ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2021COVID-19-Aufklärung: Das Glas ist mehr als halbvoll

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COVID-19-Aufklärung: Das Glas ist mehr als halbvoll

Maibach-Nagel, Egbert

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Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur
Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur

Kein Tag ohne Corona: Politiker kennen kaum noch andere Themen. Journalisten rühren im Pandemietopf auf der Suche nach Neuigkeiten: Sondersendung folgt auf Sonderausgabe, die Ergebnisse sind mal mehr, oft weniger sachlich. Die zunehmend angespannten Bürger versuchen, zwischen Glauben, Unglauben, Angst und Wut Schritt zu halten.

Unter solchen Vorzeichen wirkt es wohltuend, wenn jemand wie Infektiologin Prof. Dr. med. Marylyn Addo vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor der Bundespressekonferenz in Sachen SARS-CoV-2-Bekämpfung endlich einmal erklärt, „das Glas ist mehr als halbvoll“. Haben wir das wirklich richtig gehört?

Zuversicht ist in Pandemiezeiten scheinbar selten, vor allem eine, die sachlich nachvollziehbar begründet wird. Was Addo in diesem Fall meinte, sind die Leistungen der Fachwelt seit Beginn der Pandemie: Innerhalb eines knappen Jahres ist es Forschung und Industrie – unterstützt durch staatliche Vorfinanzierung und Organisation – immerhin gelungen, in weltweiter Anstrengung gleich mehrere Impfstoffe zu entwickeln, zu prüfen und regelgerecht durch die Zulassung zu bringen. So etwas braucht sonst ein Vielfaches an Zeit.

Mehr noch: Neben den bisherigen Vakzinen soll noch eine ganze Reihe weiterer Impfstoffkandidaten hinzukommen. Eigentlich ein Erfolg ohnegleichen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) spricht von einer bisher einzigartigen Impf-„Kampagne“, die uns einen Weg durch die Pandemie aufzeigt. Zieht man mal Spahns politische Dekoration ab, dann liegt die Hamburger Infektiologin sicherlich nicht falsch, die breite Öffentlichkeit einmal daran zu erinnern, was hier und heute tatsächlich passiert.

Dass der Weg durch die Pandemie kein leichter sein wird, war zu erwarten. Selbst wer seine COVID-19-Angst durch Verharmlosung in Schach halten will, muss sich angesichts der weltweit mehr als 2,1 Millionen Coronatoten inzwischen fragen, was es hilft, das ganze als „Grippe“ abzutun. Ob allerdings das inzwischen fast obligate „Hätte-wäre-Könnte“ dazu beiträgt, uns auf der Wegstrecke aus dieser Misere zu beschleunigen, wird mit Recht hinterfragt. Kein Wunder, denn mit Blick zurück läuft es sich schwerer. Und dass der Wettlauf zum Impfen durch wahlkampfmotivierte politische Schauläufer an Rasanz gewinnen soll, ist abstrus.

Sachlich betrachtet: Wir laufen nicht gegen-, sondern miteinander. Wir haben das Ziel vor Augen, das Virus und seine Mutationen hinter uns zu lassen. Ganz sicher sind das – mit Spahns Worten ausgedrückt – noch etliche „harte Wochen“, die da auf uns zukommen. Aber die füllen wir besser mit dem Erarbeiten klarer Konzepte zum geordneten Einstieg in den Ausstieg aus dem Lockdown, mit anpassungsfähiger Agilität beim Impfen und idealerweise mit der Schaffung wirkungsvoller Instrumente im Falle einer Rückkehr dieser, oder auch einer anderen Pandemie.

Zu tun gibt es – disziplinär wie interdisziplinär – genug: Impfforschung und -logistik, die Aufarbeitung von Daten, die Schaffung von Registern, die Erforschung von Folgeschäden und Entwicklung geeigneter Therapeutika, auch die Konzeption präventiver Maßnahmen werden – selbst für den Fall, dass COVID-19 einmal bewältigt ist – diese Welt noch lange beschäftigen.

So zu agieren wäre zumindest besser, als das auch wegen akut besserer Zahlen „mehr als halbvolle Glas“ achtlos zu verschütten.

Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur

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