MEDIZIN: Originalarbeit
Prävalenz von Kurzsichtigkeit und deren Veränderung bei Kindern und Jugendlichen
Ergebnisse der deutschen KiGGS-Studie
Prevalence and time trends in myopia among children and adolescents—results of the German KiGGS study
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Hintergrund: Myopie (Kurzsichtigkeit) nimmt weltweit zu, insbesondere im asiatischen Raum. Ziel dieser Studie ist es, Veränderungen der Myopieprävalenz in Deutschland zu beschreiben.
Methode: Wir werteten Daten der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus (KiGGS-Basiserhebung, 2003−2006, N = 17 640 und KiGGS Welle 2, 2014−2017, N = 15 023). Das Vorliegen von Myopie wurde mittels Elternfragebogen erhoben und durch das Vorhandensein einer Sehhilfe validiert. Die Bevölkerungsprävalenz von Myopie wurde berechnet. Auf Basis der Daten aus KiGGS Welle 2 wurden mittels logistischer Regression mögliche Risikofaktoren für das Auftreten von Myopie betrachtet.
Ergebnisse: Im Alter von 0–17 Jahren betrug die Myopieprävalenz in Deutschland in den Jahren 2003–2006 11,6 % (95-%-Konfidenzintervall: [11,0; 12,2]) und in den Jahren 2014–2017 11,4 % [10,7; 12,2]. In keiner der Altersgruppen beider Geschlechter zeigte sich eine relevante und statistisch signifikante Veränderung in der Myopieprävalenz. Im adjustierten Modell (adjustiert für Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Status der Familie, Migrationshintergrund) zeigte sich kein Zusammenhang der Myopie mit digitaler Mediennutzung. Längeres Lesen von Büchern war mit Myopie assoziiert. Bei mehr als zwei Stunden Lesen pro Tag ergab sich eine Odds Ratio von 1,69 [1,3; 2,2].
Schlussfolgerung: Die Myopieprävalenz zeigt sich über etwa zehn Jahre bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland nahezu unverändert. Veränderungen in der Mediennutzung, wie etwa die vermehrte Nutzung von Smartphones durch Kinder und Jugendliche, haben demnach zumindest bislang keinen nachweisbaren Einfluss auf die Myopie-Entstehung. Zukünftige Studien sollten den Einfluss eventuell weiter steigender Mediennutzung sowie Langzeiteffekte betrachten.


Myopie (Kurzsichtigkeit) führt zu unscharfem Sehen in die Ferne und ist ein Brechkraftfehler des Auges, bei dem das Auge im Verhältnis zur Brechkraft des vorderen Augenabschnitts meist zu lang ist. Myopie nimmt weltweit zu und wird in Industrieländern als der häufigste Grund für eine Seheinschränkung ohne optische Korrektur diskutiert (1).
Bei Geburt ist das Auge des Menschen weitsichtig (2) und emmetropisiert typischerweise bis ins Schulalter. Die Brechkraft der Hornhaut, die Brechkraft der Linse und die Länge des Auges entwickeln sich aufeinander abgestimmt so, dass der bei Geburt weitsichtige Brechkraftfehler des Auges ausgeglichen wird. Während Myopie im Vorschulalter noch selten vorkommt, tritt sie mit der Anzahl an Bildungsjahren häufiger auf, wie sich in einer bevölkerungsbasierten Studie unter 35- bis 74-jährigen Erwachsenen zeigte (3); der Zusammenhang zwischen Myopie und Bildung besteht unabhängig von der Genetik (4).
Mit Blick auf die Verbreitung von Myopie berichtet eine im Jahr 2016 publizierte systematische Übersichtsarbeit eine Prävalenz bei 5-Jährigen zwischen 1,6 % bei weißen Kindern europäischer Herkunft und 11,3 % bei Ureinwohnern von Nordamerika (5). Hingegen liegt die Prävalenz von Myopie deutlich höher bei Erwachsenen. Insbesondere in ostasiatischen Ländern werden Prävalenzen von bis zu 80 % berichtet, während in ländlichen Regionen ohne formale Bildung weniger als 10 % eine Myopie haben (6).
Angaben zur Prävalenz von Kurzsichtigkeit in Deutschland machen Jobke et al. im Jahr 2008 (7): Die Autoren fanden eine Prävalenz von 0 % im Alter von 2–6 Jahren, von 5,5 % im Alter von 7–11 Jahren und von 21,0 % im Alter von 12–17 Jahren. Diese Prävalenz war deutlich niedriger als in anderen Studien aus Europa (7). Eine frühere Publikation ergab auf Grundlage der KiGGS-Basiserhebung des Robert Koch-Instituts (RKI) aus den Jahren 2003–2006 eine Myopieprävalenz von 13,3 % bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 3–17 Jahren (8); zeitliche Veränderungen konnten nicht untersucht werden. Wesemann untersuchte im Rahmen einer Sekundärdatenanalyse Veränderungen der Brillenstärken in Deutschland im Zeitraum 2000–2015; hierzu wertete er einen Datensatz aus, der Refraktionswerte (n = 1 223 410) für angepasste Brillen in Deutschland von mittelständischen Augenoptikerbetrieben (etwa 10 % aller Augenoptikerbetriebe) umfasste (9). Auf dieser Grundlage kommt Wesemann zu dem Schluss, dass Myopie bei Personen im Alter von 5–30 Jahren in dem betrachteten Zeitraum nicht zugenommen hat (10). Yang et al. berichteten kürzlich, dass die Myopieprävalenz bei jungen österreichischen Wehrpflichtigen (männlich, unter 19 Jahren) zwischen 1983 und 2017 von 13,8 % auf 24,4 % zunahm, wenngleich die Zunahme seit 2013 nur bei 2,2 % lag (11).
Insbesondere der Bildungsdruck und der Rückgang der Aufenthaltszeit im Freien werden für die starke Zunahme von Myopie in Asien verantwortlich gemacht und beeinflussen neben genetischen Faktoren das Auftreten und das Ausmaß von Myopie (6). Die Lichtexposition im Freien wird als protektiv angesehen, wohingegen Tätigkeiten im Haus wie Fernsehen, Computernutzung und Lesen als mögliche Risikofaktoren betrachtet werden (12, 13, 14). Dies wird über eine verminderte Dopamin-Konzentration in der Netzhaut bei geringer Lichtexposition erklärt, die zu einem verstärkten Längenwachstum des Auges mit hieraus resultierender Kurzsichtigkeit führt (15). Inwieweit die Nutzung von Smartphones einen Einfluss auf die Entstehung von Kurzsichtigkeit hat, wird kontrovers diskutiert (8, 16, 17).
Ziel dieser Studie ist es, die Veränderung der Prävalenz von Kurzsichtigkeit im Kindes- und Jugendalter in Deutschland zwischen den Erhebungszeitpunkten der KiGGS-Basiserhebung und KiGGS Welle 2 zu betrachten. Zusätzlich werden mögliche Risikofaktoren für Kurzsichtigkeit, insbesondere die Nutzung von Medien, analysiert.
Methode
Datenbasis der statistischen Analysen ist die KiGGS-Studie, deren Basiserhebung in den Jahren 2003–2006 durch das RKI als Bestandteil des bundesweiten Gesundheitsmonitorings durchgeführt wurde. Die zweite Welle der Studie fand in den Jahren 2014–2017 statt. Nähere Angaben zum Studiendesign und zur Methodik finden sich im eSupplement.
Für die Berechnung der Myopieprävalenz wurden Informationen des Elternfragebogens genutzt. Zur Absicherung der Diagnose Myopie wurden im Rahmen der Primäranalyse nur solche Kinder und Jugendlichen als kurzsichtig definiert, für die neben der Elternangabe einer Kurzsichtigkeit auch das Vorhandensein einer Sehhilfe angegeben wurde. Als nicht kurzsichtig wurden diejenigen Kinder und Jugendlichen definiert, deren Eltern die Frage nach der Fehlsichtigkeit mit „Kurzsichtigkeit: Nein“ beantworteten. Kinder und Jugendliche mit Kurzsichtigkeit laut Elternangabe, aber ohne Brille wurden von den Analysen ausgeschlossen.
Statistische Analyse
Prävalenzschätzer und ihre 95-%-Konfidenzintervalle wurden berechnet und zwischen den beiden Erhebungen miteinander verglichen. Mittels multivariabler logistischer Regression wurden mögliche Risikofaktoren der Myopie auf Basis der Daten aus KiGGS Welle 2 unadjustiert, teiladjustiert und volladjustiert betrachtet. Der Umfang der Smartphone-Nutzung wurde jedoch nicht erhoben, der Besitz eines Smartphones wurde als Proxy für dessen Nutzung gesehen.
Für die Trendanalysen wurden modifizierte Querschnittsgewichte der KiGGS-Basiserhebung und von KiGGS Welle 2 verwendet und damit eine Anpassung an die amtliche Bevölkerungsstruktur des jeweiligen Erhebungszeitraums vorgenommen.
Ein p-Wert von < 0,05 wurde als statistisch signifikant angesehen; für multiples Testen wurde keine Korrektur durchgeführt. Als primäre Analysen waren die Trendanalyse der Myopieprävalenz sowie die Regressionsanalyse definiert. Alle weiteren Analysen stellen Sensitivitätsanalysen dar. Die statistischen Auswertungen erfolgten mit der Statistiksoftware SPSS 24.0.
Ergebnisse
Bei der KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) wurden 17 640 Kinder und Jugendliche im Alter von 0–17 Jahren in die Studie eingeschlossen. Deren Eltern gaben bei 1 720 Kindern und Jugendlichen an, dass Kurzsichtigkeit vorlag, bei 13 547 keine Kurzsichtigkeit, bei 1 321 „Weiß nicht“, und bei 1 052 Kindern und Jugendlichen fehlten diesbezügliche Angaben. Zu 1 604 (93,3 %) dieser kurzsichtigen Kinder und Jugendlichen lagen Angaben der Eltern vor, dass ihr Kind eine Sehhilfe habe. Bei KiGGS Welle 2 (2014–2017) waren 15 023 Kinder und Jugendliche in die Studie eingeschlossen. Hier gaben die Eltern bei 1 725 Kindern und Jugendlichen das Vorliegen von Kurzsichtigkeit an, bei 11 244 keine Kurzsichtigkeit, bei 596 „Weiß nicht“, und bei 1 458 fehlten Angaben. Zu 1 582 (91,7 %) dieser kurzsichtigen Kinder und Jugendlichen lagen Angaben der Eltern vor, dass ihr Kind eine Sehhilfe habe. Die Analysestichproben der beiden Erhebungen (kurzsichtige und nichtkurzsichtige Kinder und Jugendliche im Alter von 0–17 Jahren) sind in Tabelle 1 jeweils näher beschrieben.
Im Alter von 0–17 Jahren lag die Prävalenz der Myopie in Deutschland in den Jahren 2003–2006 bei 11,6 % (95-%-Konfidenzintervall: [11,0; 12,2]). Die geschlechtsstratifizierte Analyse zeigte, dass bei Jungen die Prävalenz bei 9,6 % [8,9; 10,4] lag, bei Mädchen bei 13,7 % [12,8; 14,6].
In den Jahren 2014–2017 lag die Prävalenz der Myopie in Deutschland im Alter von 0–17 Jahren bei 11,4 % [10,7; 12,2]. Bei Jungen lag die Prävalenz bei 9,6 % [8,6; 10,5], bei Mädchen bei 13,5 % [12,4; 14,6].
In der Trendanalyse zeigte sich keine statistisch signifikante Veränderung der Myopie zwischen den beiden Erhebungszeiträumen. Diese Aussage trifft für die gesamte Studienpopulation zu (p = 0,45) sowie für die Subgruppen der Jungen (p = 0,54) und der Mädchen (p = 0,62). Die Sensitivitätsanalysen sind in eTabelle 1 sowie in der eGrafik dargestellt.
Zu beiden Untersuchungszeitpunkten zeigte sich eine vergleichbare Zunahme der Myopieprävalenz mit dem Alter; Mädchen hatten ab dem Alter von 8–9 Jahren häufiger eine Myopie als Jungen (Grafik).
Die Analyse von KiGGS Welle 2 (2014–2017) zeigte, dass ein höheres Alter und weibliches Geschlecht mit einer höheren Prävalenz der Myopie assoziiert waren. Sozioökonomischer Status (SES) und Migrationshintergrund waren nicht mit einer höheren Myopieprävalenz assoziiert. Weder die untersuchten Mediennutzungsparameter (Fernsehen/Video, Spielkonsole, Computer/Internet) noch der Besitz eines Smartphones zeigten im multivariablen Modell einen Zusammenhang zur Myopie. Längeres Bücherlesen war jedoch mit dem Auftreten von Myopie assoziiert (Tabelle 2). Ein Dosis-Wirkungseffekt zeigte sich in der unadjustierten Analyse bei Fernsehen/Video, Computer/Internet und Lesen; im teiladjustierten Modell war dieser Effekt lediglich beim Lesen vorhanden (Tabelle 2).
Die erste Sensitivitätsanalyse mit der Myopie-Definition unabhängig von einer Sehhilfe bestätigte die Ergebnisse der primären Auswertung. In der zweiten Sensitivitätsanalyse war der Bildschirmindex in der unadjustierten Analyse mit Myopie assoziiert (Odds Ratio [OR]: 1,21 pro Stunde Bildschirmnutzung [1,18; 1,25]; p < 0,001). Nach Adjustierung für Alter, Geschlecht, SES, Migrationshintergrund, Bücherlesen und Besitz eines Smartphones war der Zusammenhang nicht mehr nachweisbar (OR: 1,00 pro Stunde [0,96; 1,04]; p = 0,94), ebenso nicht in der multivariablen Analyse ohne Berücksichtigung des Besitzes eines Smartphones (OR: 1,00 [0,96; 1,05]; p = 0,90).
Diskussion
Die Myopieprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland und der Einfluss von neuen digitalen Medien, wie Smartphone und Tablet, auf die Entstehung der Myopie sind bislang unklar. Die KiGGS-Daten zeigen, dass sich die Myopieprävalenz bei Kindern und Jugendlichen zwischen 2003–2006 und 2014–2017 nicht relevant verändert hat. Die Datenerhebung hierzu war in den beiden Zeiträumen identisch, sodass eine Vergleichbarkeit gegeben ist. Insofern ist davon auszugehen, dass zum Beispiel die nach der KiGGS-Basiserhebung 2003–2006 stetig zunehmende Nutzung von Smartphones zumindest bislang keinen nachweisbaren Einfluss auf die Myopieprävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland hatte. Ein Zusammenhang zwischen Myopie und der Nutzung anderer Medien, wie Fernsehen, Spielkonsole oder Computer, besteht den Daten zufolge nicht. Hingegen konnte der bereits bekannte Zusammenhang zwischen dem Lesen von Büchern und Kurzsichtigkeit auch mit den KiGGS-Daten bestätigt werden.
Im Alter von 14–17 Jahren sind in Deutschland 23 % der Jungen und 35 % der Mädchen kurzsichtig; die Prävalenz nahm nur bei den 14- bis 17-jährigen Mädchen geringfügig zu. Holden et al. gehen anhand von Hochrechnungen davon aus, dass im Jahr 2020 36,7 % der Bevölkerung Westeuropas kurzsichtig sein werden und sich dies bis zum Jahr 2040 auf 51,0 % erhöhen wird (18).
Insbesondere bei hoher Myopie besteht das Risiko von Netzhautveränderungen in der Makula (19) oder der Entwicklung eines Glaukoms (20). Auch in Deutschland ist eine höhere Myopieprävalenz im jungen Erwachsenenalter zu erwarten, da auch im Verlauf des Studiums die Kurzsichtigkeit zuzunehmen scheint (4). In den KiGGS-Erhebungen wurden lediglich Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren betrachtet; insofern kann hierzu keine Schätzung abgegeben werden.
Eine 2016 publizierte systematische Übersichtsarbeit analysierte Veränderungen in der Myopieprävalenz innerhalb verschiedener Ethnizitäten und über den Zeitverlauf, hierzu wurden Studien von 1958 bis 2015 eingeschlossen. Während sich in Asien, insbesondere in Ostasien, eine Zunahme der Myopieprävalenz zeigte, wurde für weiße Kinder und Jugendliche europäischer Abstammung eine grenzwertige Abnahme modelliert, jedoch mit breitem Konfidenzintervall, sodass auch eine stabile Myopieprävalenz über die Zeit vorliegen könnte (5).
Relativ stabile Prävalenzschätzer für Myopie berichteten Chiang et al. für die 12- bis 19-jährigen US-Amerikaner beim Vergleich der „National Health and Nutrition Examination Surveys“ (NHANES) der Jahre 2001 und 2007 – insbesondere in der nichtspanischstämmigen weißen Bevölkerung (21). In dieser Studie zeigte sich, dass Fernseh- und Computernutzung mit Myopie assoziiert sind. Dies steht im Gegensatz zu den Ergebnissen aus KiGGS Welle 2. Wenngleich wir in der unadjustierten Analyse einen Dosis-Wirkungs-Effekt von Fernseh- und Computernutzung auf Myopie fanden, war dieser bei Berücksichtigung von Alter und Geschlecht – zwei Parameter, die mit der Mediennutzungszeit in Zusammenhang stehen – nicht mehr vorhanden. Auch eine aktuelle Metaanalyse aus fünf Studien zeigte keinen Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und Myopie (22). Hingegen war in KiGGS Welle 2 vermehrtes Lesen mit Myopie assoziiert.
Dies stimmt mit anderen Studien überein, die zeigten, dass Naharbeitszeit ein Risikofaktor für das Entstehen von Myopie ist (23). Es bestehen Gen-Umwelt-Interaktionen in Bezug auf Myopie – so ist der Einfluss von Lesegewohnheiten (24), Bildung (25) und Naharbeit (26) je nach genetischer Prädisposition unterschiedlich groß. Es liegt Evidenz dafür vor, dass Exposition zu hellem Licht das Risiko einer Myopie reduzieren kann (27). Im Freien unterrichtete Kinder entwickelten seltener eine Myopie, und die Myopieprogression war geringer (28). Auch zeigt eine 2017 publizierte Metaanalyse, dass es einen inversen nichtlinearen Zusammenhang zwischen der Aufenthaltszeit im Freien und dem Risiko für das Auftreten einer Myopie gibt (29). Dies konnte in unsere Analyse nicht berücksichtigt werden, da die Aufenthaltsdauer im Freien nicht erhoben wurde. Rose et al. berichten, dass zwei Stunden Aufenthalt im Freien pro Tag das zusätzliche Myopie-Risiko durch Naharbeit bei australischen Schülern eliminiert (30). Zudem ist anzuführen, dass es deutliche Unterschiede zwischen den ostasiatischen und westlichen Bildungssystemen gibt, die sich auch in den Myopieprävalenzen zeigen (6); entsprechende Unterschiede gibt es sicherlich auch bei der Freizeitgestaltung. Ein möglicher Zusammenhang mit Smartphone-Besitz wurde in unserer Studie betrachtet; es fand sich kein Zusammenhang mit Kurzsichtigkeit.
Einschränkungen
In Bezug auf die KiGGS-Studie sind einige Limitationen zu berücksichtigen: So beruht die Definition der Myopie nicht auf Refraktionsmessungen, sondern auf Elternangaben. Eine solche Refraktionsmessung sollte bei Kindern in Zykloplegie (unter Ausschaltung der Akkommodation) erfolgen, um eine Fehlbestimmung zu verhindern. Bei der augenärztlichen Verordnung einer Brille bei Kindern wird dies routinemäßig durchgeführt; daher haben wir die Diagnose zusätzlich mittels Sehhilfenangabe abgesichert. Zudem spricht die hohe Anzahl an Sehhilfen unter den myopen Studienteilnehmenden für valide Elternangaben. Insgesamt haben jedoch 13,5 % beziehungsweise 13,7 % der Eltern keine Angaben zur Kurzsichtigkeit gemacht oder wussten nicht, ob eine solche bestand. Insbesondere zeigte sich bei der KiGGS-Basiserhebung in allen Altersgruppen eine deutlich höhere Zahl an „weiß nicht“-Angaben. Dies könnte in einem anderen Antwortverhalten oder in einer größeren Verbreitung des Begriffs Kurzsichtigkeit während der Durchführung von Welle 2 liegen und die Trendanalysen beeinflussen. Aus diesem Grund haben wir Sensitivitätsanalysen mit verschiedenen Definitionen von Kurzsichtigkeit (mit/ohne Brille) durchgeführt. Dabei zeigt sich in einer Sensitivitätsanalyse, bei der die Elternangaben „nicht kurzsichtig“ und „weiß nicht“ als „keine Myopie“ gewertet wurden, ein Trend zu einem Anstieg der Myopie in Welle 2 (p = 0,03) (eTabelle 1). Dieses Ergebnis ist aber aufgrund der starken Unterschiede bei der Zahl der „weiß nicht“-Angaben in den beiden Erhebungen sowie aufgrund eines Biasrisikos durch Missklassifikation der „weiß nicht“-Antworten vorsichtig zu interpretieren (eTabelle 2).
Der Umfang der Mediennutzung wurde anhand von Eltern- und Selbstangaben aus Fragebögen erhoben. Insbesondere hierbei könnte soziale Erwünschtheit einen Einfluss auf die Angaben gehabt haben, und die tatsächlichen Nutzungszeiten könnten die angegebenen Zeiten überschreiten. Da die Smartphone-Nutzung selbst nicht erhoben wurde, wurde diese über den Smartphone-Besitz operationalisiert, was mit Limitationen behaftet ist. Die Nutzung von neuen Medien könnte indirekt einen negativen Effekt haben, der in dieser Studie nicht näher analysiert werden konnte: Aktivitäten im Freien konkurrieren in der Freizeitgestaltung mit der Nutzung von Medien oder auch mit dem Lesen. Auch könnten sich das Leseverhalten wie auch das Verhalten bei Nutzung neuer Medien in den letzten Jahren geändert haben. Die zunehmende Digitalisierung könnte möglicherweise mit steigendem Medienkonsum und häufigerer Smartphone-Nutzung, insbesondere bei kleinen Kindern, verbunden sein. Nach dieser Erhebung verfügten nur 2 % der Kinder im Alter bis sieben Jahre über ein Smartphone, dagegen besaßen 89 % der 12- bis 13-Jährigen und 98 % der 16- bis 17-Jährigen ein Smartphone. Zudem ist unklar, inwieweit eine pädiatrisch relevante Marktdurchdringung in den Erhebungsjahren vorhanden war, in welchem Ausmaß eine Exposition gegenüber dem Smartphone bestand und ob die Nachbeobachtungszeit ausreichend lang war, um einen möglichen Smartphone-Effekt zu detektieren, insbesondere da Myopie erst ab dem Grundschulalter auftritt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Prävalenz der Myopie bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren im Wesentlichen konstant geblieben ist. Daher ist davon auszugehen, dass Veränderungen im Lebensstil, wie die vermehrte Nutzung von Smartphones, bislang keinen starken Einfluss auf die Entstehung von Myopie hatten.
Interessenkonflikt
Prof. Schuster hat die Stiftungsprofessur „Ophthalmologische Versorgungsforschung“ inne, gestiftet von der „Stiftung Auge“ und finanziert von der „Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft“ und dem „Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V.“. Prof. Schuster erhielt Gelder und Geräteunterstützung für von ihm initiierte Forschungsvorhaben von den Firmen Allergan, Bayer Vital, Heidelberg Engineering, Novartis und PlusOptix.
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Teile dieser Arbeit stellen Auszüge der Dissertation von Clara Kuchenbäcker dar.
Manuskriptdaten
eingereicht: 25. 2. 2020, revidierte Fassung angenommen: 7. 7. 2020
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Alexander K. Schuster, MSc
Zentrum für Ophthalmologische Epidemiologie und Versorgungsforschung
Augenklinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Mainz
Langenbeckstraße 1, 55131 Mainz
alexander.schuster@uni-mainz.de
Zitierweise
Schuster AK, Krause L, Kuchenbäcker C, Prütz F, Elflein HM, Pfeiffer N, Urschitz MS: Prevalence and time trends in myopia among children and adolescents—results of the German KiGGS study.
Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 855–60. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0855
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eMethodenteil, eGrafik, eTabellen:
www.aerzteblatt.de/20m0855 oder über QR-Code
Augenklinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. med. Alexander K. Schuster, MSc, Clara Kuchenbäcker, Dr. med. Heike Elflein, Prof. Dr. med. Norbert Pfeiffer
Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin: Dr. phil. Laura Krause, Dr. med. Franziska Prütz, MPH
Abteilung für Pädiatrische Epidemiologie, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Universitätsmedizin Mainz: Prof. Dr. med. Michael S. Urschitz, MSc
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