnson (12) und Kaplan (7) über ein etabliertes und effektives Verfahren, für das sich der Begriff Sexualtherapie eingebürgert hat. Der Ansatz der Sexualtherapie ist erfahrungsorientiert, zielgerichtet und zeitbegrenzt und besteht in der Kombination von strukturierten und systematisch aufgebauten sexuellen Erfahrungen ("Hausaufgaben") mit der psychotherapeutischen Bearbeitung der wesentlichen Verursachungsdimensionen der Erektionsstörung. Nach gründlicher Diagnostik werden zunächst die unmittelbar wirkenden Faktoren bearbeitet, also Versagensängste, Leistungsdruck, negative Erwartungen, ablenkende Gedanken, ungünstige Partnerinteraktionen, mangelnde Stimulation et cetera. In vielen Fällen führt dies bereits zu einer weitgehenden Verbesserung der Erektionsstörung, in anderen Fällen ist es notwendig, tiefer liegende Faktoren zu bearbeiten, die der Symptomauflösung im Wege stehen. Das prognostisch günstigste Setting ist die Paartherapie, wir verfügen heute allerdings auch über erfolgreiche therapeutische Strategien für den einzelnen Patienten.
Das Basisvorgehen der Sexualtherapie in ihrer Kombination von verhaltensorientierten und aufdeckenden, konfliktbearbeitenden Elementen läßt sich schematisch so darstellen: Der Vorgabe einer für die individuelle Problematik angemessenen Verhaltensanleitung und deren praktischen Umsetzung folgt die Analyse der Erfahrungen des Paares beziehungsweise des Patienten, in der die Hindernisse und unmittelbaren Ursachen der Störung fokussiert werden sollten. Der entscheidende (psycho)therapeutische Schritt besteht dann in der Hilfestellung bei der Modifizierung beziehungsweise Reduzierung dieser Hindernisse, bevor die nächste Verhaltensanleitung gegeben werden kann. Von diesem Hauptweg zweigen zahlreiche Seitenwege ab, die unter Umständen spezifische Interventionen notwendig machen. In der Praxis umfasst die Sexualtherapie eine Reihe von Wirkfaktoren, darunter verhaltensmodifizierende Komponenten, ein gezieltes Einwirken auf Kommunikationsstrukturen, kognitive, edukative ("aufklären" und Informationen geben), paartherapeutische und psychodynamische Elemente. Sexualtherapie lege artis ist jedoch alles andere als ein "Technikmix", sondern verwendet diese Komponenten gezielt und überlegt im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie.
Nicht jeder Patient mit einer primär psychogen bedingten Erektionsstörung benötigt eine Sexualtherapie, da sich weniger schwerwiegende Probleme häufig durch einige Beratungsgespräche deutlich verbessern lassen. Umgekehrt kann jeder erektionsgestörte Patient - unabhängig von der Verursachung seiner Problematik - von einer kompetenten Sexualberatung profitieren, die die Prognose jeder Therapie verbessern kann.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Psychosozialen Faktoren kommen in der klinischen Praxis bei Erektionsstörungen eine herausgehobene Bedeutung zu. Praxiserfahrungen und empirische Untersuchungen belegen den hohen Stellenwert psychosozialer Faktoren in der Verursachung der Störungen, für die Lebensqualität des erektionsgestörten Mannes und für die individuellen Auswirkungen von Erektionsstörungen. Darüber hinaus wird die Akzeptanz jeder Therapie im Wesentlichen durch psychosoziale Faktoren bestimmt beziehungsweise begrenzt, wodurch diese Einflüsse zu entscheidenden Elementen in der Therapiewahl werden.
Die Zukunft wird effektiven, langfristig wirksamen, vom Patienten und seiner Partnerin akzeptierten Therapieoptionen gehören, die nicht nur die Erektionsfähigkeit, sondern die sexuelle Zufriedenheit beziehungsweise die "sexuelle Gesundheit" verbessern können. Dazu ist es notwendig, die vorhandenen, positiven sexuellen Möglichkeiten zu stärken und die Selbstheilungskräfte zu fördern. In einem prognose- und zielorientierten Untersuchungs- und Behandlungskonzept, wie es in jüngster Zeit auch von einem amerikanischen Expertengremium vorgeschlagen wurde (13), sind in einem rational begründeten, zeit- und kostensparenden, patienten- und paarorientierten Vorgehen dem Patienten diagnostische und therapeutische Optionen zu eröffnen. Diese sind je nach individuellem Symptombild, ätiopathogenetischen Faktoren und den Wünschen und Zielvorstellungen des Patienten(-paars) zu bestimmen.
Durch oral wirksame Medikamente wie Sildenafil werden sich die Grenzen zwischen somatomedizinischen und sexualmedizinischen beziehungsweise sexualtherapeutischen Behandlungen zunehmend verwischen, da diese Substanzen - anders als die intrakavernösen Injektionen - nicht quasi automatisch Erektionen induzieren, sondern eher als Katalysator wirken und den Zyklus sexueller Erregung unterstützen und befördern.
Der Bedarf nach kompetenter Beratung und Sexualtherapie wird ansteigen, da nur bei einem kombinierten Vorgehen die Möglichkeiten eines solchen physiologischeren Ansatzes effektiv umzusetzen sind. Die Verfügbarkeit oral wirksamer Medikamente wird zu einer erhöhten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und zu einer stärkeren Verlagerung der Behandlung von Erektionsstörungen in den primär-ärztlichen Bereich führen. Gleichzeitig wird für den Arzt durch die größere Vielfalt therapeutischer Optionen die Orientierung nicht einfacher und die Anforderungen an die sexualmedizinische Kompetenz werden steigen. Sowohl die Akademie für Sexualmedizin (14) als auch die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2) haben dem inzwischen durch die Etablierung curricular fundierter Weiterbildungsangebote Rechnung getragen.
Zukünftig werden somatische wie psychologische Medizin in der Pflicht stehen, zum Wohle der Patienten die Kräfte zu bündeln und gemeinsam innovative Ansätze zu entwickeln und zu erproben.


Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 2000; 97: A-615-619 [Heft 10]


Literatur
1. Beier KM, Bosinski H, Hartmann H, Loewit K: Lehrbuch der Sexualmedizin. München: Urban & Fischer (im Druck).
2. Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung: Weiterbildung: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Z Sexualforsch 1997; 10: 52-58.
3. Feldman HA, Goldstein I, Hatzichristou DG, Krane RJ, McKinlay JB: Impotence and its medical and psychosocial correlates: results of the Massachusetts Male Aging Study. J Urol 1994; 151: 54-61.
4. Hartmann U: Diagnostik und Therapie der erektilen Dysfunktion. Theoretische Grundlagen und Praxisempfehlungen aus einer multidisziplinären Spezialsprechstunde. Frankfurt/M.: Lang, 1994.


5. Hartmann U: Die kombinierte psycho-somatische Behandlung erektiler Dysfunktionen. Psycho 1995; 21: 651-657.
6. Hartmann U: Psychische Belastungsfaktoren bei erektilen Dysfunktionen. Verursachungsmodelle und empirische Ergebnisse. Urologe [A] 1998; 37: 487-494.
7. Kaplan HS: The new sex therapy, New York: Brunner/Mazel, 1974.
8. Langer D, Hartmann U: Psychosomatik der Impotenz, Stuttgart: Enke, 1992.
9. Laumann O, Paik A, Rosen RC: Sexual dysfunction in men and women: a population-based survey of U. S. adults. Int J Impotence Res 1998; 10 Suppl. 3: 470.


10. Levine SB: Intrapsychic and interpersonal aspects of impotence: psychogenic erectile dysfunction. In: Rosen RC, Leiblum SR (eds): Erectile disorders. Assessment and Treatment. New York: Guilford, 1992.
11. Litwin MS, Nied RJ, Dhanani N: Health-related quality of life in men with erectile dysfunction. J Gen Int Med 1998; 13: 159-166.
12. Masters WH, Johnson VE: Human sexual inadequacy (Deutsch: Impotenz und Anorgasmie; Frankfurt: Goverts, Krüger, Stahlberg 1973), Boston: Little, Brown and Company, 1970.
13. Rosen RC, Goldstein I, Padma-Nathan H: A process of care model. Evaluation and treatment of erectile dysfunction. The University of Medicine and Dentistry of New Jersey - Robert Wood Johnson Medical School, 1998.
14. Vogt HJ, Loewit K, Wille R, Beier KM, Bosinski HAG: Zusatzbezeichung "Sexualmedizin" - Bedarfsanalyse und Vorschläge für einen Gegenstandskatalog. Sexuologie 1995; 2: 65-89.
15. Wylie KR: Male erectile disorder: characteristics and treatment choice of a longitudinal cohort of men. Int J Impotence Res 1997; 9: 217.


Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. rer. biol. hum. Uwe Hartmann
Dipl.-Psych.
Arbeitsbereich Klinische Psychologie
Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30623 Hannover


Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie (Leiter: Prof. Dr. med. H. M. Emrich) der Medizinischen Hochschule Hannover


Verursachung sekundärer und primärer Erektionsstörungen


Inhalte der Sexualanamnese
-Kriterien der Erektionsstörung (Beginn, Dauer, Progression, Schweregrad; sexuelle und nichtsexuelle erektile Kapazität)
- Komorbidität mit Appetenz- und/oder Orgasmusproblemen
-Veränderungen genitaler Empfindungen, Schmerzen
-Sexualität des Paares, Sexualität der Partnerin
-Psychosoziale Aspekte (psychische Befindlichkeit, Partnerschaftsanamnese, Coping-Fähigkeit, berufliche und allgemeine Lebenssituation)


In der Serie "Sexuelle Funktionsstörungen" sind bisher erschienen:
(1) Editorial "Störungen der männlichen Sexualfunktion", Sökeland J, Tölle R: Dt Ärztebl 2000; 97: A-309-310 [Heft 6]
(2) Schopohl J, Haen E, Ullrich T, Gärtner R: "Sildenafil (Viagra)". Dt Ärztebl 2000; 97: A-311-315 [Heft 6]
(3) Stief C G, Truss, M C, Becker A J, Kuczyk M, Jonas U: "Pharmakologische Therapiemöglichkeiten der Erektionsstörung". Dt Ärztebl 2000; 97: A-457-460 [Heft 8]

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

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