ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2021Motivierende Gesprächsführung: Ein evidenzbasierter Ansatz für die ärztliche Praxis
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Hintergrund: Motivationale Faktoren bei gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen stellen eine bedeutsame Größe in der ärztlichen Praxis dar. Ein spezifisch für die Förderung von Veränderungsmotivation bei ambivalenten Patienten entwickelte Verfahren ist die motivierende Gesprächsführung („motivational interviewing“ [MI]).

Methode: Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche in den Datenbanken Pubmed, Cochrane und Web of Science. Besonders berücksichtigt wurden systematische Reviews und Metaanalysen zur Wirksamkeit von MI in der medizinischen Versorgung bei unterschiedlichen Zielgruppen. Der Fokus der Arbeit lag auf der Erfassung der Relevanz des MI für hochprävalente Störungsbilder.

Ergebnisse: In Metaanalysen zeigen sich in der medizinischen Versorgung hinsichtlich verschiedener gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen statistisch signifikante gemittelte Interventionseffekte von MI gegenüber Standardbehandlung und unbehandelten Kontrollen (Odds Ratio [OR]: 1,55; 95-%-Konfidenzintervall: [1,40; 1,71]). Statistisch signifikante Effektstärken wurden berichtet in Bezug auf Substanzkonsum, körperliche Aktivität, Zahnhygiene, Körpergewicht, Behandlungsadhärenz, Veränderungsbereitschaft und Mortalität, während Effekte bezüglich gesundheitsförderlichen Verhaltens uneinheitlich waren. Studien zu Wirkfaktoren legen nahe, dass die Wirksamkeit von MI maßgeblich durch die selektive Verstärkung veränderungsbezogener Patientenäußerungen bedingt ist.

Schlussfolgerung: MI hat sich zur Erhöhung der Veränderungsmotivation bei verschiedenen verhaltensbedingten Gesundheitsproblemen und zur Förderung der Behandlungsadhärenz bewährt und kann zur Optimierung ärztlicher Interventionen genutzt werden. Weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der spezifischen Wirkmechanismen, der Wirksamkeit bezüglich gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen, der differenziellen Indikation bei verschiedenen Patientengruppen sowie der störungsübergreifenden Kosteneffizienz des Verfahrens.

LNSLNS

In den hochentwickelten Industrieländern stellen verhaltensbedingte Risikofaktoren wie Substanzkonsum (Tabak, Alkohol), ungesunde Ernährung und unzureichende Bewegung eine zentrale Größe für die mittels „disability-adjusted life years“ (DALYs) erfasste Krankheitslast in der Bevölkerung dar (1). Diese Faktoren beeinflussen auch entscheidend den Verlauf verschiedener chronischer Erkrankungen.

Von den im Jahr 2010 in der deutschen Bevölkerung verlorenen 23,9 Millionen DALYs können diese zum Beispiel nach der „Global Burden of Disease“-Studie prozentual auf folgende Ursachen zurückgeführt werden (2):

  • ungesunde Ernährung (Männer: 16,2 %, Frauen: 11,2 %)
  • Rauchen (Männer: 14,2 %, Frauen: 6,7 %)
  • hoher Blutdruck (Männer: 11,5 %, Frauen: 10,2 %)
  • Übergewicht (Männer: 11,5%, Frauen: 10,3 %).

Motivationale Aspekte sind demnach in der Patientenbehandlung eine bedeutsame Größe. Weitere für die ärztliche Praxis wichtige motivationale Faktoren ergeben sich aus der oft unzureichenden Medikamentenadhärenz, die nach verschiedenen Studien zwischen 31,2 % und 59,1 % beträgt und ebenfalls eine bedeutsame Größe für die Chronifizierung gesundheitlicher Beeinträchtigungen darstellt (3, 4, 5).

Des Weiteren ergaben sich in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich bedingte herausfordernde Veränderungen des ärztlichen Rollenverständnisses, die sich in dem Konzept des „shared decision making“ wiederfinden, nach dem Behandlungsschritte in Abstimmung mit den jeweiligen Patienten entwickelt werden sollten (6).

Ein vielversprechendes, auch mit limitierten zeitlichen Ressourcen einsetzbares Konzept zur Förderung der Änderungsmotivation bei gegenwärtig nicht veränderungsbereiten oder ambivalenten Patienten stellt der ursprünglich aus der Suchtkrankenhilfe stammende Ansatz des „Motivational Interviewing“ (MI) (7) dar. Dieses wird seit den ersten Veröffentlichungen Anfang der 1980er Jahre zunehmend auch in anderen Fachgebieten erfolgreich eingesetzt. In diesem Beitrag sollen Grundprinzipien des Ansatzes mit Blick auf ihre Anwendbarkeit in der ärztlichen Praxis vorgestellt werden. Zur Beurteilung der Wirksamkeit wurden in den Datenbanken PubMed, Cochrane und Web of Science seit dem Jahr 2005 publizierte systematische Reviews und Metaanalysen zur störungsübergreifenden Wirksamkeit von MI in medizinischen Behandlungssettings sowie zur Wirksamkeit von MI auf Medikamentenadhärenz mit den Suchbegriffen („Motivational Interviewing“ AND („primary care“ OR „medical care“) selektiv recherchiert und zusammengefasst.

Grundannahmen des Motivational Interviewing

Auch wenn es sich bei MI nicht um einen theoriegeleiteten Ansatz handelt, so verknüpft MI verschiedene evidenzbasierte Ansätze der kognitiven Psychologie und der Sozialpsychologie. MI geht davon aus, dass Menschen mit problematischen Verhaltensweisen (zum Beispiel Rauchen, riskanter Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, fehlende Medikamentenadhärenz, mangelnde Bewegung) eine unterschiedliche Bereitschaft zur Verhaltensänderung aufweisen.

Entsprechend der Konflikttheorie menschlichen Handelns von Janis und Mann (8) stehen den Vorteilen gesunder Verhaltensweisen (wie bessere gesundheitliche Prognose, verbesserte Fitness und anderes) immer auch Nachteile einer Verhaltensänderungen (zum Beispiel Verlust hedonistischer Verstärker, hoher Aufwand, mögliche Nebenwirkungen von Medikamenten) gegenüber. Bei MI wird davon ausgegangen, dass Menschen mit problematischen Verhaltensweisen hinsichtlich einer Verhaltensänderung nicht grundsätzlich unmotiviert, sondern ambivalent sind, das heißt, dass das Problemverhalten zumindest ansatzweise im Widerspruch zu Selbstkonzepten, Wertvorstellungen oder Lebenszielen der entsprechenden Personen steht, wobei die Betroffenen auch subjektiv gute Gründe gegen eine Verhaltensänderung haben können. Wird eine solche Ambivalenz nicht erkannt, so werden gut gemeinte ärztliche Ratschläge von Patienten als Angriff auf die eigene Entscheidungsfreiheit wahrgenommen, was im Sinne der sozialpsychologischen Reaktanz-Theorie (9) die Motivation erhöht, den eigenen subjektiven Handlungsraum wieder herzustellen. Dies führt dann regelhaft zu Non-Compliance entweder in Form von direkten Widerständen oder durch Nichtbefolgen der Empfehlungen. Eine nachhaltige Förderung der Änderungsmotivation setzt voraus, dass Patienten sich ihrer Diskrepanzen bewusster werden und sich aktiv mit dem eigenen Verhalten auseinandersetzen. Dementsprechend ist MI definiert als „ein personenzentrierter, zielorientierter Kommunikationsstil mit dem besonderen Fokus auf Veränderungsäußerungen. Ziel ist es, die persönliche Motivation und Selbstverpflichtung zur Verhaltensänderung durch Hervorrufen und Vertiefen der eigenen Änderungsgründe einer Person in einer Atmosphäre der Akzeptanz und Anteilnahme zu erhöhen“ (7). Kongruent mit der Selbstbestimmungstheorie („self-determination theory“ [SDT]; [10]) werden in dem Ansatz die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung gewürdigt. Die Atmosphäre der Akzeptanz und Anteilnahme stellt dabei eine notwendige Bedingung für die Selbstöffnung von Patienten bei Gesprächen über belastende oder stigmatisierte Themen wie Substanzkonsum, übermäßiges Essen oder Gesundheitsprobleme dar. Die Verfasser des MI haben wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich bei MI nicht um eine Technik, sondern um einen grundlegenden therapeutischen Stil handelt, der nicht darauf abzielt, Menschen entgegen deren Willen zu einer Verhaltensänderung zu bringen. Eine wichtige Grundlage des Ansatzes ist die Gesprächstherapie nach Rogers (11), wobei sich das MI durch ein zielorientiertes Vorgehen auszeichnet und grundsätzlich mit anderen therapeutischen Methoden kombiniert werden kann. Der Ansatz des MI ist gekennzeichnet durch eine Differenzierung in innere Haltung („Menschenbild“), Methoden und Prinzipien der Durchführung sowie verschiedene Prozessphasen der Durchführung (Kasten 1).

Die Haltung des „Motivational Interviewings“ (MI)
Kasten 1
Die Haltung des „Motivational Interviewings“ (MI)

Techniken des Motivational Interviewing

Neben den Grundprinzipien beinhaltet das MI insgesamt fünf Interventionstechniken, deren jeweilige Bedeutung in Abhängigkeit vom Patienten und dem Stand der Behandlung variieren kann (7). Die ersten vier Interventionstechniken entsprechen dabei Interventionsmethoden, die auch in anderen therapeutischen Schulen wie zum Beispiel der klientenzentrierten Gesprächsführung eingesetzt werden.

Erstes Interventionselement

Offene Fragen sind geeignet, die Auseinandersetzung mit dem Problemverhalten zu fördern, zum Beispiel „Worüber machen Sie sich in Bezug auf Ihren Alkoholkonsum Gedanken?“ Gutes MI ist dadurch charakterisiert, dass mindestens 70 % der gestellten Fragen offen sein sollten (12).

Zweites Interventionselement

Aktives Zuhören ermöglicht es, Besorgnis bezüglich des Problemverhaltens zu entdecken und darauf zu fokussieren. Der Arzt gibt dabei die wesentlichen Inhalte der Äußerungen des Patienten wieder. Das aktive Zuhören bewirkt weiterhin, dass der Betroffene Verständnis erlebt und ermöglicht eine Vertiefung der Problematik durch verstärkte Selbstexploration. Mindestens 50 % der Reflektionen sollten komplex sein und über einfaches Wiederholen hinausgehen (12). Komplexe Reflektionen beziehen sich auf nicht explizite Inhalte, die geschlussfolgert werden, oder emotionale Anteile (zum Beispiel Patient: „Ich glaub‘ schon, dass mein Husten vom Rauchen kommt“; Arzt: „Und das macht Ihnen Sorgen?“). Bei gutem MI sollten mindestens zwei Reflektionen pro gestellter Frage eingesetzt werden.

Drittes Interventionselement

Bestätigen beinhaltet Lob („Prima, dass Sie etwas am Rauchen ändern wollen!“), Anerkennung („Sie machen im Moment eine schwierige Zeit durch.“) und Verständnis („Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie Bedenken haben, welche Nebenwirkungen bei Ihrem Medikament auftauchen könnten.“).

Viertes Interventionselement

Zusammenfassen ist ein wirkungsvolles Vorgehen, bei dem die vom Betroffenen genannten Inhalte, die für eine Änderungsmotivation bedeutsam sind, wiedergegeben werden (zum Beispiel „Einerseits wollen Sie sich nichts verbieten lassen, andererseits stört Sie am Rauchen das viele Geld, das dafür draufgeht, und Ihr Husten macht Ihnen Sorgen.“).

Fünftes Interventionselement

Die Förderung selbstmotivierender Aussagen charakterisiert MI im engeren Sinne. Dabei wird unterschieden zwischen Patientenäußerungen, die einer Veränderung entgegenstehen und eine Stabilisierung des Status Quo beinhalten („sustain talk“; zum Beispiel „Ich glaube, diese 10 Zigaretten am Tag sind nicht so schlimm“) und Äußerungen, die eine Verhaltensänderung wahrscheinlicher machen, indem von Seiten des Patienten Änderungsgründe und -absichten benannt werden („change talk“; zum Beispiel „Wenn ich wieder krank werde, würde ich wahrscheinlich meinen Job verlieren – vielleicht sollte ich die Medikamente doch ausprobieren“). „change talk“ wird gefördert durch gezielte Fragen („Wie könnten Ihnen die Medikamente gegen die Depression helfen?“), durch Bestätigen („Beeindruckend, dass Sie in Zusammenhang mit den Medikamenten auch Chancen für Ihren weiteren beruflichen Werdegang sehen“) oder durch selektives Reflektieren („Die Medikamente können dabei helfen, gesund zu bleiben“) und kann nach zwei Zielsetzungen differenziert werden:

  • dem Aufbau von Motivation durch konkrete Äußerungen, die durch das Benennen von Wünschen, Fertigkeiten, Gründen für eine Änderung und wahrgenommene Änderungsbedürfnisse gekennzeichnet sind und durch das Akronym DARN (für „desire“; „ability“; „reasons“ und „need“) zusammengefasst werden
  • dem Benennen von Selbstverpflichtung, Aktivierung und ersten Schritten (Akronym [CAT] für „commitment“; „activation“ und „taking steps“).

Für eine erfolgreiche Verhaltensänderung ist bedeutsam, dass die Änderungsbedürfnisse des Patienten in einem nächsten Schritt in eine Selbstverpflichtung zur Verhaltensänderung überführt werden.

Information und eigene Vorstellungen des Behandlers können bei MI eingebracht werden, wobei darauf zu achten ist, dass der Patient bereit ist, sich mit der Information auseinanderzusetzen und die ärztliche Sichtweise nur als eine Option und nicht als die alleinige Wahrheit geäußert wird. Methodisch erfolgt dies in einem Dreischritt („Nachfragen-Informationen geben-Nachfragen“), indem zunächst ein Einverständnis eingeholt wird („Möchten Sie gerne mehr erfahren über...“), die Information neutral gehalten angeboten wird (zum Beispiel „Wissenschaftliche Studien haben gezeigt…“) und abschließend nach der Sichtweise des Patienten gefragt wird (zum Beispiel „Wie denken Sie darüber...“). Informationen, die der Patient nicht wünscht oder die als bedrohend wahrgenommen werden, führen meist zu Reaktanz.

Konflikte während einer Beratungssituation entstehen typischerweise dann, wenn Interventionen nicht zu der aktuellen Änderungsmotivation des Patienten passen, also zum Beispiel wenn einem Patient mit riskantem Alkoholkonsum Handlungsempfehlungen gegeben werden, während der Patient sich noch unklar darüber ist, ob der eigene Alkoholkonsum ein problematisches Verhalten darstellt. Dies kann sich in interpersoneller Dissonanz („discord“; zum Beispiel „Wollen Sie mir unterstellen, dass ich Alkoholiker bin“) oder in einem Zurückschalten in „sustain talk“ („Bei mir würde Sport sowieso nichts bringen“) ausdrücken. In solchen Situation ist neben dem empathischen Umgang mit dem Patienten insbesondere die Betonung seiner Autonomie („Nur Sie können entscheiden, etwas daran zu verändern“) bedeutsam (Kasten 2, 3).

Prozessphasen des „Motivational Inter viewing“ (MI)
Kasten 2
Prozessphasen des „Motivational Inter viewing“ (MI)
Beispielgespräch „Motivational Interviewing“
Kasten 3
Beispielgespräch „Motivational Interviewing“

Wirksamkeit von MI in der medizinischen Versorgung

Seit der Entwicklung des Ansatzes hat die Zahl der MI-spezifischen Veröffentlichungen exponenziell zugenommen, sodass mittlerweile mehr als 1 300 randomisierte Studien und circa 150 Reviews zur Wirksamkeit von MI bei verschiedenen Verhaltensweisen und Zielpopulationen vorliegen. Die meisten Studien adressieren problematischen Substanzkonsum. Mittels einer auf systematische Reviews und Metaanalysen eingegrenzten systematischen Literaturrecherche in den Datenbanken PubMed, Cochrane und Web of Science zur Wirksamkeit von MI in medizinischen Versorgungssettings mit den Suchbegriffen („Motivational Interviewing“ AND [„primary care“ OR „medical care“]) konnten insgesamt neun seit 2005 publizierte systematische Übersichtsarbeiten, darunter zwei Metaanalysen, identifiziert werden. In beiden Meta-Analysen fanden sich kleine bis mittlere Effektstärken hinsichtlich verschiedener gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen wie Blutdruck, Substanzkonsum und Medikamentenadhärenz von d =0,18 (95-%-Konfidenzintervall [0,03; 0,33]; p =0,02) (13) beziehungsweise (Odds Ratio: [OR] = 1,55 [1,40; 1,71]; p <0,001) (14) für die Wirksamkeit des Verfahrens. Die inkludierten MI Interventionen variierten zwischen Einzelkontakten mit 15-minütiger Dauer bis zu Langzeitbehandlungen mit einer Gesamtdauer von bis zu 480 Minuten, wobei die meisten Studien Kurzinterventionen von maximal drei Sitzungen beinhalteten (14). Ausgewählte Ergebnisse zu einzelnen Ergebnisparametern der mit 48 inkludierten Studien mit insgesamt 9 618 eingeschlossenen Probanden umfangreicheren Metaanalyse von Lundahl et al. (2013) sind in der Tabelle dargestellt (14). Die Effektstärken beschreiben die Verbesserung des Zielkriteriums relativ zu den Kontrollen, Odds Ratios > 1 bedeuten eine Überlegenheit der MI-Gruppe. Der praktische Interventionseffekt wird beschrieben mit der binomialen Effektstärkeabbildung BESD, bei der die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlungsgruppe von der Erfolgswahrscheinlichkeit der Kontrollgruppe abgezogen wird. Werte von > 50 % weisen auf einen größeren Effekt der jeweiligen Bedingung hin. Besonders ausgeprägte Behandlungseffekte ergaben sich unter anderem bezüglich Reduktion von Substanzkonsum, körperlicher Inaktivität, Körpergewicht und Mortalität sowie hinsichtlich verbesserter Zahnhygiene, der Aufnahme weitergehender Behandlung und von Selbstbeobachtung des eigenen Gesundheitsverhaltens (zum Beispiel bezüglich Blutglukosekontrolle und Ernährung). Keine signifikanten Effekte ergaben sich für Essstörungen, selbstfürsorgendes Verhalten oder einzelne medizinische Parameter wie zum Beispiel der Herzrate. Die Effektstärken waren erhöht, wenn die Intervention von den behandelnden Ärzten (versus medizinisch/technisches Personal) durchgeführt wurde. Die gemittelten Behandlungseffekte waren über alle Ergebnismaße signifikant, jedoch am ausgeprägtesten bei patientenseitigen Selbstberichten (OR = 1,69; [1,55; 1,84]), gefolgt von Fremdbeurteilungen (OR = 1,48; [1,24; 1,78]) und am niedrigsten bei biologischen Ergebnisparametern (OR = 1,18; [1,09; 1,28]) (14). Nach Lundahl et al. (2013) zeigen sich über die Zeit abnehmende Effektstärken, die jedoch auch bei fünf Studien mit Nacherhebungen nach mehr als 13 Monaten signifikante Effekte gegenüber den Kontrollen belegen (OR = 1,14; 95-%-KI [1,03; 1,28]). Die Behandlungseffekte waren sowohl bei Wartelisten, als auch bei unspezifizierter Routinebehandlung und psychoedukativen Kontrollbedingungen bedeutsam.

Ausgewählte metaanalytische Effektstärken von MI in medizinischen Settings bei unterschiedlichen Zielkriterien nach Lundahl et al. (<a class=14)" width="250" src="https://cfcdn.aerzteblatt.de/bilder/127158-250-0" data-bigsrc="https://cfcdn.aerzteblatt.de/bilder/127158-1400-0" data-fullurl="https://cfcdn.aerzteblatt.de/bilder/2021/02/img261692155.gif" />
Tabelle
Ausgewählte metaanalytische Effektstärken von MI in medizinischen Settings bei unterschiedlichen Zielkriterien nach Lundahl et al. (14)

Nicht auf die medizinische Versorgung begrenzte Übersichtsarbeiten zu den störungsübergreifenden Effekten von MI auf Medikamentenadhärenz ergaben bei heterogener Qualität der inkludierten Studien positive, wenngleich kleine Effekte mit einem gepoolten Relatives Risiko von 1,17 ([1,05; 1,31]; p < 0,001) (15) beziehungsweise einem Cohen´s d von 0,23 ([0,08; 0,37], p > 0,001) (16).

Eine systematische, settingübergreifende Übersichtsarbeit zur allgemeinen Wirksamkeit von MI anhand von 104 publizierten Reviews (darunter 39 Metaanalysen) ergab eine gute Evidenz bezüglich der Beendigung oder Prävention ungesunder Verhaltensweisen, insbesondere hinsichtlich problematischen Substanzkonsums (primär Alkohol, Cannabis und Tabak), während die Evidenz hinsichtlich gesundheitsförderlichen Verhaltens (mit Ausnahme der Förderung körperlicher Aktivität) heterogener und hinsichtlich der methodischen Güte der eingeschlossenen Arbeiten schwächer war (17). Hinsichtlich potenzieller Moderatorvariablen zeigten sich Effekte gegenüber Kontrollgruppen, die keine Behandlung oder unspezifizierte Routinebehandlung erhalten hatten, nicht jedoch gegenüber Kontrollbedingungen mit anderen evidenzbasierten Interventionen wie zum Beispiel Kognitiv-Behavioraler Therapie (17). Während Studien zur Effektivität von MI bei substanzbezogenen Störungen auf eine höhere Kosteneffektivität von MI gegenüber anderen evidenzbasierten Interventionen hinweisen (18), fehlen bislang entsprechende störungsübergreifende Übersichtsarbeiten zur Kosteneffizienz von MI (17).

Vor dem Hintergrund der bisherigen Studien erweist sich MI insbesondere bei problematischem Substanzkonsum als evidenzbasiertes, wirksames und vergleichsweise ökonomisches Verfahren zur Förderung von Verhaltensänderungen bei ambivalenten Patienten. Für verschiedene weitere medizinische Anwendungsfelder wie Motivierung zu gesundheitsförderlichem Verhalten liegen bislang noch nicht genügend methodisch hochwertige Studien vor, um detaillierte Angaben zur Indikationsstellung und differenziellen Wirksamkeit von MI zu treffen.

Wirkmechanismen von MI

Hinsichtlich der spezifischen Wirkmechanismen von MI lassen sich drei Alternativhypothesen anführen. Die technische Wirkungshypothese, nach der die Wirksamkeit von MI durch Basisfertigkeiten wie offene Fragen, aktives Zuhören, Bestätigen und Zusammenfassen in Form selektiver Verstärkung selbstmotivierender Äußerungen des Patienten realisiert wird, wurde bislang am extensivsten untersucht und hat vergleichsweise die größte empirische Unterstützung erfahren (19, 20, 21). Die Beziehungshypothese geht demgegenüber davon aus, dass für die Wirksamkeit von MI die Beziehungsqualität und die therapeutische Empathie am bedeutsamsten sind. Diese Hypothese wurde bislang in geringerem Ausmaß untersucht und gilt als unzureichend abgesichert, wobei in einer kritischen Übersichtsarbeit darauf hingewiesen wurde, dass sich in der Mehrzahl der berücksichtigen Studien die untersuchten MI-Behandler in diesen Merkmalen zu wenig unterschieden, um Effekte auf die Wirksamkeit abbilden zu können (19). Die Konfliktlösungshypothese besagt, dass die Wirkung von MI maßgeblich auf Exploration und Lösung von Konflikten zurückgeführt werden kann, wobei auch hier die empirischen Belege uneinheitlich sind. In ihrer Übersichtsarbeit schlussfolgern Magill und Hallgren (19), dass die unterschiedlichen Faktoren eher als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Wirkung von MI zu begreifen sind, wobei weiterer Forschungsbedarf besteht.

Fazit für die Praxis

Der Ansatz des MI hat sich zur Förderung intentionaler Verhaltensänderungsbereitschaft bei verschiedenen verhaltensbedingten Gesundheitsproblemen und zur Förderung der Behandlungsadhärenz bewährt und kann in der ärztlichen Praxis auch mit eingeschränkten zeitlichen Ressourcen eingesetzt werden. In der Regel zwei-tägige Fortbildungskurse zu den Grundlagen des MI werden regelmäßig von Ärztekammern und verschiedenen privaten Trägern angeboten, Fachliteratur zu unterschiedlichen Anwendungsfeldern liegt deutschsprachig vor (7). Verschiedene deutschsprachige Trainer sind Mitglied in dem internationalen Motivational Interviewing Network of Trainers (www.motivationalinterviewing.org/trainer-listing).

Interessenkonflikt
Die Autoren sind Mitglieder im internationalen Motivational Interviewing Network of Trainers.

Manuskriptdaten
eingereicht: 14. 5. 2020, revidierte Fassung angenommen: 8. 9. 2020

Anschrift für die Verfasser
Dr. phil. Gallus Bischof
Universität zu Lübeck
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck
gallus.bischof@uksh.de

Zitierweise
Bischof G, Bischof A, Rumpf HJ: Motivational interviewing—an evidence-based approach for use in medical practice. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 109–15. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0014

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

cme plus

Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert. Die Fragen zu diesem Beitrag finden Sie unter http://daebl.de/RY95. Einsendeschluss ist der 18. 2. 2022.
Die Teilnahme ist möglich unter cme.aerztebatt.de

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Die Haltung des „Motivational Interviewings“ (MI)
Kasten 1
Die Haltung des „Motivational Interviewings“ (MI)
Prozessphasen des „Motivational Inter viewing“ (MI)
Kasten 2
Prozessphasen des „Motivational Inter viewing“ (MI)
Beispielgespräch „Motivational Interviewing“
Kasten 3
Beispielgespräch „Motivational Interviewing“
Ausgewählte metaanalytische Effektstärken von MI in medizinischen Settings bei unterschiedlichen Zielkriterien nach Lundahl et al. (14)
Tabelle
Ausgewählte metaanalytische Effektstärken von MI in medizinischen Settings bei unterschiedlichen Zielkriterien nach Lundahl et al. (14)
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