

Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen führen einen ständigen Kampf um die Anerkennung ihrer Erfahrungen. Ein Fokus auf Informationen jenseits der „Glaubensfrage“ erscheint daher notwendig.
Sexueller Missbrauch an Kindern ist nach der Definition des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs „jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können“ (1). Unter sexuellen Handlungen wird von verbaler Belästigung und voyeuristischem Taxieren, Fotografieren oder Filmen des Kindeskörpers über sexuellen Handlungen vor dem Kind bis hin zu sexuellen Handlungen am Körper des Kindes eine große Bandbreite an Verhaltensweisen eingeordnet. Bei unter 14-Jährigen ist selbst bei vermeintlichem Einverständnis des Kindes von sexuellem Missbrauch auszugehen, da bei einem jüngeren Alter von einem dafür unzureichenden geistigen Reifegrad ausgegangen wird.
Organisierte Gewalt
Sexueller Kindesmissbrauch, an dem Netzwerke von Personen beteiligt sind, die strategisch Kinder, Jugendliche und teilweise Erwachsene ausbeuten, wird als sexualisierte Gewalt in organisierten Strukturen oder „organisierte Gewalt“ bezeichnet (2). Ziel solcher Strukturen ist häufig ein kommerzieller Gewinn für die Täter-Gruppen, der durch Zwangsprostitution und die Produktion von sogenannter Kinder- und Gewaltpornografie erwirtschaftet wird (3). Aus Berichten von Betroffenen wird deutlich, dass Tätergruppen oft hierarchisch strukturiert und teilweise mit Einfluss auf Machtstrukturen vernetzt sind (4, 5). Neben sexualisierter Gewalt wird in Erfahrungsberichten von betroffenen und helfenden Personen berichtet, dass Täter in organisierten Strukturen Manipula-tionsstrategien anwenden, die auf das Schweigen oder die Unglaubwürdigkeit betroffener Personen abzielen (5). In diesem Zusammenhang wird körperliche Gewalt (zum Beispiel Folter und Verabreichung psychoaktiver Substanzen) und psychische Gewalt (zum Beispiel Überwachung, Bedrohung und Erpressung) berichtet, die Betroffene von Widerstand abhält und diese an die Gruppe bindet. Auch erzwungene Mittäterschaft beschreibt ein Mittel, um Betroffene erpressbar zu machen und sie so zu binden (4). Häufig berichtet wird zudem die strategische Anwendung von Konditionierung, was in der psychologischen Lerntheorie das gezielte Steuern von Verhalten durch Belohnung und Bestrafung bedeutet (3). So werden Betroffene Berichten zufolge durch die Anwendung von Gewalt oder Täuschung (zum Beispiel Manipulation des Realitätsbewusstseins durch inszenierte Ereignisse) darauf trainiert, Anweisungen der Täter und Gruppenregeln (zum Beispiel Schweigegebote) zu befolgen.
Ideologien und rituelle Praktiken
Ein besonderer Typ organisierter Gewalt ist die sogenannte „rituelle Gewalt“, welche durch Ideologien gekennzeichnet ist, die von Tätern zur Sinngebung, Rechtfertigung oder Intensivierung von Gewalttaten genutzt werden (6). Die am häufigsten berichteten Ideologien sind satanistischer, religiöser/freikirchlicher und rechtsextremer Natur (7), wobei neben personenbezogenen Kulten und militärischen Gruppen auch Freimaurer-, esoterisch-schamanische, medizinisch-wissenschaftliche und politisch-assoziierte Ideologien genannt werden (4). Neben der Legitimation bestehender Machtverhältnisse sollen diese Ideologien auch Funktionen für die Gruppen erfüllen, zum Beispiel Gemeinschaft und Sinnhaftigkeit. Für Betroffene, die mit den Weltanschauungen der Tätergruppen aufwachsen, kann es daher eine große Ausstiegshürde sein, sich davon zu lösen und sich in einem neuen Weltbild zu definieren. Im Zusammenhang mit Ideologien beschreiben betroffene Personen als rituelle Praktiken einerseits das Leben nach bestimmten Regelsystemen in Form von Vorschriften, wiederkehrenden Abläufen, Unterwerfungsgesten sowie Schweigegeboten und andererseits Zeremonien, wie zum Beispiel feierliche, nach einem Ritus ablaufende Opferungen von Tieren und Menschen (4). Ob Täter selbst an die Ideologien der Gruppe glauben, ob es sich vielmehr um strategisch verwendete Scheinideologien handelt oder ob beides zutrifft, konnte bisher empirisch nicht ausreichend geklärt werden. Eine Studie deutet darauf hin, dass rituelle Gewalt besonders häufig generationsübergreifend in Familien vorkommt und durch eine stärkere Gewaltintensität charakterisiert ist (7). In diesen Gruppen würden neue Mitglieder hauptsächlich über persönliche und insbesondere Familienbeziehungen rekrutiert oder hineingeboren. Die wechselseitige Kontrolle der Mitglieder untereinander wird hier, Betroffenenberichten zufolge, zusätzlich durch emotionale Bindungen untereinander verstärkt (8).
Traumafolgestörungen
Personen, die Erfahrungen in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen berichten, zeigen häufig Merkmale schwerer dissoziativer Störungen, Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten, somatische oder somatoforme Störungen (zum Beispiel funktionelle gastrointestinale Störungen, Tinnitus, Schmerzen in den Extremitäten) und komplexe posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) (9). Die Hauptdiagnosekriterien der „klassischen“ PTBS sind nach der ICD-11 Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal; die komplexe PTBS ist zusätzlich durch Affektregulationsstörungen, negative Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörungen gekennzeichnet (10). Bei dissoziativen Störungen werden belastende traumaassoziierte Inhalte aus dem bewusst zugänglichen Erleben und Gedächtnis ferngehalten, um die Funktionsfähigkeit der Person aufrechtzuerhalten (11). Typische Symptome sind daher zum Beispiel der Ausfall von Sinnesfunktionen, Gedächtnisverlust sowie Depersonalisation- und Derealisation (das heißt, eine veränderte Wahrnehmung von sich selbst oder der Umwelt). Dissoziative Symptome sind aufgrund ihrer speziellen Phänomenologie schwer zu beschreiben und werden daher von Betroffenen häufig verschwiegen (12).
Dissoziative Identitätsstörungen
Frühe schwere und lang andauernde Gewalterfahrungen können dazu führen, dass in dissoziativen Prozessen getrennte Bewusstseinsstrukturen in der kindlichen und somit noch unreifen Persönlichkeit entstehen (13). Diese Abkapselung nicht zu ertragender traumatischer Erinnerungen kann dabei auch als eine Art Resilienzfaktor verstanden werden, der es betroffenen Personen ermöglicht, weiter zu funktionieren. Eine solche dissoziative Identitätsstörung kann das Erscheinungsbild von verschiedenen mehr oder weniger eigenständigen Persönlichkeiten innerhalb eines Körpers haben, weshalb sie in früheren Diagnosemanualen „multiple Persönlichkeitsstörung“ genannt wurde (14). In der ICD-11 findet sich das Störungsbild umbenannt als (partielle) dissoziative Identitätsstörung (DIS) wieder und wird dort durch verschiedene Persönlichkeitszustände mit jeweils eigenen Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern charakterisiert (10). Eine DIS kann von Tätern durch schwere Gewaltanwendung gezielt hervorgerufen werden (15). Für das Stellen der Diagnose einer DIS sind fundierte Fachkenntnisse notwendig, da die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einigen anderen psychischen Erkrankungen herausfordernd ist. Betroffene berichten selbst, dass sie am häufigsten mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, schizophrenen und psychotischen Störungen fehldiagnostiziert werden (16). Das ist gut vorstellbar, da bei einer DIS die integrativen Funktionen der Identität, des Bewusstseins, des Gedächtnisses und der Sinneswahrnehmung ähnlich beeinträchtigt sein können, wie bei den zuvor genannten Störungen. Unterstützung bei der Diagnostik können Kliniker diagnostische Leitlinien und die darin beschriebenen psychometrischen Messinstrumente und strukturierten klinischen Interviews geben (12).
Polarisierte Narrative
Eine Vielzahl von Berichten an psychosoziale Fachpersonen, an den Fonds Sexueller Missbrauch (Fachkreis, 2018), an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) (17) und in den hier beschriebenen wissenschaftlichen Studien liegen nun vor. Gleichzeitig wird die sogenannte „Glaubensfrage“ weiterhin stark polarisiert diskutiert. Dabei dementieren skeptische Personen Erfahrungsberichte als (zum Beispiel in der Psychotherapie suggerierte) Pseudoerinnerungen (sogenannte „false memories“). In einer gemeinsamen Stellungnahme der Emanuelstiftung Bonn, Lichtstrahlen Oldenburg e.V. und Mosaik gegen Gewalt e.V. (18) beschreiben diese Organisationen ihre Beobachtung zweier Extreme: Die öffentliche Diskussion zum Thema organisierte und rituelle Gewalt bewege sich zwischen unsachlichen Weltverschwörungsfantasien wie der QAnon-Bewegung (19) einerseits und False-Memory-Argumentationen (20) andererseits. Pauschalaussagen würden bisherigen wissenschaftlichen Befunden nicht gerecht und führten zwangsläufig entweder zu Übertreibung oder zu Verleugnung. Folglich fordern die Verfassenden mehr Offenheit gegenüber sachlichen Informationen zu organisierter und ritueller Gewalt (18). Der den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch bei diesem Thema unterstützende Betroffenenrat vermutet den Grund der gängigen Verleugnung darin, dass die Ausübung gemeinsam sorgfältig geplanter und inszenierter Gewalt für viele Menschen eine unerträgliche Vorstellung sei (21).
Die Suche nach Belegen für die Existenz oder Nichtexistenz von organisierter und ritueller Gewalt betrifft auch wissenschaftliche Projekte. Die empirische Datenlage zum Thema ist bislang wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen begrenzt: Vielen bisher publizierten Studien lag zunächst eine inhomogene Definition des Begriffs ritueller Gewalt zugrunde. Auch stellt sich das Anwenden wissenschaftliche Evidenzkriterien in diesem Kontext als schwierig dar. Zudem kann eine hohe Dunkelziffer betroffener Personen vermutet werden, da es einen großen Anteil an Betroffenen von organisierter und ritueller Gewalt geben könnte, für die eine Preisgabe von Informationen durch die beschriebenen Manipulationsstrategien der Tätergruppen und ihren eigenen psychischen Folgestörungen erschwert ist. Die seit 2017 vom Bundesfamilienministerium geförderten wissenschaftlichen Projekte zu organisierter und ritueller Gewalt sind ein wichtiger erster Schritt, um mehr Licht ins Dunkel zu bringen und die Situation Betroffener zu verbessern.
- Zitierweise dieses Beitrags:
PP 2021; 19 (3): 115–6
Anschrift für die Verfassenden:
Dr. phil. Johanna Schröder, Dipl.-Psych.
Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52,
20246 Hamburg
Interessenkonflikte: Peer Briken ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0321
Bilanzbericht 2019, Band I. Berlin 2019.
betroffenenrates-zum-umgang-mit-ritueller-Gewalt (last accessed on 11 September 2019).
Dr. phil. Schröder,
Prof. Dr. med. Briken
Gast, Ursula