MEDIZINREPORT
Hämatoonkologische Praxen: Trotz Pandemie ambulant gut versorgt
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Außer der Gefahr durch das Virus selbst können insbesondere für Krebskranke Versorgungsengpässe prognostisch bedeutsam werden. Eine Datenbasis der Niedergelassenen zeigt jedoch, dass seit Beginn der Pandemie der bürokratische Mehraufwand zwar immens, die Therapie für die onkologischen Patienten jedoch nicht gefährdet war.
Zu den im Juli 2020 vom Robert Koch-Institut definierten Risikogruppen für besonders schwere Verläufe einer COVID-19-Infektion zählen auch Patienten mit malignen Erkrankungen (1). Da Ressourcen für schwer an SARS-CoV-2 erkrankte Patienten im stationären Bereich vorgehalten wurden, ist bereits im Sommer debattiert worden, was eine reduzierte oder verzögerte Versorgung für dieses Kollektiv bedeuten könnte (2).
Vor diesem Hintergrund hat der Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland (BNHO) eine kritische retrospektive Bestandsaufnahme der Versorgung in den hämato-onkologischen Schwerpunktpraxen während der SARS-Cov-2-Pandemie initiiert. Hierfür wurden die Mitglieder aufgefordert, die anonymisierten Abrechnungsdaten des von der ersten Pandemiewelle betroffenen zweiten Quartals 2020 an das Wissenschaftliche Institut der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (WINHO) zu übersenden, um mögliche Veränderungen der Versorgung unter pandemischen Bedingungen zu erfassen.
Daten aus Schwerpunktpraxen
Das WINHO wertet seit 15 Jahren anonymisierte Abrechnungsdaten des jeweils dritten Quartals für die niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (NHO) aus. Diese Daten unterscheiden sich nur durch Anonymisierung der Patientendaten von den jeweils an die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zur Abrechnung übersendeten Inhalte.
Weil die Abrechnungsdatensätze vor Übermittlung jeweils durch KV-zertifizierte Arztinformationssysteme geprüft werden und zudem den Qualitätskriterien der Onkologie-Vereinbarung genügen müssen, sind sie objektiv und belastbar. Die Datenbasis für die vorliegende Auswertung stammt aus 101 Schwerpunktpraxen, die bundesweit tätig sind und circa 162 000 Patienten im zweiten Quartal 2020 versorgt haben. Darin sind folgende Informationen enthalten: Diagnosen nach ICD-10, Angaben zur ärztlichen Leistung – Gebührenziffern mit Leistungsdatum, verordnete Arzneimittel –, Anzahl der Patienten sowie praxis- und arztbezogene Daten.
Aufgrund der besonderen Versorgungssituation während der ersten Infektionswelle im Frühling 2020, bat der BNHO seine Mitglieder erstmals um zusätzliche Übermittlung der Daten auch des zweiten Quartals 2020 an das WINHO. Je nach untersuchtem Abrechnungsquartal liegen nunmehr Daten von 85 bis 119 Praxen vor. Dabei lieferten 76 % der Praxen in mindestens 3 Jahren ihre Daten an das WINHO, sodass die Variabilität gering ist. Zur optimierten Vergleichbarkeit wurden Mittelwerte oder Mediane für 2020 berechnet und diese mit den entsprechenden Werten der Jahre 2017–2019 verglichen. Die hier vorgestellten Daten (Tabelle 1) stellen somit das Versorgungsgeschehen von GKV-Patienten dar, die rund 90 % der insgesamt versorgten Patienten umfassen (3).
Kontinuität über viele Jahre
Die niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (NHO) behandeln im gesamten Bundesgebiet wohnortnah einen großen Teil der Patienten mit einer Krebserkrankung im Rahmen qualitätsgesicherter Versorgungsstandards (4). Die durchschnittliche Patientenzahl pro Praxis steigt seit Jahren (5) (Grafik). Dabei versorgen die NHO über die Hälfte der Patienten seit 2 oder mehr Jahren (6); dies deutet auf ein hohes Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten hin. Die Qualität der hämatologischen und onkologischen Versorgung wird in jährlichen, netzwerkweiten Befragungen von Patienten und Mitarbeitern erfasst und zusammen mit Auswertungen der Abrechnungsdaten in regelmäßig erscheinenden Qualitätsberichten der NHO transparent dargestellt (7). Die von den NHO therapierten Patienten weisen das gesamte Spektrum des Fachgebietes auf. Bei den soliden Tumorerkrankungen dominieren das Mammakarzinom und das Kolonkarzinom. In den vergangenen Jahren haben hämatologische Neubildungen im Behandlungsspektrum im Gegensatz zu soliden Tumoren zugenommen, dies betrifft myeloproliferative Neoplasien, myelodysplastische Syndrome, Lymphome und Leukämien.
Bei der Analyse von Patienten in hämatologischen und onkologischen Schwerpunktpraxen wird hier nun zwischen der Gruppe „Alle Patienten“ und „Krebspatienten“ unterschieden. Die Gruppe „Alle Patienten“ umfasst auch Patienten ohne spezifische Krebstherapie, die im Rahmen von Nachsorge- oder Diagnostikprogrammen behandelt werden. Es werden dabei auch Diagnosen mit mittelbarem Bezug zur Krebserkrankung, zum Beispiel Diabetes, Erkrankungen der oberen Atemwege oder andere Infektionskrankheiten, die in den Abrechnungsdaten enthalten sind, miterhoben. Hingegen umfasst die Gruppe „Krebspatienten“ nur diejenigen Patienten, die eine Krebstherapie im Rahmen der Onkologie-Vereinbarung (OV) (4) erhalten, also an einer floriden Erkrankung leiden und behandlungsbedürftig sind.
Im zweiten Quartal 2020 findet sich nun ein Rückgang bei der durchschnittlichen Anzahl alle Patienten um 8,2 %. Ursächlich hierfür dürften mehrere Faktoren sein: Zum einen kam es zu einer Anpassung von elektiver Diagnostik an die Pandemie, indem zeitlich unkritische Diagnostik- und Verlaufsuntersuchungen oder Therapiemaßnahmen verschoben wurden, etwa einfache Diagnostik von Zytopenien, Verlaufsuntersuchungen bei stabil chronischen Erkrankungen, Nachsorgeuntersuchungen und Zweitmeinungsverfahren. Zudem konnte ein Teil der Sprechstunden als Videokonferenz abgehalten werden. Damit konnte zumindest teilweise der allgemeinen Zurückhaltung von Patienten, die aufgrund von Sicherheitsbedenken Fachärzte nicht aufsuchten, begegnet werden. Hingegen ist anhand der Abrechnungsdaten ein Anstieg der therapeutisch betreuten Patienten mit einer floriden Tumorerkrankung im Mittel zu den 3 vorangegangenen Jahren um 8,3 % festzustellen. Eine mögliche Interpretation ist, dass Versorger im stationären Bereich sich auf das erforderliche Vorhalten von personellen und strukturellen Ressourcen in der ersten Ausprägung der Pandemiewelle im Frühling 2020 konzentriert haben. Insoweit zeigt sich damit durch die intersektorale Kooperation eine Sicherstellung unterschiedlicher Versorgungsaufträge von sowohl Intensivpatienten (stationär) als auch Krebspatienten (ambulant). Die Datenlage verdeutlicht jedoch, dass die Therapie der Patienten mit florider Erkrankung in diesen Praxen vollständig gegeben war.
Auch eine detaillierte Aufschlüsselung der OV-Ziffern verdeutlicht die Kontinuität in der ambulanten Versorgung von Patienten mit einer Krebserkrankung, die seit Jahren auf einem ähnlichen Niveau liegt und selbst unter Pandemiebedingungen sichergestellt werden konnte (Grafik). Eine Unterversorgung von Patienten in Schwerpunktpraxen lag zu keinem Zeitpunkt vor.
Mehr Bürokratie
Im zweiten Quartal fallen in der Regel aufgrund von Oster- und anderen Feiertagen circa 7 Arbeitstage weg, weshalb dies im Vergleich zu den Daten des dritten Quartals zu berücksichtigen ist. Zusätzlich sind vertragsärztliche Versorger durch das Pandemiegeschehen und die damit verbundenen Veränderungen von Praxisstrukturen und -abläufen mit zusätzlichem Aufwand konfrontiert. Erhebungen der Fachhochschule des Mittelstands für die vertragsärztliche Versorgung zeigen: Der Bürokratieaufwand in den Praxen ist im Vergleich zum Vorjahr um 1,3 % gestiegen. Vor allem hat die Coronapandemie die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten zusätzlich belastet. Umgerechnet bedeutet das einen Tag Mehraufwand pro Praxis im Jahr – zusammengenommen also 61 Tage, die im Schnitt für Bürokratie aufgewendet werden (8).
Das hängt hauptsächlich mit Berichts- und Nachweispflichten sowie veränderten Verfahren zusammen, ist aber auch durch bauliche und prozessuale Infektionsschutzmaßnahmen verursacht. Die erweiterten Hygienepflichten haben die gewohnten Abläufe im Praxisalltag in knapp 90 % aller Praxen verändert. Dies war insgesamt mit durchschnittlich über 6 Stunden Mehrarbeit pro Woche verbunden (9).
Aus Sicht der NHO ist hierdurch der zusätzlich erforderliche Aufwand nicht annähernd vollständig abgebildet, denn es galt, die Anpassungen innerhalb kürzester Zeit umzusetzen, um die Versorgung von Patienten zu gewährleisten. Darunter fielen etwa die Beschaffung benötigter Schutzausrüstung, bauliche Veränderungen einzuleiten (Acrylglas, Aerosolschutz, Mindestabstände) sowie verschiedene Prozess- und Strukturänderungen umzusetzen. Letztere umfassten die sichere Arbeitsplatzgestaltung für Mitarbeiter, die Einhaltung der Mindestabstände in der Tagesklinik für Patienten und Personal, die Anpassung und die Ausdehnung der Arbeitszeiten des Personals, um etwa Schichtdienste zum Infektionsschutz oder die Trennung von Tageskliniken in Unterbereiche zur organisieren, um im Falle von Quarantäne versorgungsfähig zu bleiben.
Dazu zählten auch Anpassungen in der Terminorganisation, um Patientenströme zu koordinieren, sowie die EDV-technische Aufrüstung, um Videosprechstunden – organisatorisch und apparativ – im größeren Umfang möglich machen zu können. Hinzu kamen die Teilnahme an regelmäßigen, regionalen und überregionalen Arbeitsgruppen zum Umgang mit COVID-19, die jeweiligen Anpassungen des Hygienekonzeptes und die Testungen der Patienten und des Personals. Die Mehrarbeit umfasste zudem Anpassungen der Therapiekonzepte durch fortlaufende Aktualisierungen der Leitlinien und Empfehlungen (10).
Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Quartale sind die Quartalszahlen zwar nicht exakt vergleichbar. Angesichts der im Mittel unveränderten Zahlen im zweiten Quartal 2020 und dem jeweils dritten Quartal der vorhergehenden Jahre ist die Aussage einer kompromittierten Versorgung im Jahr 2020 unter Pandemiebedingungen jedoch nicht gerechtfertigt.
Im Gegenteil: Trotz der zusätzlichen Belastungen, die im ambulanten Versorgungskontext anfallen, lassen die nun vorliegenden Daten zur Versorgung von Patienten mit einer Krebserkrankung auf Kontinuität schließen. Zu möglichen Verzögerungen einer Diagnostik von Tumorerkrankungen, etwa wegen der Reduktion von Bronchoskopien, Gastroskopien oder Koloskopien, kann diese Studie keine Auskunft geben (s. aber 11).
Die vorliegende Untersuchung verdeutlicht, dass eine Reduktion oder Verzögerung der Behandlung von Krebserkrankungen im „Lockdown“ nicht stattgefunden hat und dass Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung sich auf ihre Versorger verlassen können. Angesichts erneut rasch steigender Infektionszahlen ist dies ein wichtiges Ergebnis, damit Patienten ihre Therapie auch weiterhin wohnortnah fortsetzen können.
Systematisierte Erfassung
Diese Resultate ergänzen die Befragung der Vertreter der Comprehensive Cancer Center durch die Taskforce des Deutschen Krebsforschungszentrums um den Bereich der niedergelassenen Schwerpunktversorgung (12). Erst hierdurch entsteht ein umfassendes Bild der tatsächlich stattfindenden Versorgung von Krebspatienten. Hierbei zeigt die in Deutschland etablierte sektorale Versorgungsstruktur hohe Anpassungsfähigkeit (13).
Sie hat gerade in der Pandemie gravierende Vorteile, indem der stationäre Sektor auch bei der hoch spezialisierten Versorgung durch leistungsfähige Schwerpunktpraxen entlastet wird und dies unmittelbar den Patienten zugutekommt. Die Autoren plädieren an dieser Stelle für eine Weiterführung und Zusammenführung der Erhebungen, um Veränderungen und Langzeiteffekte zeitnah erkennen und entsprechend reagieren zu können. Erst wenn diese Bestrebungen intensiviert werden, kann mit solchen Erkenntnissen auch unter Pandemiebedingungen die hämatoonkologische Versorgung nachhaltig verbessert werden.
Dr. phil. Vitali Heidt
Geschäftsführer des WINHO
Prof. Dr. med. Wolfgang Knauf
Vorsitzender des BNHO
PD Dr. med. Thomas Illmer
Stellvertretender Vorsitzender des BNHO
Dr. med. Erik Engel
Hämatologisch-onkologische Praxis Altona
Armin Goetzenich
Geschäftsführer des BNHO
Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Der Artikel unterliegt nicht dem
Peer-Review-Verfahren.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0621
oder über QR-Code.
1. | Robert Koch-Institut: Informationen und Hilfestellungen für Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf. 2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html (last accessed on 16. November 2020). |
2. | Ärzteblatt, o. A.: Onkologen warnen vor Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen. 2020. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112249/Onkologen-warnen-vor-Bugwelle-an-zu-spaet-diagnostizierten-Krebsfaellen (last accessed on 7. November 2020). |
3. | GKV Spitzenverband: Kennzahlen der gesetzlichen Krankenversicherung. 2020. https://gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/zahlen_und_grafiken/zahlen_und_grafiken.jsp (last accessed on 7. November 2020). |
4. | GKV-Spitzenverband und Kassenärztliche Bundesvereinigung (2020): Vereinbarung über die qualifizierte ambulante Versorgung krebskranker Patienten „Onkologie-Vereinbarung“ (Anlage 7 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte) https://www.kbv.de/media/sp/07_Onkologie.pdf (last accessed on 7. November 2020). |
5. | Hermes-Moll K, Heidt V: Wandel der ambulanten onkologischen Versorgung und die Folgen. Strukturelle Veränderungen der Versorgungslandschaft in der Hämatoonkologie. InFo Hämatologie + Onkologie 2019, 22 (6). DOI: 10.1007/s15004–019–6582–1. https://www.springermedizin.de/praxis-und-beruf/onkologie-und-haematologie/wandel-der-ambulanten-onkologischen-versorgung-und-die-folgen/16813750 (last accessed on 20. November 2020). |
6. | WINHO (Ed.): Bundesweite Befragung der Patienten der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen 2019 mit 9.421 Patienten. 2019. |
7. | WINHO (Ed.), Heidt V, Hermes-Moll K, et al.: Qualitätsbericht der hämatologischen und onkologischen Schwerpunktpraxen 2020. 2020. https://dl.winho.de/QS-Bericht_2020_Web.pdf (last accessed on 16. November 2020). |
8. | Kassenärztliche Bundesvereinigung: BIX 2020. Zusätzlicher Bürokratieaufwand durch Corona. 2020. https://www.kbv.de/html/1150_49103.php (last accessed on 7. November 2020). |
9. | Kassenärztliche Bundesvereinigung: Zi-Umfrage: Hohe Mehraufwendungen in Praxen. 2020. https://www.kbv.de/html/1150_48483.php (last accessed on 7. November 2020). |
10. | Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie: COVID-19 bei Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen. 2020. https://www.onkopedia.com/de/covid19-overview (last accessed on 17. November 2020) |
11. | Mangiapane S, Zhu L, Czihal T, von Stillfried D: Veränderung der vertragsärztlichen Leistungsinanspruchnahme während der COVID-Krise. Tabellarischer Trendreport für das 1. Halbjahr 2020. 2020. https://www.zi.de/fileadmin/images/content/Publikationen/Trendreport_2_Leistungsinanspruchnahme_COVID_2020–11–Novemberpdf (last accessed on18. November 2020). |
12. | Fröhling S, Arndt V: Versorgung von Krebspatienten. Corona-Effekt in der Onkologie. Dtsch Arztebl 2020; 117 (46): A-2234 / B-1893 VOLLTEXT |
13. | Wörmann B, Rüthrich MM, Einsele H, et al.: COVID-19 und Onkologie: Anpassungsfähiges System. Dtsch Arztebl 2020; 117 (33–34): 27 VOLLTEXT |
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