ArchivDeutsches Ärzteblatt PP12/2020Gendermedizin: Frauen erkranken anders

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Gendermedizin: Frauen erkranken anders

Richter-Kuhlmann, Eva

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Hartnäckig hält sich der Mythos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als „Männerproblem“. Bezüglich der Mortalität spielen sie jedoch bei Frauen eine ebenso große Rolle. Die 4. Bundeskonferenz Frauengesundheit nahm deshalb in diesem Jahr die Herz-Kreislauf-Gesundheit in den Blick.

Bei Frauen, die älter als 65 Jahre sind, vergehen durchschnittlich mehr als vier Stunden, bis sie nach Auftreten der ersten Symptome eines Herzinfarkts in der Notaufnahme sind. Foto: shapecharge/iStock
Bei Frauen, die älter als 65 Jahre sind, vergehen durchschnittlich mehr als vier Stunden, bis sie nach Auftreten der ersten Symptome eines Herzinfarkts in der Notaufnahme sind. Foto: shapecharge/iStock

Frauen im höheren Lebensalter nehmen einen Herzinfarkt häufig anders wahr, als er in den medizinischen Lehrbüchern beschrieben wird. Von „untypischen Symptomen“ möchte die Kardiologin Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek jedoch nicht sprechen. Übelkeit, Erbrechen, Atemnot und Schmerzen im Oberbauch oder im Schulter-, Rücken- und Unterkieferbereich seien vielmehr typisch bei einem Herzinfarkt bei Frauen. Diesen erlitten sie jedoch durchschnittlich acht bis zehn Jahre später als Männer, betonte die Gründerin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité in ihrem Vortrag auf der 4. Bundeskonferenz Frauengesundheit am 17. November in Berlin, die sich in diesem Jahr als digitale Veranstaltung dem Thema „Herz-Kreislauf-Gesundheit bei Frauen“ widmete.

Regitz-Zagrosek bedauerte auf der gemeinsam von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) veranstalteten Konferenz, dass medizinisches Wissen sowie Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten in Deutschland immer noch sehr „geschlechterneutral“ gelehrt und im klinischen Alltag angewendet würden. Dabei zeigten viele Studien, dass „Frauen anders sein können“.

Zeitverzug durch Unkenntnis

Die Folgen dieser Unkenntnis – sowohl bei den Patientinnen selbst als auch bei Ärztinnen und Ärzten sowie Rettungskräften – sei fatal: So hätte die MEDA-Studie (Munich Examination of Delay in Patients Experiencing Acute Myocardial Infarction) 2017 ergeben, dass es bei über 65-jährigen Frauen mit Herzinfarktsymptomen und einer ST-Strecken-Hebung im EKG bis zu viereinhalb Stunden dauerte, bis sie in der Notaufnahme waren. Bei gleichaltrigen Männern verging etwa eine Stunde weniger.

„Wenn Frauen einen Herzinfarkt erleiden, sterben sie häufiger daran“, betonte auch Prof. Dr. med. Heidrun Thaiss, Leiterin der BZgA, bei der Eröffnung der Konferenz. Häufig zögerten sie und riefen nicht sofort einen Notarzt. „Je genauer Frauen über Herz-Kreislauf-Erkrankungen informiert sind, umso besser können sie Erkrankungen vorbeugen und mögliche Krankheitsanzeichen richtig einordnen.“ Wichtig erscheint Thaiss deshalb die Aufklärung. „Vielen Frauen ist ihr gar Erkrankungsrisiko nicht bewusst – das wollen wir ändern“, sagte die BZgA-Leiterin weiter.

„Wir wissen ebenfalls, dass sich Frauen und Männer hinsichtlich Diagnostik und Behandlung der koronaren Herzkrankheit und der Herzinsuffizienz unterscheiden“, sagte Sabine Weiss, Parlamentarische Staatssekretärin beim BMG. Dabei wies sie unter anderem auf mittlerweile bekannte Geschlechtsunterschiede bei der bildgebenden Diagnostik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Krankenhaus hin.

Tatsächlich ließen sich bei Frauen mit stabiler Angina pectoris angiografisch seltener Obstruktionen der epikardialen Gefäße nachweisen, erläuterte die Kardiologin Regitz-Zagrosek. Herzkranzgefäße bei Frauen hätten aber häufiger eine Tendenz sich zu verkrampfen. Dies würde diagnostisch oft nicht erkannt. Zudem würden bei Frauen spontane Koronardissektionen vermehrt auftreten, vor allem zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr.

Kaum frauenspezifische Studien

Trotz der Unterschiede bezüglich der Mechanismen der Entstehung und der Ausprägung der Koronaren Herzerkrankung bei Frauen und Männern erhielten beide Geschlechter die gleiche Arzneimittelbehandlung, bemängelte die Kardiologin weiter. Viele Frauen würden auf diese Weise überdosiert. „Häufig reichen bei Frauen 40 Prozent der Dosis, um den gleichen Effekt zu erzielen“, sagte sie. So habe es sich in einer Post-hoc-Analyse gezeigt, dass die Sterblichkeit bei Herzinsuffizienz unter Digitalis-Behandlung bei Frauen größer als bei Männern war. Grundsätzlich sollten deshalb vor allem bei kleinen, älteren Frauen die Nierenfunktion überprüft werden und die Konsequenzen einer reduzierten renalen Elimination von Pharmaka bedacht werden. „Die Dosierungsangaben in Leitlinien orientieren sich meist an Männern“, so die Ärztin. Für sie ist deshalb klar: „Die Konzeption und Dosierung neuer Medikamente und Impfungen muss schon bei der Entwicklung besser an Frauen angepasst werden.“

Häufige Nebenwirkungen von Arzneimitteln könnten auf eine relative Überdosierung dieser Substanzen zurückgeführt werden. Ein großes Manko sei jedoch, dass derzeit nur zwölf Prozent der Zulassungsstudien Nebenwirkungen nach dem Geschlecht aufschlüsselten. „Das muss sich ändern“, forderte Regitz-Zagrosek.

„Auch die Rolle der Hormone und insgesamt der frauenspezifischen Risikofaktoren ist noch unzureichend untersucht“, kritisierte die Kardiologin. Diabetes mellitus, Vorhofflimmern, Schwangerschaftshochdruck, (Prae-)Eklampsie, Eierstockentfernung, Frühgeburten und vorzeitige Menopause gehörten zu diesen frauenspezifischen Risikofaktoren, die aber als solche noch zu wenig bekannt seien.

Auch der Einfluss der soziokulturellen Dimension Gender wird der Ärtin zufolge noch unterschätzt. Gender beeinflusse über Lebensbedingungen und Interaktionen der Umwelt den Organismus und den Krankheitsverlauf, aber auch das Verhalten in der Prävention, so die Kardiologin. Universitäten, Forschung, Politik und Verbände müssten die Gendermedizin systematischer unterstützen, forderte sie. Gendermedizin wolle jetzt erklären, wie sex-und genderbedingte Mechanismen und Verhaltensmuster eine sinnvolle Prävention und bessere Therapie ermöglichen können.

Sabine Weiss, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, wies in diesem Zusammenhang auf die Ressortforschung des Bundes hin. Unter dem Schwerpunkt „Berücksichtigung spezifischer Besonderheiten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung“ würden über einen Zeitraum von drei Jahren einzelne Vorhaben gefördert, die geschlechtsbedingte gesundheitliche Ungleichheiten identifizieren und die Qualität der Versorgungsangebote verbessern sollen. Ergebnisse erwarte man 2023.

Stressempfinden variiert

Zunehmend gewinnen auch die psychosozialen Aspekte an Anerkennung und Bedeutung in Herzmedizin. Doch auch hier gilt: „Frauen leiden anders an belastenden Ereignissen und negativen Gefühlszuständen als Männer.“ Dies betonte Prof. Dr. med. Karl-Heinz Ladwig, Psychokardiologe an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Technischen Universität München.

Vieles von dem, was das Herz schädige, nehme tief im Gehirn seinen Ausgang, sagte er. Manche Menschen reagierten auf Belastungen „von Haus aus“ erkennbar stärker als andere. „Auch hier gibt es klinisch bedeutsame Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die einen Einfluss auf die Krankheitsentstehung und den Verlauf haben.“ So habe Stress im Beruf oder auch in der Partnerschaft sowie Einsamkeit als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen eine noch höhere Bedeutung als bei Männern.

Neue Forschungsergebnisse bestätigten zudem fundamentale Geschlechtsunterschiede bei der zentralnervösen Verarbeitung von Stress, berichtete Ladwig. „Diese basalen Unterschiede in der Stressbewältigung und Krankheitsverarbeitung zwischen den Geschlechtern machen deutlich, dass es nach wie vor dringender Anstrengungen bedarf, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und klinischen Erfordernissen von weiblichen und männlichen KHK-Patienten in der Prävention, Diagnostik und Therapie gerecht zu werden.“

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

Genderforschung: Noch Neuland

Erst Ende des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die Gendermedizin aus der frauenspezifischen Medizin in den USA. Frauenvertreterinnen forderten dort in den 1980er- und 1990er-Jahren einen besseren Einschluss der Frauen in klinische Studien. Das erste eigenständige Dokument der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Frauengesundheit wurde 1994 auf der Women’s Health Counts verabschiedet: die Wiener Erklärung zu Frauengesundheit. In Deutschland wurde 2005 der erste Prototyp eines geschlechtersensiblen Gesundheitsberichtes veröffentlicht, der vorhandene Forschungsdaten geschlechtervergleichend aufbereitete und in einen theoretischen Rahmen einbettete.

Seit 2002/2003 gibt es Zentren für Gendermedizin in Berlin, Stockholm und Wien, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sowie geschlechterspezifische Therapieansätze thematisieren. In Berlin gründete 2003 die Kardiologin Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek das bisher einzige deutsche Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité.

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