THEMEN DER ZEIT
Globale Impfinitiative: Arme Länder zuletzt


Die ganze Welt kauft gemeinsam Impfstoff, Spenden und reiche Staaten finanzieren die Dosen für bedürftige – so die Idee von COVAX. Doch die Initiative droht an der Realität zu scheitern
Knapp 377 Millionen Impfdosen sollen über die weltweite COVID-19-Impfinitiative COVAX bis Juni ausgeliefert werden − an insgesamt 145 Länder. Das geht aus einer ersten Planungsübersicht der Organisatoren hervor. Mindestens zwei Milliarden Dosen sollen es bis Ende 2021 sein.
Besonders 92 ökonomisch schwache Länder, die sich teure Vorbestellungen bei den Herstellern nicht leisten können, sollen jetzt die Chance bekommen, mit dem Impfen zu beginnen. Doch Virusvarianten, behäbige Prozesse und die Panikkäufe reicher Länder drohen, das Vorhaben auszubremsen.
Um die anvisierten 377 Millionen Dosen für 145 Länder ins Verhältnis zu setzen, lohnt ein Blick auf die deutsche Planung. Die Bundesrepublik hat sich bislang über Abschönen Abnahmeverträge der EU und nationale Absprachen mit Herstellern über 400 Millionen Impfdosen für seine 82 Millionen Einwohner gesichert. Mit diesen Bestellmengen ist sie unter den reichen Nationen keineswegs allein. Nun soll auf 635,1 Millionen Impfstoffdosen aufgestockt werden, heißt es in einem Schreiben des Finanzministeriums an den Haushaltsausschuss im Bundestag. Dafür veranschlagt die Behörde 6,2 Milliarden Euro. Mit der Bewilligung wird eine Gesamtsumme von 8,89 Milliarden Euro für Impfstoff bereitstehen.
COVAX kann bisher mit rund zwei Milliarden US-Dollar (etwa 1,7 Milliarden Euro) aus verschiedenen Töpfen planen. Weitere fünf Milliarden werden nach Angaben der Organisatoren im laufenden Jahr benötigt, um im Schnitt 3,3 Prozent der Bevölkerung der 145 Länder, die einen Anteil aus dem Impfpool beantragt haben, im ersten Halbjahr impfen zu können.
„Das ist besser als nichts, aber bei Weitem nicht ausreichend“, sagt Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner. Er leitet den Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld und ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium. Das Problem seien nicht vorrangig die Bestellmengen der reichen Nationen, sondern die Reihenfolge, in der die Impfstoffdosen ausgeliefert würden, ist Greiner überzeugt.
Zwar wollen die reicheren Staaten überschüssige Dosen weiterreichen, aber eben erst, wenn sie selbst versorgt sind. „Wenn es schlecht läuft, wird die Belieferung der ärmeren Länder umfänglich erst im letzten Quartal 2021 richtig durchstarten“, so der Gesundheitsökonom. „Auf diese Weise wird sich die Pandemie fortsetzen und immer mal wieder auch in die eigentlich geimpften Länder zurückkehren.“
Eigentlich sollte die Impfstoffbeschaffung über COVAX genauso laufen wie bei der EU und ihren 27 Mitgliedern. Stellvertretend für alle Länder der Welt wollten die Organisatoren mit den Herstellern Abnahmeverträge aushandeln. Fast alle Nationen folgten dem Aufruf, sich anzuschließen. Die USA unter Neupräsident Joe Biden als eines der letzten. Die so organisierten Dosen sollten über Vorfinanzierung der reichen Länder sowie über Spenden bezahlt und 92 bedürftigen Ländern vergünstigt oder kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.
Doch die Erfolge sind bislang überschaubar. So wollten die meisten wohlhabenden Staaten lieber eigene Verträge mit den Herstellern aushandeln, um schneller Zugang zu erhalten. Sie zahlten zwar teils großzügig in die verschiedenen Spendentöpfe ein, die COVAX zugutekommen, verzichteten selbst aber auf ihren Anteil. So machten es auch alle EU-Mitglieder. Vorfinanzierungsbeträge, die COVAX mehr Spielraum verschafft hätten, blieben so aus. Selbstzahler wie Kanada, Neuseeland, Saudi-Arabien und Singapur beanspruchen laut der vorläufigen Lieferliste zwar Dosen aus dem COVAX-Pool, sie alle haben aber zusätzlich noch eigene Verträge mit Herstellern.
Großzügige Spenden
Deutschland gehört neben Großbritannien zu den großzügigsten Gebern. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO – als Organisator an COVAX beteiligt − spendeten die Briten umgerechnet etwa 820 Millionen Euro und die Bundesrepublik knapp 310 Millionen Euro an die Impfallianz Gavi, die sich bei COVAX um Ankauf und Auslieferung der Impfstoffe kümmert und die Finanzierung organisiert. Zusätzlich stellte Bundesfinanzminister Olaf Scholz jetzt weitere 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung, die anteilig für COVAX eingesetzt werden sollen.
Der US-Präsident habe vier Milliarden US-Dollar für 2021 zugesagt, erklärt eine Gavi-Sprecherin auf Anfrage des Deutschen Ärzteblatts. Neben Ländern und Staatenverbünden steuerten auch Unternehmen, Stiftungen und Privatleute Geld bei. Etwa die Bill und Melinda Gates Stiftung, die Initiative des Ehepaars Zuckerberg, das Videoportal TikTok, die eigentlich für Computerviren zuständige Avast Foundation, der Fußballverband Fifa und die Sängerin Madonna.
„Die Spenden sind sinnvoll. Noch sinnvoller wäre gewesen, die Impfstoffmenge von vornherein nicht vor allem nach Zahlungsfähigkeit zu verteilen“, sagt Greiner. „Aber die derzeitige Diskussion in Deutschland, wo kritisiert wird, dass im Sommer nicht noch viel mehr für die deutsche Bevölkerung aufgekauft wurde, zeigt, wie unrealistisch eine solche Forderung wäre.“
Kompliziert macht es auch die Struktur der Initiative. COVAX ist keine selbstständige Organisation, sondern ein Konstrukt, in dem vor allem drei Akteure agieren. Neben Gavi ist das die Forschungskoalition CEPI, die Spendengelder in die Entwicklung neuer Impfstoffe investiert und so versucht, Garantien für bei den Herstellern zu sichern.
Die WHO ist bei COVAX verantwortlich für die Regulierung und Sicherheit der Impfstoffe und sorgt dafür, dass Länder mit schwacher Infrastruktur ihre Lieferungen erhalten und sicher verteilen können.
Da eine Zulassung der Impfstoffe durch jedes einzelne Land zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, läuft die Verteilung vorerst über Notfallzulassungen der WHO. Doch davon gibt es bislang erst eine: Für den Impfstoff von Biontech/Pfizer. Im ersten Quartal 2021 rechnet Gavi laut dem Planungspapier mit 1,2 Millionen Impfdosen der Hersteller, im zweiten Quartal mit zusätzlichen 40 Millionen.
Der Impfstoff von AstraZeneca soll laut Gavi noch in diesem Monat eine Notfallzulassung erhalten. Über eine Lizenzierung darf ihn nun auch der indische Hersteller Serum Institute of India herstellen. Aus dieser Zusammenarbeit sollen COVAX 240 Millionen Impfdosen zustehen, weitere 96 Millionen will das britisch-schwedische Unternehmen selbst beisteuern. Die mit Abstand größte Menge enthält laut Plan Indien selbst − mit über 97 Millionen Impfdosen. Im zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt leben derzeit rund 1,3 Milliarden Menschen. Es folgen Pakistan mit rund 17 Millionen Dosen, Nigeria mit 16 Millionen und Indonesien mit knapp 14 Millionen Impfdosen.
Indien erhalte damit circa 20 Prozent der voll subventionierten Impfdosen über COVAX, erklärt die Gavi-Sprecherin. Darüber hinaus bekomme das Land Fördermittel für nötige technische Hilfe und Kühlkettenausrüstung in Höhe von 30 Millionen US-Dollar.
Maßgeschneiderte Hilfen
„Diese maßgeschneiderte Unterstützung berücksichtigt einerseits die Krankheitslast und die damit verbundene Sterblichkeit des Landes, subnationale Ungleichheiten und eine wachsende Wirtschaftskrise sowie andererseits die Bevölkerungszahl des Landes und seine Rolle als globaler Impfstofflieferant“, so die Gavi-Sprecherin. Auch bei den übrigen Empfängern subventionierter Impfdosen wurden diese Faktoren berücksichtigt.
Dass Pfizer kürzlich seinen Antrag auf eine nationale Notfallzulassung des gemeinsam mit Biontech entwickelten Impfstoffs in Indien zurückzog, soll laut Gavi keinen Einfluss auf die Lieferungen aus COVAX haben. Indische Behörden hatten zusätzliche Studien gefordert, die Pfizer nicht vorlegen konnte. Für Indien sind laut Plan bislang nur Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs vorgesehen.
Auch Südafrika, wo eine Variante des SARS-CoV-2-Virus kursiert, gegen die AstraZenecas Vakzine laut einer ersten Studie nicht so effektiv schützt wie andere Produkte, soll seinen COVAX-Anteil von über zwei Millionen Dosen wie geplant erhalten – obwohl das Land seine Impfkampagne mit AstraZeneca vorerst gestoppt hat. Wie auch WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus verweist die Gavi-Sprecherin auf die kleine Teilnehmerzahl der Studie. Man baue auf weitere Untersuchungen des Herstellers, etwa mit längeren Impfabständen. Neben dem AstraZeneca-Impfstoff erhält Südafrika von COVAX zudem als eines von nur 18 Ländern eine größere Ration des Impfstoffs von Biontech/Pfizer. Alina Reichardt