ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2021Öffentlicher Gesundheitsdienst: Debatte um neue Software

POLITIK

Öffentlicher Gesundheitsdienst: Debatte um neue Software

Beerheide, Rebecca

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Die Bemühungen um die Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes treten auf der Stelle: Viele Ämter wollen die von der Bundesregierung kostenfrei zur Verfügung gestellte Software mitten in der Pandemie nicht einführen. Der Druck, aber auch die Unterstützung vor Ort wächst.

Akten auf Papier sollen in den Gesundheitsämtern der Vergangenheit angehören. Foto: picture alliance/dpa/Carsten Koall
Akten auf Papier sollen in den Gesundheitsämtern der Vergangenheit angehören. Foto: picture alliance/dpa/Carsten Koall

Weiterhin herrscht eine große Zurückhaltung bei den Gesundheitsämtern bei der Einführung der Software SORMAS zur Kontaktnachverfolgung in der Pandemie: Nach nun mehreren Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundesregierung sollte eigentlich bis Ende Februar 2021 alle knapp 400 Gesundheitsämter in Deutschland mit der vom Braunschweiger Helmholz-Zentrum entwickelten Nachverfolgungssoftware ausgerüstet werden. Das Bundesgesundheitsministerium übernimmt bis Ende 2021 dafür die Kosten. Allerdings nutzen nach unterschiedlichen Angaben nur zwischen 80 und 150 Ämter in Deutschland die Software. Das Ziel, Ende Februar alle Ämter auszustatten, ist somit nicht erreichbar. Der Deutsche Landkreistag, ein kommunaler Spitzenverband, der knapp 300 Kommunen vertritt, wehrt sich gegen die baldige Einführung. In einem Schreiben an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) heißt es, die angepeilte Entlastung der Gesundheitsämter „von unnötigem Aufwand“ sei nicht zu erreichen. „Wir halten das Ziel einer flächendeckenden Einführung deshalb weder für erstrebenswert noch derzeit erreichbar.“

Trotz Anstrengungen umrüsten

Dagegen appelliert Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Berufsverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, an die Ämter: „Es muss jetzt umgerüstet werden. Auch wenn es in diesem Moment zusätzliche Anstrengung bedeutet“, so Teichert zum Deutschen Ärzteblatt.

Das System SORMAS, erstmals zur Kontaktnachverfolgung der Ebola-Epidemie im Jahr 2014 entwickelt und seitdem weltweit erfolgreich eingesetzt, scheint tatsächlich noch weit von einer bundesweiten Nutzung entfernt zu sein: In einem Bericht der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) von Mitte Januar nutzen von den rund 400 Ämtern gerade 114 eine der verschiedenen SORMAS-Software-Versionen. Hamburg und Rheinland-Pfalz geben an, weiterhin auf eigene Systeme zu setzen, daher sei eine Umstellung „zum jetzigen Zeitpunkt nicht zielführend“.

Laut der Auflistung der GMK hat auch das Saarland und Sachsen bis Ende des Jahres 2020 SORMAS nicht eingesetzt, in Sachsen-Anhalt sowie Schleswig-Holstein hatte jeweils ein Gesundheitsamt SORMAS installiert. In den anderen Bundesländern nutzen etwa 30 bis 40 Prozent der Ämter das Programm. Baden-Württemberg gibt an, in elf Ämtern angeschlossen zu sein, Bayern hat dies in 33 Ämtern umgesetzt, Berlin in fünf Ämtern, Brandenburg in sechs, Hessen in acht Ämtern, Mecklenburg-Vorpommern in fünf Ämtern, Niedersachsen in 14 Ämtern und Nordrhein-Westfalen in 17 Ämtern. Thüringen hat immerhin in der Hälfte der 22 Ämter das Programm. Die Hansestadt Bremen setzt in ihren zwei Gesundheitsämtern die Software ein und hat damit 100 Prozent erfüllt.

Um die Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) weiter voranzubringen, hat sich ein neuer Verbund gegründet: Der „Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit“ (InÖG) will sich für mehr Digitalisierung, Interoperabilität und damit eine bessere Datenlage in der Pandemie einsetzen. Der ehrenamtlich tätige Verbund versteht sich dabei als „Netzwerk aus Projekten“, die momentan vor allem Gesundheitsämter bei der Digitalisierung unterstützen wollen, perspektivisch aber auch andere Akteure im Gesundheitswesen. Entstanden ist die Initiative aus verschiedenen Projekten, sie sich vergangenes Jahr beim bundesweiten Hackathon „WirvsVirus“ zusammen gefunden haben.

Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt betont InÖG-Co-Initiator Achim Löbke, dass es in diesen Wochen in die entscheidende Phase gehe, ob eine digitale Wende im Öffentlichen Gesundheitsdienst gelänge. „Das Thema ist endlich auch in den Landesregierungen angekommen. Da hat der Bund sehr viel Druck gemacht.“ Derzeit befinde man sich in Gesprächen mit den Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Bayern, damit dort in allen Ämtern die Software bald eingeführt werden könne. „Damit rollt der Stein und das kann die Wende bringen.“

Vorbehalte abbauen

Insgesamt müssten die Vorbehalte überwunden und jetzt vor allem die Schnittstelle zu einer Erweiterung des SORMAS-Programms geliefert werden. Mit dem Softwareupdate SORMAS-X könnten Ämter dann auch ihre Daten an die Software des Robert Koch-Institutes „SurvNet“ per Knopfdruck übertragen. Mit SurvNet werden die Daten gemäß Infektionsschutzgesetz erfasst und weitergeleitet. Bislang musste dies offenbar per Hand gemacht werden, was als ein Hindernis für die Einführung von SORMAS gilt. So steht es jedenfalls im Bericht der Ländergesundheitsminister. Die Initiatoren des InÖG sehen die Kritik an der Einführung als „sehr hilfreich“ an: „Das ist ja Teil eines Change-Prozesses, dass es Widerstand gibt. So können wir auf Fragen und Unsicherheiten antworten und unterstützen“, erklärte Anke Sax von der Initiative CIO Cooperate Citizens, die sich im InÖG engagiert. „Es stimmt definitiv nicht, dass die Gesundheitsämter SORMAS oder andere Software nicht wollen“, sagt sie. Vielmehr steige das Verständnis in den Gesprächen. Ebenso zeige sich, dass viele Ämter trotz Belastungen an ihrer Migrationsstrategie arbeiten und man hier zu guten Lösungen kommen könne.

Das politische Ziel, bereits bis Ende Februar 2021 alle Gesundheitsämter in Deutschland mit dem SORMAS-System ausstatten zu können, halten die Initiatoren von InÖG für nicht realistisch. Die Perspektive müsse längerfristiger gedacht werden. „Es entsteht hier Stück für Stück ein digitales Ökosystem, das uns noch die nächsten Monate durch die Pandemie bringen wird“, betont Löbke. Zudem setzten auch andere Länder wie Frankreich und die Schweiz die Software ein, es gebe auch Anfragen aus Tschechien. So könnte für die Zukunft das Pandemiemanagement innerhalb Europas gewährleistet sein. Dafür müssten aber jetzt die Ämter in Deutschland beim Einsatz der Software alle mögliche verfügbare Unterstützung bekommen. „Es braucht jetzt an allen Ecken Zusatzpersonal, damit der Implementierungsprozess funktioniert“, so Löbke. Auch dafür stünden im Verbund des InÖG genügend ehrenamtliche und freiwillige Helfer zur Verfügung sowie professionelle IT-Dienstleister, die bei Bedarf den Bund bei dieser herausfordernden Aufgabe weiter unterstützen können. Rebecca Beerheide

3 Fragen an . . .

Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Berufsverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes

Foto: picture alliance/Eventpress Stauffenberg
Foto: picture alliance/Eventpress Stauffenberg

Frau Teichert, einfach gefragt: Nach all den Bemühungen auf politischer Ebene, wo liegt das Problem bei der Digitalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD)?

Das Problem ist vielschichtig: Viele Ämter haben sich digitale Lösungen selbst programmieren lassen oder sich mit der Situation arrangiert. Da ist es verständlich, dass man jetzt nicht mitten in der Pandemie ein anderes System will. Aber es ist schade, dass wir die Infektionsketten und Kontakte nicht besser überwachen können.

Ihr Appell an die Ämter ist also, dass einheitliche Systeme genutzt werden sollen?

Eindeutig ja, jetzt muss umgerüstet werden. Auch wenn es in diesem Moment zusätzliche Anstrengungen bedeutet. Dabei geht es nicht darum, dass alle Ämter perspektivisch ein System nutzen. Doch der sichere Austausch der Daten muss funktionieren, das heißt: Wir brauchen entsprechende Schnittstellen und Datenformate.

Wenn Sie die Pandemieentwicklung seit einem Jahr beobachten, haben die politischen Entscheidungsträger gerade in Bezug auf den ÖGD zu wenig gelernt?

Die Erkenntnisse in der Politik sind definitiv gewachsen. Sie müssen nur in die Praxis umgesetzt werden. Mit den zusätzlichen Hilfskräften passiert zwar kurzfristig etwas. Aber die Pandemie wird nicht an einem Tag X vorbei sein, das wird länger dauern. Und da wird es auch nicht am Tag X Langeweile in den Ämtern geben, sie müssen jetzt langfristig ausgebaut werden. Der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst läuft für fünf Jahre, aber auch darüber hinaus muss es weitergehen.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote