ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2021Serious Games: Spielen um Leben und Tod

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Serious Games: Spielen um Leben und Tod

Reichardt, Alina

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Mit Computer oder Handy können Mediziner wichtige Fähigkeiten erlernen, ohne Menschen zu gefährden. Sie können digitale Praxen führen oder Patienten spielerisch eine gesunde Lebensweise vermitteln. Experten prognostizieren Spielen mit Lerneffekt eine große Zukunft im Gesundheitssektor.

Foto: a/iStock [m]
Foto: a/iStock [m]

Die Notaufnahme ist voll besetzt. Gerade erst hat man eine ohnmächtige Patientin in den letzten verfügbaren Schockraum gebracht, da dröhnt das Martinshorn vor dem Eingang und übertönt das beständige Piepen der medizinischen Geräte. Jetzt muss es schnell gehen. Doch was ist zu tun?

Szenen wie diese simuliert die virtuelle Notaufnahme Emerge. Das sogenannte Serious Game, ein Spiel mit ernsthaftem Hintergrund also, soll vor allem Medizinstudierende auf die zahlreichen Herausforderungen einer realen Notaufnahme vorbereiten.

Gezielt die richtigen Fragen stellen, die Patientenakte im Auge behalten, Laborberichte beauftragen, Medikamente verordnen, „aber auch mit Zeitdruck umgehen und richtig Priorisieren sollen angehende Medizinerinnen und Mediziner hier spielerisch trainieren“, erklärt Prof. Dr. med Tobias Raupach.

2011 entstand die Idee für das Serious Game, das Raupach, damals noch Leiter des Bereichs Medizindidaktik und Ausbildungsforschung an der Universitätsmedizin Göttingen, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) entwickelte und schließlich den Softwareentwickler Patient Zero Games für die technische Umsetzung an Board holte. Seit 2015 gehört das digitale Notaufnahmen-Training in Göttingen zum Pflicht-Curriculum.

„Das Ziel einer solchen Gamification ist zum einen die Motivation. Die Spieler sollen Spaß haben an dem, was sie da tun, und dabei etwas lernen. Aber es ist eben auch die gefahrlose Vermittlung von wichtigen Fähigkeiten, die man in der Praxis so nicht trainieren kann“, sagt Raupach.

Größere Betroffenheit

„In der virtuellen Notaufnahme kann in seltenen Fällen auch mal ein Patient versterben, zum Beispiel, weil ein Herzinfarkt nicht diagnostiziert wurde. Die betroffenen Studenten merken sich das sehr gut und sind viel betroffener als bei einem Fall, den sie in einem Buch gelesen haben.“ Zehn Einheiten in der virtuellen Notaufnahme sollen einen mindestens genauso großen Lerneffekt haben wie zehn Stunden problemorientierter Kleingruppenunterricht, ergab eine von Raupachs Untersuchungen in Göttingen.

Seit November leitet der Kardiologe das neu gegründete Institut für Medizindidaktik am Universitätsklinikum Bonn und will auch weiter mit Serious Games arbeiten und diese in die medizinische Aus- und Weiterbildung integrieren.

Doch nicht nur hier haben die lehrreichen Spiele in den letzten Jahren Einzug gehalten. „Das Potenzial von Serious Games ist riesig. Sei es in der schulischen oder beruflichen Bildung, deren Stellenwert in unserer Wissensgesellschaft weiter zunehmen wird, oder in der Medizin“, sagt Felix Falk, Geschäftsführer von Game, dem Verband der deutschen Games-Branche. „Die meisten Serious Games werden von eher kleineren Entwickler-Studios umgesetzt, die hierfür direkt mit Unternehmen oder Hochschulen zusammenarbeiten“, erklärt Falk. Bisher sei der Umsatz mit solchen Spielen deutlich geringer als mit klassischen Games, aber das dürfte sich in den nächsten Jahren ändern.

Eine Seniorin steuert ein digitales Motorrad über die Landstraße. Mithilfe der memoreBox, einer Videospielkonsole, die Bewegungen vor dem Bildschirm erfasst, können ältere Menschen ihre mobilen und kognitiven Fähigkeiten stärken. Foto: RetroBrain R&D
Eine Seniorin steuert ein digitales Motorrad über die Landstraße. Mithilfe der memoreBox, einer Videospielkonsole, die Bewegungen vor dem Bildschirm erfasst, können ältere Menschen ihre mobilen und kognitiven Fähigkeiten stärken. Foto: RetroBrain R&D

9,2 Milliarden Dollar Umsatz

„2016 lag der Umsatz mit Serious Games in Deutschland bei 112 Millionen Euro. Bis 2023 soll er auf rund 370 Millionen Euro steigen, das entspricht einer jährlichen Steigerung von 20 Prozent“, so Falk. Auch weltweit stehen die Zeichen auf Wachstum. So soll der globale Umsatz mit Serious Games bis 2023 auf rund 9,2 Milliarden US-Dollar wachsen.

Nicht alle Serious Games werden mit dem Ziel entwickelt, finanzielle Gewinne zu erzielen. Seine virtuelle Notaufnahme etwa, zumindest die Version, mit der seine Studenten trainieren, sei nicht zur kommerziellen Vermarktung gedacht, betont Tobias Raupach. In Bonn will er an einer Weiterentwicklung arbeiten, auf die perspektivisch auch andere medizinische Fakultäten Zugriff haben sollen.

Aber auch für Entwickler, die sich auf medizinische Spiele spezialisiert haben und mit ihren Produkten Geld verdienen möchten, dürfte es seit Herbst 2020 neue Anreize geben. Erstmals haben sie die Möglichkeit, sich mit ihren Smartphone-Anwendungen für eine Registrierung als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) zu bewerben.

Werden sie in den DiGA-Katalog aufgenommen, können Ärztinnen und Ärzte theoretisch auch Serious Games auf Kosten der Krankenkasse verschreiben. „Serious Games können therapeutisch und präventiv genutzt werden. Ich sehe keinen Grund, warum eine App, die hoch spezifisch für eine Krankheit entwickelt wurde, nicht auf Rezept verordnet werden sollte“, sagt Ralph Stock, Gründer und Geschäftsführer von Serious Games Solutions – dem nach eigenen Angaben ältesten Serious-Games-Entwickler Deutschlands.

„Wir machen das schon seit 1993“, so Stock. „Der erste Auftrag im medizinischen Bereich war für den Anbieter eines Antibiotikums. Das Spiel sollte Ärzten die Funktionsweise näherbringen und wurde damals noch auf Diskette verteilt.“ Mittlerweile hat seine Firma 30 Mitarbeiter und zwei Studios, eins in Berlin, eins in Tübingen.

Zum Portfolio von Serious Game Solutions zählt heute etwa eine App, die Menschen über 50 Jahren mit wenig Bezug zu den Themen Ernährung und Bewegung eine Lebensstiländerung schmackhaft machen soll. Auf einer Beispielabbildung im Netz springt ein Eichhörnchen über eine von Sonnenblumen gesäumte Straße, knallige Farben und niedliche Tiere.

Belohnung für jeden Schritt

„Die Anwendung kommuniziert dem Nutzer gar nicht ‚Ändere deinen Lebensstil!‘, die meisten würden dann sofort abbrechen“, sagt Stock. Stattdessen sei das Spiel wie eine Farm aufgebaut, für deren Bewirtschaftung Münzen nötig sind. „Und man erhält für jeden Schritt, den man am Tag läuft, eine Münze. Je mehr man läuft, desto mehr Funktionen sind im Spiel verfügbar – ganz klassische Motivation“, erklärt Stock das Konzept des Serious Games.

Digitale Spritztour. Mithilfe der memore Box, einer Videospielekonsole für Senioren, können ältere Menschen nicht nur Motorrad fahren, sondern auch kegeln, tanzen oder auf einem digitalen Fahrrad Zeitungen austragen.
Digitale Spritztour. Mithilfe der memore Box, einer Videospielekonsole für Senioren, können ältere Menschen nicht nur Motorrad fahren, sondern auch kegeln, tanzen oder auf einem digitalen Fahrrad Zeitungen austragen.
Krebszellen auf dem Smartphone jagen. Die Anwendung Boosters soll krebskranken Kindern sowie ihren Familien und Freunden beim Umgang mit der Krankheit helfen.
Krebszellen auf dem Smartphone jagen. Die Anwendung Boosters soll krebskranken Kindern sowie ihren Familien und Freunden beim Umgang mit der Krankheit helfen.
Routine in der virtuellen Notaufnahme üben. In der Anwendung Emerge fordern echte Fälle schnelles Reaktionsvermögen und sichere Diagnosen von Medizinerinnen und Medizinern in Aus- und Weiterbildung – ohne Risiko für reale Patienten.
Routine in der virtuellen Notaufnahme üben. In der Anwendung Emerge fordern echte Fälle schnelles Reaktionsvermögen und sichere Diagnosen von Medizinerinnen und Medizinern in Aus- und Weiterbildung – ohne Risiko für reale Patienten.
Eine eigene Praxis auf dem Computer führen. Angehende Ärztinnen und Ärzte können mit dem Serious Game Praxisraum die Herausforderungen einer eigenen Praxis kennenlernen und verschiedene Szenarien simulieren.
Eine eigene Praxis auf dem Computer führen. Angehende Ärztinnen und Ärzte können mit dem Serious Game Praxisraum die Herausforderungen einer eigenen Praxis kennenlernen und verschiedene Szenarien simulieren.

Auch ein Spiel, das krebskranke Kinder unterstützt, mit gleichaltrigen Betroffenen in Kontakt zu kommen, und eins, das Patienten mit Angst vor Spinnen hilft, hat Stocks Firma entwickelt. Auftraggeber sind Universitäten, Forschungseinrichtungen, Pharmafirmen. „Das Know-how muss immer vom Kunden kommen“, so Stock.

Für das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) entwickelten Stock und sein Team das Serious Game Praxisraum. Es richtet sich an Medizinstudierende, die sich das Spiel seit Oktober kostenfrei als App herunterladen und dann Aufbau und Organisation einer Vertragspraxis durchspielen können.

Auch hier geht es darum, Inhalte zu transportieren, die sich in der Praxis nur schwer konkret vermitteln lassen. „Das Spiel soll bei jungen Ärztinnen und Ärzten Interesse für eine spätere Niederlassung wecken. Da Studium und Weiterbildung nach wie vor weitgehend im Krankenhausumfeld stattfinden, bestehen nicht selten Wissensdefizite und Berührungsängste“, sagt Markus Leibner, Zi-Fachbereichsleiter Ökonomie und zuständig für die Entwicklung der App.

Für Praxisraum werden Daten verwendet, die das Zi in realen Praxen erhoben hat. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) Nordrhein, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Westfalen-Lippe, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Hessen steuerten ihr Fachwissen für die grundlegende Ausgestaltung bei. „Diese KVen bilden heute den Redaktionsbeirat, der die inhaltlichen und fachlichen Festlegungen auch künftig mit uns treffen wird“, ergänzt Leibner.

Digitale Praxisgründung

So zum Beispiel, mit wie hohen Kosten angehende Mediziner zu rechnen haben, wenn sie auf dem Land, in einem Vorort oder mitten in einer Großstadt neu gründen, welche Vorteile eine Praxisübernahme bietet, worauf sie bei der Einstellung von Personal achten sollten und wie sich die Abrechnung organisieren lässt.

Ganz im Sinne der Gamification können Spieler mit ihrer Praxisführung Sterne verdienen, maximal drei in jedem Bereich. „Zum Beispiel dafür, wie viele Patienten behandelt wurden, wie viel ich in medizinische Ausrüstung investiert habe, wie stark ich mein Personal weitergebildet habe und sogar dafür, ob ich das richtige Maß an Work-Life-Balance getroffen habe“, erklärt Ruben Zwierlein. Der Wirtschaftsingenieur ist derzeit Arzt in Weiterbildung im Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck und war als Teil einer studentischen Probandengruppe an der Entwicklung von Praxisraum beteiligt sowie Teil einer Lübecker Arbeitsgruppe, deren Ergebnisse teilweise in das Spiel einflossen.

„Ich freue mich sehr, dass es dieses Spiel gibt, es lenkt den Fokus auf eine sehr wichtige Thematik“, sagt Zwierlein. Für die Weiterentwicklung des Spiels empfiehlt er sogar, noch stärker ins Detail zu gehen. „Zum Beispiel wäre es für mich als angehenden niedergelassenen Arzt auch wichtig, welche Infrastruktur es für meine Kinder und meine Partnerin gibt, also Schulen, Kindergärten, Verkehrsanbindung.“

Förderung von der Regierung

Die vielen Aspekte einer Praxisgründung trotz ihrer Komplexität in ein Spiel zu verpacken, sei eine bewusste Entscheidung gewesen, so Leibner. „Serious Games sind ein wachsender Bereich mit guten Möglichkeiten der Wissensvermittlung in Form von virtuell erlebbaren Inhalten“, ist er überzeugt. Eine Weiterentwicklung ist bereits geplant. „Wir wollen die App zukünftig noch besser für die Nutzung in der Ausbildung an Medizinfakultäten ausrichten“, so Leibner. 800 Downloads verzeichnet die App aktuell im Playstore von Google, doppelt so viele im Apple App-Store.

Was für eine Anwendung mit einer überschaubaren und sehr spezifischen Zielgruppe schon ein beachtlicher Erfolg ist, würde sich für eine Entwicklerfirma ohne Unterstützung eines finanzstarken Trägers wohl kaum lohnen. Dass dennoch immer mehr Spielemacher auch ohne externe Hilfe in den Gesundheitssektor drängen, spricht für das Potenzial, dass viele in diesem Bereich sehen. Seit Oktober können sie dabei auf finanziellen Beistand aus einer ungewöhnlichen Quelle hoffen: dem Bundesverkehrsministerium, das auch für die digitale Infrastruktur verantwortlich ist.

In Europa ist Deutschland der größte Markt für Computerspiele, rangiere weltweit auf Platz fünf, heißt es dort. Damit die Games hierzulande nicht nur Umsätze generieren, sondern deutsche Entwickler daran einen Anteil haben, greift die Behörde von Andreas Scheuer (CSU) ihnen mit 250 Millionen Euro unter die Arme.

Nach einer Pilotphase im Jahr 2019 steht seit Oktober allen deutschen Entwicklern die Möglichkeit eines Förderantrags offen. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen sollen davon profitieren − genau solche also, die hierzulande vorrangig auch Serious Games produzieren.

Auch die Software-Entwickler von Emerge bekamen aus Scheuers Topf eine Förderung – knapp 123 000 Euro. Mit dem Spiel Emerge Home, einer von der Hochschullehre unabhängigen Weiterentwicklung des Spiels, wollen sie die virtuelle Notaufnahme auf den Smartphone-Bildschirm holen und auch Nichtmedizinern öffnen, ist auf den Internetseiten des BMVI zu lesen.

Noch sind sie als Anbieter eines medizinischen Serious Games eine Besonderheit unter den Förderprojekten. Von mittlerweile knapp 280 „lassen sich nach erster Einschätzung 22 Projekte dem Begriff Serious Games zuordnen“, erklärt ein BMVI-Sprecher auf Anfrage. Einen starken medizinischen Bezug hätten eine Handvoll.

Eines davon ist memorePark, eine Videospielesammlung, die bei der Parkinsontherapie unterstützen soll und eine Förderung in Höhe von knapp 144 000 Euro bekam. Basis der Sammlung ist die sogenannte memoreBox, eine Art Spielekonsole für Senioren, 2014 entwickelt vom Hamburger Start-up Retrobrain, einer Ausgründung der Humboldt-Universität in Berlin, und mittlerweile im Portfolio von mehr als 200 Pflegeheimen in ganz Deutschland.

Mithilfe des Geräts brausen Seniorinnen und Senioren auf einem Motorrad über die Landstraße, lassen Kugeln über die Kegelbahn sausen oder radeln als Postbote durch die Straßen und teilen Zeitungen aus. Die Box projiziert all das als virtuelle Umgebung auf den Fernseher. Die Spielerinnen und Spieler stehen davor, drehen, beugen und wiegen sich. Die Box erfasst die Bewegung und übersetzt sie in das Spiel. Das soll kognitive und motorische Fähigkeiten erhalten und stärken.

Ein Erfolgsrezept. Mittlerweile ist Retrobrains Erfindung mehrfach ausgezeichnet. Mediziner, Pflegepersonal und Forschende unter anderem vom UKE und der Berliner Charité erprobten die positiven Effekte auf die Spieler. Im Rahmen des Präventionsgesetztes fördert die Barmer Einsatz und Erforschung in zahlreichen Senioreneinrichtungen.

„Der Fokus liegt darauf, was die Menschen noch tun können, und nicht darauf, was sie nicht mehr können“, betont Retrobrain-Geschäftsführer Adalbert Pakura. „Das Spielerische soll der Kern des Handelns sein. Die Seniorinnen und Senioren sollen freiwillig mitmachen und Spaß daran haben.“

Virtual Reality für Senioren

Jedes Spiel ist etwa drei Minuten lang. „Die Forschung hat gezeigt, dass diese Zeitspanne in etwa der Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeit der Seniorinnen und Senioren in einem Pflegeheim entspricht“, so Pakura. Einige seien etwas schneller, andere etwas gemächlicher. Kegeln ist der unangefochtene Favorit unter den Spielen. „Das erweckt Erinnerungen an den früheren Kegelklub, wir haben mittlerweile aber auch Tanzen und Singen in den Katalog aufgenommen“, ergänzt Pakura.

Bislang kommt die memoreBox nur in Pflegeeinrichtungen zum Einsatz, langfristig sollen Senioren sie auch zu Hause benutzen können, und auch eine Zertifizierung als DiGA oder DiPA (digitale Pflegeanwendung) ist laut Pakura denkbar. Und er plant noch weiter: „Wir erproben bei den Senioren auch schon Spiele mit Virtual-Reality-Brillen (VR). Das Feedback war super, mit so viel Zustimmung hatte ich gar nicht gerechnet.“ Mithilfe der VR-Technologie können die Spieler ganz in die digitale Umgebung abtauchen. So könne man die Spiele möglicherweise noch besser an spezielle Bedürfnisse anpassen, hofft Pakura. „Wir stehen noch ganz am Anfang, was das Potenzial der digitalen Gesundheitsvorsorge angeht. Die Pandemie hat gezeigt, dass es noch viel mehr solcher Angebote braucht.“

Überlebensgroße 3D-Projektion

Das große Potenzial der Serious Games im Gesundheitssektor verdeutlicht auch das zunehmende Engagement international agierender Unternehmen. Für Aufsehen sorgte im vergangenen Jahr etwa die Übernahme eines US-Spieleentwicklers durch die in München ansässige Firma Brainlab.

Das Team um Gründer Stefan Vilsmeier bietet auf verschiedene Fachrichtungen zugeschnittene Soft- und Hardware sowie Cloud-lösungen für den Gesundheitssektor an. Das gesamte Portfolio von überlebensgroßen 3D-Projektionen von Patientenscans, mit denen Behandler direkt interagieren können, über ganze per Fingertipp navigierbare OP-Säle klingt für Laien nach Science Fiction und umfasst nun auch eine Serious-Games-Sparte.

Mit dem US-Start-up Level Ex erwarb Brainlab 2020 einen Spezialisten für Smartphone-Spiele, die sich an medizinisches Personal wenden. Kardiologen, Pulmologen, Anästhesisten und Atemwegsspezialisten sowie Gastroenteorologen können mit den in gängigen App-Stores kostenlos verfügbaren Anwendungen ihre Fähigkeiten trainieren.

„Darüber hinaus gibt es einzelne COVID-19-Level, die für einige der Anwendungen veröffentlicht wurden“, sagt Vilsmeier. In diesem Jahr soll darüber hinaus ein neues Spiel für den Bereich Dermatologie erscheinen. Über 700 000 medizinische Fachkräfte nutzen die Anwendungen laut Brainlab aktuell.

Schon bei der Entwicklung wird nichts dem Zufall überlassen. Jeder Schritt wird von einem Tross von 150 medizinischen Beratern unterstützt, damit auch der kleinste Ablauf korrekt dargestellt wird. Hinter den Anwendungen stehen teils große Namen von Merck, Philips und Pfizer bis zur American Heart Association oder dem Translational Research Institute for Space Health.

„Serious Games sind noch ein recht junger, aber gigantischer Wachstumsmarkt“, ist auch Vilsmeier überzeugt. Bislang dominierten zwar Bildungsangebote für Schule und Beruf den Markt, aber gerade im Gesundheitswesen gebe es viele denkbare Anwendungen mit viel spielerischem Potential.

Chirurgen-Training in der Cloud

Gemeinsam mit Level Ex stellte Brainlab erst im Oktober eine neue chirurgische Trainingsplattform vor, die Chirurgen die Möglichkeit gibt, über eine Cloud virtuelle Eingriffe mit anderen Ärzten, Studierenden oder Vertriebsmitarbeitern über gängige Videokonferenz-Plattformen durchzuführen.

„Die zugrunde liegende Technologie ist eine neue Cloud-basierte Spielplattform“, erklärt der Brainlab-Gründer. Bislang sei diese Stufe der Cloud-Gaming-Technologie den großen Spiel-Streaming-Diensten vorbehalten. „Unsere Plattform stellt die erste Anwendung dieser Technologie im Gesundheitswesen dar.“ Alina Reichardt

3 Fragen an . . .

Dorothee Bär, Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung

Foto: Tobias Koch
Foto: Tobias Koch

Das Verkehrsministerium bietet ein Förderprogramm für Computerspiele an. Auch Serious Games mit Gesundheitsbezug können Geld erhalten. Wie schätzen Sie das Potenzial dieser Sparte ein?

Gamification wird noch viele Lebensbereiche erschließen und dort weiteren Mehrwert bringen. Serious Games im medizinischen Bereich sind ein Beispiel dafür. Wir stehen hier noch am Anfang. Das Potenzial ist aber sehr groß – sei es bei der Rehabilitation von Patientinnen und Patienten oder etwa bei der Ausbildung von medizinischem Personal.

Seit Herbst vergangenen Jahres gibt es die ersten Apps auf Rezept (DiGA). Allerdings umfasst der Katalog bisher erst wenige Anwendungen. Kann die neue Computerspieleförderung auch in diesen Prozess Bewegung bringen?

Mit der Computerspieleförderung investieren wir in eine Schlüsselbranche und Technologie, die sich noch stark weiterentwickeln wird – und zwar weit jenseits dessen, was die meisten Menschen heute unter Games verstehen. Die Computerspieleförderung hat das Potenzial, hier entscheidende Impulse zu setzen.

Bislang gibt es nur wenige Anbieter, die Serious Games mit medizinischem Hintergrund entwickeln, da diese kommerziell meist nicht mit konventionellen Games mithalten können. Wäre hier eine Sonderförderung denkbar?

Die Computerspieleförderung betrifft ein sehr dynamisches Feld – deswegen müssen wir auch bei den Maßgaben für die Förderung stets aktuelle Entwicklungen im Blick behalten. Das könnte auch umfassen, für Games mit speziellem gesellschaftlichen Nutzen eine besondere Kategorie der Förderung vorzusehen.

Was ein Serious Game können soll

Seit 2018 gibt es beim Deutschen Institut für Normung (DIN) sogar ein Papier, das Standards für die „ernsthaften Spiele“ festlegt, eine sogenannte DIN-SPEC, die als Vorläufer für eine Norm dienen kann. „Serious Games sind digitale Spiele, die nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern zusätzlich ein charakterisierendes Ziel verfolgen“, heißt es dort. Ein Lerneffekt etwa, eine Verhaltensänderung oder auch die Sensibilisierung für relevante Themen „wie Gesundheit, Religion, Klima oder Energie“.

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