

Videobehandlung ist offenbar auch über die Coronapandemie hinaus eine Option für viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten: Neun von zehn können sich vorstellen, sie auch nach Ende der Pandemie anzuwenden. Allerdings will dies die Hälfte der Psychotherapeuten nicht mehr so häufig tun wie während des Lockdowns. Das ergab eine Onlinebefragung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) bei rund 3 500 Psychotherapeuten zu ihren Erfahrungen mit Videobehandlungen während der ersten Welle der Pandemie. Die BPtK spricht von einem „massiven Innovationsschub“. In beachtenswerter Geschwindigkeit stellten Therapeuten ihre Praxen technisch um und meisterten die neuen Herausforderungen, ohne die die meisten Patienten während des Lockdowns gar nicht hätten versorgt werden können. Zuvor nutzten die meisten Therapeuten Videobehandlungen entweder gar nicht oder sehr zögerlich. Corona kann also als Katalysator für eine Beschäftigung mit der neuen Option bezeichnet werden. Dabei betonen alle Experten jedoch sehr deutlich: Psychotherapie in unmittelbarem persönlichen Kontakt ist und bleibt der Goldstandard. Aber Videotherapie kann eine gute Ergänzung sein für Patienten, die aus verschiedensten Gründen sonst nicht persönlich erreicht werden können oder wollen.
Die Befragung der BPtK hat Therapeuten nach ihren Erfahrungen mit Videotherapie gefragt: Danach ist die nonverbale Wahrnehmung eingeschränkt, es sind nicht alle psychotherapeutischen Interventionen möglich und sie ist deutlich anstrengender. Einer Studie von Wiederhold (2020) zufolge ist es für das Gehirn enorm anstrengend, mit dem Fehlen vieler nonverbaler Informationen umzugehen, die normalerweise helfen, das Gesagte einzuordnen. Auch die minimale zeitliche Verzögerung sowie der anhaltende Augenkontakt mit einem vergrößerten Gegenüber, der im Gehirn Bedrohungssignale auslösen kann, sind zu berücksichtigen. Selbstfürsorge kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Experten empfehlen, den Blick zwischendurch bewusst immer wieder vom Gegenüber zu lösen, mehr Pausen zwischen den Sitzungen einzuplanen, sich zu bewegen und insgesamt mehr von allen Selbstfürsorgemaßnahmen anzuwenden, die grundsätzlich empfohlen werden (siehe Seite 551).
Psychotherapeuten berichteten in der BPtK-Befragung weiter, dass sich manche Patienten nicht oder nur schlecht erreichen lassen. Dazu gehören ältere Menschen und solche, die nicht über die notwendige technische Ausstattung oder einen ungestörten Raum für die Videobehandlung verfügen. Das größte Hindernis sind laut 80 Prozent der Befragten jedoch instabile Internetverbindungen: Auf dem Land war diese bei rund 40 Prozent der Patienten nicht ausreichend, in Großstädten bei 25 Prozent. Willkommen im digitalen Drittweltland. Auch ein fehlendes Endgerät aufseiten der Patienten (50 Prozent) oder deren Überforderung mit den technischen Anforderungen (51 Prozent) machte eine Videobehandlung oft unmöglich.
Beim 37. Deutschen Psychotherapeutentag (siehe Seite 535) warnte BPtK-Präsident Dr. rer. nat. Dietrich Munz deshalb davor, dass die Digitalisierung ältere Menschen und sozial Benachteiligte von der Versorgung ausschließen kann. Ausreichende Präsenzbehandlungsangebote müssten weiterhin zur Verfügung stehen und Videotherapie dürfe kein Surrogat für eine unzureichende Bedarfsplanung sein. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Mayr, Ursula