THEMEN DER ZEIT
Geschlechtersensibilität: Noch ein weiter Weg
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Bei der Integration von geschlechtersensiblen Aspekten in das Medizinstudium gibt es Fortschritte in den letzten Jahren, wie eine aktuelle Befragung an den medizinischen Fakultäten zeigt. Eine flächendeckende systematische Integration ist jedoch noch in weiter Ferne.
Die Gendermedizin und somit eine geschlechtersensible Perspektive trägt zu einer Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung sowohl von Frauen als auch Männern bei. Hintergrund ist dabei vor allem, dass bestimmte Krankheitsbilder wie psychiatrische Erkrankungen oder Osteoporose bei Männern häufig nicht erkannt werden, weil sie vor allem mit Frauen in Verbindung gebracht werden.
Das gilt auch umgekehrt für eher männlich assoziierte Erkrankungen wie beispielsweise die Myokard-ischämie, die in der chronischen Form häufiger bei Frauen vorkommt (1, 2, 3). Zudem gibt es relevante Geschlechterunterschiede in der klinischen Pharmakologie, die bei der ärztlichen Therapie berücksichtigt werden müssen und oftmals nicht hinreichend beachtet werden (3, 4).
Geschlechterunterschiede sind medizinisch relevant
Die geschlechtersensible Medizin nimmt diese Unterschiede von Frauen und Männern bei verschiedenen Erkrankungen in den Blick und berücksichtigt dabei sowohl die biologische („sex“) als auch die soziokulturelle Dimension („gender“) von Erkrankungen. Das soziokulturelle Geschlecht wird mit gesellschaftlichen Erwartungen, Lebensstil, Verhaltensweisen und Lebenserfahrungen in Verbindung gebracht (2). Beide beeinflussen sich gegenseitig und führen nicht nur zu Geschlechterunterschieden bei zahlreichen Erkrankungen, sondern auch zu Unterschieden im Gesundheits- und Präventionsverhalten von Frauen und Männern. Schließlich ist auch die Interaktion zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten stärker als gemeinhin angenommen durch Geschlechteraspekte (Geschlechterstereotype) beeinflusst. So erhalten Frauen zum Beispiel häufiger Psychopharmaka und bekommen insgesamt deutlich mehr Medikamente verschrieben als Männer (3).
Anknüpfend an eine bundesweite Umfrage des Deutschen Ärztinnenbundes von 2016, mit der erstmals erhoben wurde, inwieweit in den Studiengängen der Humanmedizin geschlechterbezogene Aspekte verankert sind und Kenntnisse zu Geschlechterunterschieden vermittelt werden (5, 6), erfolgte 2020 eine Erhebung des aktuellen Stands der Integration geschlechtersensibler Inhalte in das Studium. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit wurde eine Online-Befragung an den Medizinischen Ausbildungsstätten in Deutschland durchgeführt (7).
Wichtiger Bestandteil der Lehre im Medizinstudium
In die Ausgangsstichprobe wurden alle 41 Ausbildungsstandorte der Humanmedizin in Deutschland einbezogen (darunter 37 staatlich finanzierte und vier privat finanzierte). Neben der Befragung der Fakultäten wurden auch Befragungen an den Universitätskliniken in den besonders relevanten Fächern Kardiologie und klinische Pharmakologie durchgeführt. An der Befragung der Fakultäten nahmen 31 der 41 Ausbildungsstätten (75,6 Prozent) teil. Darunter waren 19 Fakultäten mit Regelstudiengängen und acht Fakultäten mit Modell- oder Reformstudiengängen. Vier Fakultäten machten keine Angaben zur Art des angebotenen Studiengangs. Bei der Befragung in der Kardiologie wurden 30 Fragebögen beantwortet (73,2 Prozent) und in der Klinischen Pharmakologie 28 Fragebögen (68,3 Prozent).
Mit Blick auf die Bewertung der Relevanz geschlechtersensibler Aspekte für die spätere Berufstätigkeit von Ärztinnen und Ärzten zeigt sich, dass diese von den befragten Studiendekaninnen und -dekanen als „wichtig“ (zehn Befragte) oder „eher wichtig“ (15 Befragte) bewertet werden. (Grafik 1). Im Vergleich der Studiengänge wird deutlich, dass Angehörige der Fakultäten mit Reform- und Modellstudiengängen die Relevanz deutlich höher beurteilen als Angehörige der Fakultäten mit Regelstudiengängen (Grafik 2). Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass leitende Fakultätsmitglieder oftmals die Bedeutung der Thematik nicht prioritär bewerten – was auch durch eine Studie von Risberg et al. (8) bestätigt wird.
Mit Blick auf die verantwortlichen Strukturen zur Sicherung der Integration von Geschlechteraspekten an den Fakultäten wird deutlich, dass mit sechs Nennungen die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten am häufigsten benannt werden, obwohl dies eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehört. Jeweils fünf Nennungen fallen auf Curriculumskommissionen sowie auf die Lehrenden selbst. Nur an zwei Fakultäten gibt es hauptamtliche Beauftragte für die Integration von Geschlechteraspekten in die Lehre. In der Umfrage von 2016 wurden noch die Lehrenden selbst am häufigsten als Verantwortliche für die Integration benannt und an zweiter Stelle standen die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. Die strukturelle Sicherung der Integra-tion von Geschlechteraspekten hat somit seit der Umfrage von 2016 keine nennenswerten Fortschritte gemacht.
Bessere Integration in Modellstudiengängen
Im Rahmen der Entwicklung reformierter Studiengänge wurden häufig neue Themenfelder wie die der geschlechtersensiblen Medizin implementiert (9). Auch in der aktuellen Befragung wird deutlich, dass in den Modell- und Reformstudiengängen häufiger geschlechtersensible Lehrveranstaltungen angeboten werden als in den Regelstudiengängen (7). Der Vergleich der Curricula zeigt zudem, dass in den Modell- und Reformstudiengängen die Integration von geschlechtersensiblen Inhalten auch strukturell besser gelungen ist als in den traditionellen Regelstudiengängen. An sechs von acht Modell- und Reformstudiengängen existierte eine verantwortlichen Person/Stelle für die Integra-tion von Geschlechteraspekten in die Lehre. Bei den Regelstudiengängen war dies nur bei fünf von 19 Studiengängen der Fall. Allerdings bewegt sich die Integration auch bei den reformierten Curricula nicht auf sehr hohem Niveau – bei der Hälfte ist die Integration lediglich in einzelnen Lehrveranstaltungen gegeben. Die Integration geschlechtersensibler Inhalte in das Assessment ist hier ebenso selten zu finden wie bei den Regelstudiengängen.
Eine systematische Evaluation von geschlechtersensiblen Lehrinhalten und weiterer Diversitätskategorien fehlen immer noch. Eine vollständige longitudinale Integration ist nach wie vor die Ausnahme und wird nur von zwei Fakultäten angegeben (Grafik 3).
In der Erstbefragung von 2016 war es lediglich eine Fakultät (5). Bei 30 Prozent der Medizinischen Fakultäten ist bisher ein mittleres und hohes curriculares Integrationsniveau erreicht worden und bei 70 Prozent ist die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen noch als unzureichend zu bezeichnen, da hier nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen auf die Geschlechterunterschiede aufmerksam gemacht wird.
Kardiologie und Pharmakologie als Vorreiter
Obwohl ein Großteil der befragten Studiendekaninnen und -dekane geschlechtersensible Inhalte in der medizinischen Lehre als relevant erachtet, ist eine nachhaltige strukturelle Integration also bisher nicht gegeben. Einige wichtige geschlechtersensible Inhalte in den Fächern Kardiologie und klinischer Pharmakologie sind dagegen mittlerweile gut in die Lehre integriert. Im Jahr 2016 waren es nur fünf Fakultäten, in denen geschlechtersensible Inhalte in der Kardiologie und klinischen Pharmakologie gelehrt wurden.
Aktuell geben dagegen fast alle befragten Fachvertreterinnen und Vertreter an, relevante Lehrinhalte zu Geschlechterunterschieden in die Ausbildung integriert zu haben. Dies ist also ein erfreulicher Fortschritt gegenüber der Befragung von 2016.
Dennoch bestehen weiterhin deutliche Defizite bei der systematischen, strukturellen Integration von geschlechtersensiblen Lehrinhalten in die Curricula (Grafik 4), bei der Prüfungsrelevanz dieser Inhalte sowie der Evaluation und Qualitätssicherung der vermittelten geschlechtersensiblen Inhalte. Die geschlechtersensiblen Angebote hängen mehrheitlich noch immer sehr stark vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab und sind somit nicht nachhaltig verankert.
Als maßgebliche Barrieren einer verbesserten Integration werden von den Ansprechpartnerinnen und -partnern der Fakultäten häufig ein mangelndes Problembewusstsein sowie die fehlende Qualifizierung der Lehrkräfte genannt. Ein Mangel an bereitgestellten Unterrichtsmaterialien zur Verwendung für die Lehrkräfte und zur Einarbeitung in das Thema wird ebenfalls als Hürde für die Integration von geschlechtersensiblen Aspekten angesehen. In diesem Zusammenhang fehlt es oftmals auch an einer systematischen Berücksichtigung der Thematik in den fachspezifischen Forschungsprojekten sowie in einschlägigen Fach- und Lehrbüchern.
Neue Approbationsordnung bietet Chancen
Die geplante Neukonzeption der ärztlichen Approbationsordnung und die Übernahme von geschlechtersensiblen Lernzielen aus dem Nationalen Lernzielkatalog Medizin (NKLM) in den prüfungsrelevanten Gegenstandskatalog (GK) könnten den Prozess der Integration von geschlechtersensiblen Inhalten maßgeblich vorantreiben. Diese Chance sollte von möglichst vielen Fakultäten genutzt werden.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2021; 118 (9): A 451–4
Anschrift der Verfasser:
Dr. phil. Susanne Dettmer
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
Charitéplatz 1, 10117 Berlin
E-Mail: susanne.dettmer@charite.de
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0921
oder über QR-Code.
Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk: Deutscher Ärztinnenbund
Vertretungsprofessorin Dr. rer. medic. Sabine Ludwig: Hochschule für Gesundheit Bochum
Dr. med. Ute Seeland: Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Physiologie
1. | Kolip P, Hurrelmann K: Geschlecht und Gesundheit: Eine Einführung [Sex, Gender and Health: An Introduction]. In: Kolip P, Hurrelmann K (eds.): Handbuch Geschlecht und Gesundheit. Männer und Frauen im Vergleich. Bern: Hogrefe; 2016. 8–17. |
2. | Regitz-Zagrosek V, Seeland U: Sex and gender differences in clinical medicine. Handb Exp Pharmacol. 2012, 214: 3–22. https://doi.org/10.1007/978-3-642-30726-3_1 CrossRef MEDLINE |
3. | Hamberg K: Gender bias in medicine. Womens Health 2008; 4 (3): 237–43 CrossRef MEDLINE |
4. | Lagro-Janssen, T: Gender and sex: issues in medical education. GMS Z Med Ausbild. 2010; 27 (2): Doc27. DOI: 10.3205/zma-000664 |
5. | Ludwig S, Dettmer S, Peters H, Kaczmarczyk G: Geschlechtsspezifische Medizin in der Lehre – noch in den Kinderschuhen. Dtsch Arztebl 2016; 113 (51): A2364–66 VOLLTEXT |
6. | Richter-Kuhlmann, Eva: Geschlechtermedizin in der Lehre: Bislang nur punktuell integriert. Dtsch Arztebl 2020; 117 (10): A-484/ B-421 VOLLTEXT |
7. | Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenpläne, Ausbildungskonzepte, -curricula und Lernzielkataloge für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/gesundheit/details.html?bmg%5Bpubid%5D=3490. |
8. | Risberg G, Johansson EE, Hamberg K: ‘Important … but of low status: male education leaders’ views on gender in medicine. Med Educ. 2011; 45 (6): 613–24 CrossRef MEDLINE |
9. | Ludwig S, Oertelt-Prigione S, Kurmeyer C, Gross M, Grüters-Kieslich A, Regitz-Zagrosek V, Peters H: A Successful Strategy to Integrate Sex and Gender Medicine into a Newly Developed Medical Curriculum. J Womens Health 2015; 24 (12): 996–1005. DOI: 10.1089/jwh.2015.5249 CrossRef MEDLINE |