MEDIZIN: Korrespondenz
Silent Hypoxemia bei COVID-19: Typische Verläufe mit Implikationen für die ambulante Betreuung
Silent hypoxemia of COVID-19 pneumonia—typical courses with implications for outpatient care
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Bei COVID-19 werden teils profunde lebensbedrohliche Hypoxien ohne für den Patienten subjektiv wahrnehmbare Symptomatik beobachtet. Das Phänomen der Silent Hypoxemia ist aus anderen Kontexten nicht unbekannt, wurde aber im Zusammenhang mit COVID-19 erstbeschrieben (1, 2) und trat im eigenen COVID-19-Patientenkollektiv vermehrt auf. Einige Patienten präsentierten sich mit geringer Symptomatik, dekompensierten aber nach wenigen Stunden. Noch fehlen systematische Studien; die Pathophysiologie ist nur teilweise bekannt. Diagnostische Interpretation und ambulante Betreuung sind deshalb anspruchsvoll; fehlender Symptomdruck begünstigt das Risiko, schwere Krankheitsverläufe zu verkennen. Daher ist eine lediglich orientierende klinische Untersuchung potenziell komplikationsbehaftet.
Methode
Zur medizinischen Intervention bei Patienten mit COVID-19 wurde das Pilotprojekt „Medizinisches Einsatzteam“ (MET) der Berufsfeuerwehr Köln etabliert. Das MET wird mit erfahrenen Notärzten besetzt. Wird bei der routinemäßigen Nachverfolgung durch das Gesundheitsamt beim Patienten aufgrund des Risikoprofils und einer Symptomverschlechterung eine Krisensituation erkennbar, erfolgt die Intervention durch das MET vor Ort. Diese Fallserie beschreibt typische Verläufe von Silent Hypoxemia bei fünf Patienten (Tabelle) anhand von ambulanten und klinischen Daten und leistet einen Beitrag zur Risikostratifizierung bei COVID-19-Patienten. Beispielhaft wird im Folgenden der Verlauf bei Patient 1 ausführlich beschrieben.
Ergebnis
Patient 1 (Tabelle) berichtete im täglichen Telefonkontakt über relatives Wohlbefinden. Anamnestisch bestanden weder kardiopulmonale Vorerkrankungen noch Dauermedikation. Als isolierter Risikofaktor lag ein moderater Nikotinabusus vor (15 Zigaretten/d). Ab der 2. Erkrankungswoche berichtete der Patient über trockenen Husten, Schlafprobleme und gelegentliche Kopfschmerzen. Verneint wurden Ruhe- oder Belastungsdyspnoe, ein Arztkontakt wurde abgelehnt. Die MET-Erstvisite erfolgte am 10. Tag. Der Patient präsentierte sich mit subjektiv geringer Beeinträchtigung, diskretem Krankheitsgefühl, leichter Belastungsdyspnoe und unauffälligem pulmonalen Auskultationsbefund. Neben COVID-19-typischer Anosmie zeigte die pulmonale Sonografie beginnende B-Lines in den Arealen 4 und 6 beidseits, die vermehrte Flüssigkeitsansammlungen in pleuralen Alveolen anzeigen. Am Tag 12 präsentierte sich der Patient in leicht reduziertem Allgemeinzustand (AZ) ohne Zunahme der Dyspnoe. Pulmonalsonografisch waren in den dorsalen Anlotungen vermehrte, teils konfluierende B-Lines nachweisbar. Aufgrund der Verschlechterung von Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung (SpO2) bei progredienten B-Lines wurde zur Klinikeinweisung geraten. Der in allen Qualitäten orientierte Patient lehnte trotz Risikoaufklärung die Einweisung ab. Am Tag 13 präsentierte er sich in unverändertem AZ mit subjektivem Wohlbefinden und leichter Belastungsdyspnoe. Pulmonalsonografisch waren progrediente, konfluierende, eindrückliche B-Lines dorsobasal, mit verdickter Pleura und pleuralen Fragmentierungen zu erkennen. Diese Verschlechterung macht die stationäre Behandlung unvermeidlich, obwohl sich dies dem Patienten bei subjektivem Wohlbefinden nicht erschloss. Der Transport zur Klinik mit dem Rettungstransportwagen erfolgte unter Sauerstoffgabe. Bei Aufnahme (Tag 13, 13 Uhr) waren erhöhte Werte von Laktat-Dehydrogenase, Ferritin, D-Dimeren, C-reaktivem Protein (CRP) sowie eine Lymphozytopenie auffällig. Auf dem Röntgenbild des Thorax waren COVID-19-typische basale Infiltrate zu erkennen. Im Tagesverlauf fiel die SpO2 unter 85 % (4 L/min O2), sodass die Verlegung auf die Intensivstation erfolgte. Dort dekompensierte der Patient respiratorisch und wurde intubiert. Auf dem CT des Thorax (Tag 14) zeigten sich ausgeprägte bipulmonale Infiltrate und Konsolidierungen. Bei persistierender Hypoxämie und Horovitz-Index < 150 war seit Tag 16 die intermittierende Bauchlagerung erforderlich. Die Tracheotomie bei prolongierter Beatmung erfolgte am Tag 21. Das anschließende Weaning gelang komplikationslos; der Patient wurde am Tag 29 dekanüliert und am Tag 30 auf die Normalstation verlegt. Die Entlassung erfolgte am Tag 43 in gutem Allgemeinzustand.
Diskussion
Das Risiko einer dynamischen Verschlechterung und einer perakut respiratorischen Dekompensation machen Silent Hypoxemia zu einem kritischen Faktor bei der ambulanten Betreuung von Patienten mit COVID-19. Kennzeichnend ist eine vom Patienten subjektiv empfundene Symptomfreiheit ohne Dyspnoeempfinden – trotz teils profunder Hypoxämien. Das Dyspnoeempfinden ist pathophysiologisch komplex und multifaktoriell. Neben der Chemorezeption (Hyperkapnie, Hypoxie) sind mechanische Afferenzen der Dehnungsrezeptoren der Atemmuskulatur maßgeblich. Relatives Wohlbefinden, unauffälliger AZ und damit fehlender Symptomdruck erhöhen das Risiko, eine vital bedrohliche Situation bei COVID-19-Patienten zu verkennen. Zur Risikoeinschätzung bei Silent Hypoxemia reichen etablierte Score-Systeme zur Prognoseschätzung ambulant erworbener Pneumonie (CURB-65) nach unserer Erfahrung nicht aus. Die klinisch unmittelbare Bewertung der kognitiven Beeinträchtigung als Bewertungsparameter ist häufig nicht fassbar. Unklar ist, ob die fehlende Symptomwahrnehmung einer spezifischen Pathophysiologie der SARS-CoV-2-Infektion folgt oder Ausdruck einer hypoxisch induzierten Alteration der kognitiven Fähigkeiten ist (1, 2). Pathophysiologische Gemeinsamkeiten zwischen Acute Mountain Sickness (AMS) und Silent Hypoxemia werden aktuell postuliert (3, 4). Auf Silent Hypoxemia extrapoliert, sollten kognitive Einschränkungen der situativ-adäquaten Urteilsfähigkeit des Patienten strukturiert, etwa durch Mini-Mental-Status-Test (MMST), eingeschätzt werden. So lassen sich kognitive Alterationen beim Patienten und deren Folgen auf die subjektive Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit beurteilen. Ein normaler MMST bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass die Beurteilungsfähigkeit erhalten ist. Das MET-Projekt sieht bei Risikopatienten (Vorerkrankungen, Lebensalter, BMI) die Beurteilung des Allgemeinzustands (Ruhe- und Belastungsdyspnoe, Körpertemperatur), von Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz und -mechanik durch einen erfahrenen Arzt sowie die ergänzende pulmonale Sonografie vor. Die Sonografie ermöglichte in unserem Kollektiv die frühe Detektion von Befundmustern, die auf eine krisenhafte Verschlechterung hinwiesen, bevor diese in einer objektiv fassbaren Verschlechterung der Vitalparameter fassbar wurden, so wie dies Vetrugno et al. beschreiben (5). Die Sonografie ist zweifellos untersucherabhängig, jedoch können nach unserer Erfahrung Kollegen nach kurzer Einweisung reproduzierbare Befunde erheben. Im MET-Projekt wird das Patientenkollektiv hinsichtlich prädiktiver klinischer, anamnestischer und biometrischer Daten charakterisiert, um die ambulante Diagnostik besser an die individuelle Risikokonstellation des Patienten anzupassen.
Manuskriptdaten
eingereicht: 30. 9. 2020, revidierte Fassung angenommen: 15. 12. 2020
Zitierweise
Miller C, Stangl R, Adler C, Strohm M, Bernardo C, Lechleuthner A, Viethen A: Silent hypoxemia of COVID-19 pneumonia—typical courses with implications for outpatient care. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 8–9. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0115
Dieser Beitrag erschien online am 17. 12. 2020 (online first) auf www.aerzteblatt.de
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Berufsfeuerwehr Köln, Institut für Schutz und Rettung (Stangl, Miller, Viethen, Adler, Strohm, Bernardo, Lechleuthner), christian.miller@stadt-koeln.de
Klinik III für Innere Medizin, Herzzentrum der Universität zu Köln (Adler)
Evangelisches Krankenhaus Kalk gGmbH, Zentrum Innere Medizin (Bernardo)
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
1. | Dhont S, Derom E, Van Braeckel E, Depuydt P, Lambrecht BN: The pathophysiology of ‚happy‘ hypoxemia in COVID-19. Respir Res 2020; 21: 198 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Tobin MJ, Laghi F, Jubran A: Why COVID-19 silent hypoxemia is baffling to physicians. Am J Respir Crit Care Med 2020; 202: 356–60 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
3. | Soliz J, Schneider-Gasser EM, Arias-Reyes C, et al.: Coping with hypoxemia: could erythropoietin (EPO) be an adjuvant treatment of COVID-19? Respir Physiol Neurobiol 2020; 279: 103476 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
4. | Pun M, Hartmann SE, Furian M, et al.: Effect of acute, subacute, and repeated exposure to high altitude (5050 m) on psychomotor vigilance. Front Physiol 2018; 9: 677 CrossRef CrossRef MEDLINE PubMed Central |
5. | Vetrugno L, Bove T, Orso D, et al.: Our Italian experience using lung ultrasound for identification, grading and serial follow-up of severity of lung involvement for management of patients with COVID-19. Echocardiography 2020; 37: 625–7 CrossRef MEDLINE PubMed Central |