ArchivDeutsches Ärzteblatt PP12/2020Psychoanalyse und Körper: Ein Meisterstück der Weiterbildung

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Psychoanalyse und Körper: Ein Meisterstück der Weiterbildung

Moser, Tilmann

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„In der Zwischenleiblichkeit sind wir mit unserem Körper – bevor wir überhaupt denken – immer schon auf den anderen bezogen, sodass der Leib in gewisser Weise alles ist und an der Konstitution aller Phänomene beteiligt ist. Welche Bedeutung kommt dann dieser Dimension in der psychotherapeutischen Situation zu? Wird doch oft das, was uns unmittelbar auf den Leib rückt, aus dem bewussten Gewahrsein herausgefiltert. … Ist es möglich, die Aufmerksamkeit für das zwischenleibliche Geschehen in der psychotherapeutischen Situation zu schulen?“, fragt der Einführungstext des Buches. Die positive Antwort stellt das ganze Werk dar.

Die Schulung selbst ist ein organisatorisches Kunstwerk: Der Lehranalytiker und Musiker Jörg M. Scharff als Lehrer und Supervisor brachte ein Gremium von jungen Kollegen zusammen mit folgender Anordnung: Protokollierende Teilnehmer senden oder reagieren auf lautliche, sprachliche oder visuelle Reize von Rollen spielenden Teilnehmern und überprüfen ihre leiblich-seelischen Reaktionen. Diese wurden gesammelt und in der Gruppe diskutiert, mit höchst differenzierten Ergebnissen kollektiver Wahrnehmungen. Schon dies ist eine Schulung in zwischenleiblicher Erfahrung mit regelmäßigem Austausch und Schärfung der Beobachtungen. Geschult wird sowohl die Auffassungsgabe wie die diagnostische Einordnung mit einer erstaunlichen Streubreite des Urteils. Eine solche „kleine Sequenz lässt uns den Patienten und seinen Analytiker in der analytischen Situation erleben – wie sie nicht nur miteinander reden, sondern während sie dies tun, gleichzeitig leibhaft aufeinander einwirken“.

Scharffs immense Literaturkenntnis aller seiner vorgängigen Forscher und Wegbereiter ergibt eine Summe des bereits Geleisteten, die der Autor verdichtet aufnimmt und in ein neues Lehrbuch einer sich ausdifferenzierenden Psychoanalyse verarbeitet. Aus seiner Vorbereitung dafür entstand eine immense Summe von situativen sprachlichen und gestischen Reizen, auf die die Mitglieder reagieren und initiativ werden als Sender oder Empfänger von Signalen, wie sie in jeder Psychotherapie zwischen den beiden Partnern aufeinander wirken, ja geradezu einstürmen und auf die bewusst oder unbewusst geantwortet wird. Die kollektive Erkenntnisarbeit schult und vertieft die Kenntnis leibseelischer Produktion beider und lässt sich als gemeinsame Forschung festhalten.

Scharffs umfassender Blick auf den kollektiven Lernprozess macht ihn zu einem Pionier auf den Schultern früherer Pioniere, und man staunt über die sich verbreiternden Möglichkeiten moderner Psychoanalyse. Tilmann Moser

Jörg M. Scharff: Psychoanalyse und Zwischenleiblichkeit. Klinisch-propädeutisches Seminar. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 137 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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