

Als „lernendes System“ hat das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) einen weiten Weg hinter sich gebracht. Heute wird es von allen Beteiligten positiv bewertet, innerhalb Europas ist es einzigartig. Doch zu Beginn des 2020er-Jahre muss es auf neue Herausforderungen reagieren.
Um den Anstieg der Arzneimittelausgaben zu bremsen, verabschiedete die damalige schwarz-gelbe Koalition im Jahr 2010 zwei Arzneimittelsparpakete. Mit dem ersten wurde sowohl der vom Hersteller zu zahlende Abschlag erhöht als auch ein – noch bis 2022 gültiges – Preismoratorium eingeführt. Das zweite gilt noch bis heute als eines der klügsten und effektivsten Gesetze, die das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) je auf den Weg gebracht hat: das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG).
Mit ihm reagierte die Politik auf die Kritik vieler Akteure im Gesundheitssystem daran, dass die pharmazeutischen Unternehmen den Preis der neu auf den Markt gebrachten Arzneimittel selbst festlegen können – ungeachtet ihres medizinischen Nutzens. So war die Idee des Gesetzes: Der Preis eines neuen Arzneimittels sollte sich am Zusatznutzen im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie orientieren (Kasten). Me-Too-Präparate sollten in Festbetragsgruppen einsortiert werden. Als Zugeständnis an die Pharmaunternehmen sah der Gesetzgeber vor, dass die Hersteller die Preise zumindest noch im ersten Jahr nach der Zulassung frei festlegen können.
Mit dem AMNOG waren von Beginn an viele Hoffnungen, aber auch viele Sorgen verbunden. So sorgten sich die Hersteller, dass sie dem GKV-Spitzenverband in den Preisverhandlungen unterlegen sein könnten. Und der frühere unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Dr. jur. Rainer Hess, fragte – im Hinblick auf den frühen Zeitpunkt der Nutzenbewertung: „Wann soll der wirkliche Nutzen festgestellt werden?“
Akteure sind zufrieden
Zehn Jahre später haben alle Beteiligten viel Zeit und viel Energie in die Durchführung und auch in die Verbesserung des AMNOG-Verfahrens gesteckt. 433 Beschlüsse hat der G-BA bis heute gefasst (Stand: 15. November 2020), das Bundessozialgericht hat fünf Urteile zum AMNOG gefällt und das Parlament hat elf Änderungsgesetze verabschiedet – wie im AMNOG-Report 2020 der DAK-Gesundheit aufgeführt ist. In dem Report wurden auch 45 der beteiligten Akteure um eine Einschätzung des Verfahrens gebeten. Je 92 Prozent bezeichneten es als wissenschaftlich und als transparent, 87 Prozent halten es für fair. Am Ende gaben 69,2 Prozent dem AMNOG die Schulnote „gut“, 2,6 Prozent die Note „sehr gut“ und 25,6 Prozent die Note „befriedigend“. Nur 2,6 Prozent vergaben die Note „ausreichend“.
Dr. med. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arzneimittel und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband, kritisiert gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) allerdings, dass der Gesetzgeber viele sinnvolle Vorgaben im Laufe der Jahre wieder zurückgenommen hat, wie das Wirtschaftlichkeitskriterium bei der Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie im Jahr 2013 oder ein Jahr später den Plan, auch Arzneimittel des Bestandsmarkts einer Nutzenbewertung zu unterziehen – Arzneimittel also, die schon vor Inkrafttreten des AMNOG auf den Markt gekommen waren. Positiv sieht der GKV-Spitzenverband unter anderem, dass – trotz zwischenzeitlicher Pläne des BMG, dies zu ändern – die Erstattungspreise öffentlich geblieben sind. Diese Transparenz sei ein hohes Gut.
Positive Bilanz
Der Vorstandsvorsitzende des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa), Han Steutel, resümiert gegenüber dem DÄ: „In den letzten zehn Jahren haben wir einen Innovationsschub bei Arzneimitteln gesehen – Hepatitis C ist heilbar, Krebs immer besser behandelbar – ohne dass ein großer Kostenschub eingetreten ist. Viel besser geht es aus Sicht des Gesundheitssystems nicht. In diesen zehn Jahren des medizinischen Fortschritts hat das AMNOG gegolten. Und das zeigt, dass es funktioniert.“
Auch der Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner von den Universität Bielefeld, der zusammen mit seinem Team den AMNOG-Report verfasst, zieht eine „sehr positive“ Bilanz des Gesetzes, wie er dem DÄ erklärt. „Das AMNOG hat sich als letztes großes Einspargesetz in den vergangenen zehn Jahren als sehr belastbares, funktionales und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – faires Verfahren etabliert“, sagt Greiner, der auch stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitssystem ist.
Mit dem AMNOG wurden vom Gesetzgeber Einsparungen in Höhe von zwei Milliarden Euro pro Jahr angestrebt. „Dieses Ziel wurde im Jahr 2018 erstmals erreicht, als die Einsparungen bei 2,6 Milliarden Euro lagen“, erklärte der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, auf einem virtuellen Kongress des Bundesverbands Managed Care (BMC) Mitte Januar. 2019 seien die Einsparungen sogar auf mehr als 3,5 Milliarden Euro angestiegen. Diese Einsparungen orientieren sich allerdings an den Preisen, die die Hersteller im ersten Jahr frei wählen können.
Der Markt hat sich verändert
Zugleich liefert das AMNOG einen Überblick über den Zusatznutzen, den die neuen Arzneimittel in die medizinische Versorgung gebracht haben. In seinen 433 Beschlüssen erkannte der G-BA drei Mal einen erheblichen Zusatznutzen, 92 Mal einen beträchtlichen und 70 Mal einen geringen Zusatznutzen. In 80 Fällen konnte der Zusatznutzen nicht quantifiziert werden und in 188 Fällen wurde kein Zusatznutzen gefunden (Grafik 1). „Wir als Kliniker haben durch das AMNOG sehr viel mehr Informationen über neu auf den Markt gekommene Arzneimittel als wir früher hatten“, betonte Ludwig. „Innerhalb Europas werden wir wegen des AMNOG häufig beneidet.“ Zugleich kritisierte der AkdÄ-Vorsitzende, dass nur etwa 20 Prozent der Arzneimittel einen erheblichen oder beträchtlichen Zusatznutzen erhalten haben. „Das ist eine relativ ernüchternde Zahl“, meinte er.
Im Arzneiverordnungs-Report (AVR) 2020 weist Ludwig darauf hin, wie sehr sich der deutsche Arzneimittelmarkt in den letzten zehn Jahren verändert hat. Im Jahr 2010 kamen demnach 23 Arzneimittel mit neuem Wirkstoff in Deutschland auf den Markt. Vier von ihnen waren Onkologika, sechs waren Orphan-Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen. Acht Jahre später kamen 37 neue Arzneimittel in Deutschland auf den Markt. 14 von ihnen waren onkologische oder hämatologische Medikamente, 13 waren Orphan Drugs. Viele dieser Arzneimittel seien in beschleunigten Verfahren zugelassen worden, heißt es im AVR.
„Mittlerweile werden 25 Prozent der neu auf den Markt kommenden Medikamente als Arzneimittel mit bedingter Zulassung, mit Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen oder als Orphan-Arzneimittel für seltene Leiden auf den Markt gebracht“, erklärte der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Prof. Josef Hecken, im Dezember auf einer virtuellen Konferenz des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH). „Wir erleben, dass wir zurzeit in neue Therapieoptionen vorstoßen, bei denen wir mit dem Goldstandard der Arzneimittelbewertungen an Grenzen stoßen: den randomisierten, kontrollierten Studien.“ Denn durch den Trend zur personalisierten Präzisionsmedizin würden die Patientengruppen immer kleiner. Zudem gebe es manchmal keine zweckmäßige Vergleichstherapie. „Für diese Arzneimittel haben wir eine relativ schwache Evidenzbasis, weil es bei ihnen objektive Grenzen der Evidenzgenerierung gibt“, betonte Hecken. Deshalb hätten 71 Prozent der Orphan-Arzneimittel bei der Erstbewertung einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen vom G-BA erhalten (Grafik 2).
Um dieses Problem zu lösen, hat der G-BA im vergangenen Jahr das AMNOG-Verfahren weiterentwickelt und die anwendungsbegleitende Datenerhebung eingeführt. „Wir sagen jetzt: Wir geben den Arzneimitteln einen Vertrauensvorschuss und machen die Nutzenbewertung nach drei bis fünf Jahren“, so Hecken. In dieser Zeit werden mit den Mitteln der evidenzbasierten Medizin Daten aus der Versorgung nach genauen Vorgaben des G-BA erhoben. Das erste Verfahren der anwendungsbegleitenden Datenerhebung hat der G-BA im Juli 2020 auf den Weg gebracht: für das Gentherapeutikum Zolgensma, das zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie zugelassen ist. Der G-BA bestimmt dabei im Vorfeld, welche Daten erhoben werden und wer diese Daten erheben darf.
Arzneimittelausgaben steigen
„Für solche hochinnovativen, teuren und komplexen Arzneimittel können die Daten nur in speziellen Zentren von spezialisierten Ärzten mithilfe von validierten Meldebögen erhoben werden“, sagte Hecken. Die Daten werden dann in Indikationsregister übertragen, in denen verschiedene Wirkstoffe miteinander verglichen werden.
Zolgensma steht auch in anderer Hinsicht für eine Entwicklung im Arzneimittelmarkt: Die Medikamente werden immer teurer. In den USA lag der Listenpreis für Zolgensma im vergangenen Jahr bei 1,9 Millionen Euro. Damit war es das teuerste Arzneimittel der Welt. Im vergangenen Jahr schlugen zudem viele deutsche Krankenkassen Alarm, weil die Arzneimittelausgaben erneut deutlich angestiegen waren: um 5,4 Prozent auf 43,4 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 lagen sie noch bei etwa 30 Milliarden Euro.
Die Hersteller verweisen darauf, dass die Ausgaben im Arzneimittelbereich in den vergangenen zehn Jahren weniger stark angestiegen seien als die Ausgaben in anderen großen Leistungsbereichen. Dennoch zeigt sich, dass das Problem steigender Arzneimittelausgaben durch das AMNOG nicht gelöst ist. Im AVR steht die Erklärung dafür: „Seit dem Inkrafttreten des Preismoratoriums von 2010 sind Umsatzsteigerungen nur noch durch entsprechend höhere Preise allein bei neu eingeführten Produkten möglich.“ Falk Osterloh
Interviews mit Prof. Josef Hecken,
Dr. med. Antje Haas und
Han Steutel im Internet:
www.aerzteblatt.de/amnog10
oder über QR-Code
AMNOG-Verfahren
Mithilfe des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) soll sich der Preis eines neuen Arzneimittels an seinem Zusatznutzen im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie orientieren. Der Hersteller muss diesen Zusatznutzen in einem umfangreichen Dossier nachweisen, das er dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vorlegt. Darin wird das neue Arzneimittel mit der zuvor vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie verglichen. In der Folge bewertet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des G-BA innerhalb von drei Monaten, ob ein Zusatznutzen vorliegt. Nach weiteren drei Monaten legt der G-BA im Rahmen der frühen Nutzenbewertung seinen Beschluss vor. Neben dem IQWiG können auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), die Fachgesellschaften und der Hersteller Stellungnahmen abgeben. Dem G-BA stehen fünf Kategorien zur Festlegung des Zusatznutzens zur Verfügung: erheblich, beträchtlich, gering sowie nicht quantifizierbar und nicht belegt.
Arzneimittel, für die kein Zusatznutzen gefunden wurde, werden in eine Festbetragsgruppe einsortiert. Bei allen anderen Arzneimitteln führen der Hersteller und der GKV-Spitzenverband innerhalb von weiteren sechs Monaten Preisverhandlungen auf der Basis des G-BA-Beschlusses. Der verhandelte Erstattungsbetrag wird ab dem zweiten Jahr nach Marktzulassung von den Krankenkassen bezahlt. Können sich die Verhandlungspartner nicht einigen, legt die AMNOG-Schiedsstelle innerhalb von drei Monaten einen Preis auf der Basis europäischer Referenzpreise fest, der rückwirkend ab Beginn des zweiten Jahres gilt.
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.