ArchivDeutsches Ärzteblatt PP3/2021Interview mit Dr. phil. Brigitte Schigl, Psychotherapeutin, Gesundheitspsychologin und Lehrtherapeutin: „Vergleichbar mit einem kreativen kunsthandwerklichen Prozess“

THEMEN DER ZEIT: Interview

Interview mit Dr. phil. Brigitte Schigl, Psychotherapeutin, Gesundheitspsychologin und Lehrtherapeutin: „Vergleichbar mit einem kreativen kunsthandwerklichen Prozess“

Britten, Uwe

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Gewusst wie: Für die richtigen therapeutischen Interventionen gibt es keine „Rezepte“, wohl aber Bedingungen. Und die lassen sich herstellen.

Gibt es einen siebten Sinn für therapeutische Interventionen?

Prof. Dr. phil. Brigitte Schigl ist Psychotherapeutin, Supervisorin, und lehrt in der Ausbildung von Psychotherapeutinnen und Psychologinnen an der Karl Landsteiner Universität und an der Donau Universität in Krems. Von ihr und anderen erschien unter anderem „Wirkung, Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“ im Facultas Verlag. Foto: KL/A. Reischer
Prof. Dr. phil. Brigitte Schigl ist Psychotherapeutin, Supervisorin, und lehrt in der Ausbildung von Psychotherapeutinnen und Psychologinnen an der Karl Landsteiner Universität und an der Donau Universität in Krems. Von ihr und anderen erschien unter anderem „Wirkung, Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“ im Facultas Verlag. Foto: KL/A. Reischer

Brigitte Schigl: Hm, „jain“. Wie für jede andere Tätigkeit auch gibt es für die Psychotherapie Begabungen, aber die allein reichen nicht aus. Es bedarf sowohl einer gründlichen Ausbildung als auch Erfahrung. Die Ausbildung gibt uns den theoretischen Rahmen, in dem wir unsere Intuitionen und Erfahrung interpretieren. Alle psychotherapeutischen Ansätze erklären ja aus ihrer Sicht das psychische Geschehen und seine Dynamik und haben Theorien, welche Interventionen hilfreich sind.

Gibt es ein therapeutisches Verhalten, das die Passgenauigkeit von Interventionen erleichtert?

Schigl: Das ist so einfach nicht zu beantworten. Carl Rogers hat drei Grundvariablen postuliert: Authentizität, Wertschätzung und Empathie. Das ist sicher eine Basis, um gut therapeutisch intervenieren können. Ich glaube, dass das aber noch nicht ausreicht, und würde noch innere Flexibilität ergänzen. Die nämlich brauchen wir, um mit den ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich erinnere mich an einen Patienten, der sich extrem schwertat, sich auszudrücken. Mit so jemandem müssen wir genauso arbeiten können wie mit einer eloquenten Universitätsprofessorin. Wir müssen über eine Grundfähigkeit verfügen, um auf Menschen zugehen zu können. Nur dann können wir psychotherapeutische Gespräche initiieren und entsprechende Atmosphären schaffen.

Wir können sagen, dass sich die Passung einer Intervention aus der therapeutischen Beziehung und aus den Erfordernissen der aktuellen Situation ergeben sollte. Es gibt dafür keine Rezepte. Deshalb müssen wir auch aufpassen bei manualisierten Vorgehensweisen. Es gibt nicht für eine bestimmte Situation die immer passende Intervention. Unsere Arbeit ist vergleichbar mit einem kreativen, fast künstlerischen, zumindest kunsthandwerklichen Prozess. So finden wir dann auch unsere individuelle Arbeitsweise, unseren eigenen therapeutischen Stil. Gleichzeitig müssen wir auch flexibel bleiben und immer auch nachjustieren und korrigieren können.

Bei aller Authentizität und Spontaneität: Wie lassen sich die Gegenübertragungseffekte kontrollieren?

Schigl: Gegenübertragungen brauchen wir nicht zu „kontrollieren“ im Sinne von „vermeiden“, weil sie sehr nützlich dafür sind, uns durch das Gespräch zu navigieren. Es wäre fehlgegriffen zu wünschen, dass wir keine Gegenübertragungen haben sollten, denn sie haben einen hohen diagnostischen Charakter. Wenn wir in den Sitzungen mit einer bestimmten Klientin immer eine hohe eigene leibliche Angespanntheit spüren und in ein extremes Bemühen wechseln, dann wäre es natürlich gar nicht gut, diese Gegenübertragung zu unterdrücken. Stattdessen müssen wir sie uns anschauen. Vielleicht fühlen wir uns dieser Person nicht gewachsen, fühlen uns vielleicht insuffizient. Unter Umständen wird uns dabei bewusst, dass wir generell schnell zu diesen Gefühlen neigen. Oder wir nehmen damit den inneren Druck wahr, den die Klientin selbst hat. Beides wären ja wichtige Informationen für die weitere Arbeit.

Idealerweise durchschauen wir diese Mechanismen während des therapeutischen Prozesses und können darauf reagieren.

Interventionen werden vorrangig vom konkreten Inhalt des Gesprächs abgeleitet, gibt es aber auch manchmal den Impuls zu denken: Ich brauche jetzt eine Verblüffung beim Klienten?

Schigl: Manchmal ja, ein Beispiel dafür ist die paradoxe Intervention. Gerade die systemische Therapie verwendet sie häufiger, um einen Inhalt zu „reframen“, also in einen neuen Kontext zu stellen. Man kann der Patientin die positiven Folgen der Panikerkrankung vor Augen führen: Dann kommt sie vielleicht zu der Erkenntnis, dass die Panikattacken dafür sorgen, dass der Ehemann ständig bei ihr sein muss. Er kann sich nicht mit anderen verabreden, weil sie sonst ja eine Panikattacke bekäme. Solche Einblicke können für die Patientin durchaus verblüffend sein und zu wichtigen Erkenntnissen führen.

Welche sind die häufigsten therapeutischen Missgriffe?

Schigl: Die häufigsten sind sicher die, die wir „Alltagsfehler“ nennen. Da passiert uns einfach ein Missgeschick. Beispielsweise lacht die Klientin über sich selbst, aber indem wir nun mitlachen, fühlt sie sich ausgelacht. Oder wir machen einen Fehler in der Organisation des Therapietages. Wir können uns solche Fehler immer auch tiefenpsychologisch ansehen und vielleicht geben sie hin und wieder auch mal einen wichtigen Hinweis auf uns selbst.

Problematischer sind jene Fehler, die wir entweder aus mangelnder Kompetenz machen oder weil sie aus der Persönlichkeit herrühren. Wer selbst schnell kränkbar ist, geht vielleicht mit Patienten mal etwas härter um, als es therapeutisch sinnvoll ist. Oder andere wollen gerne immer als nett erscheinen und lassen sich deshalb schnell „einwickeln“. Problematisch ist auch, wenn wir etwa einen Patienten annehmen, obwohl wir uns mit dem Krankheitsbild nicht genügend auskennen.

Was sind typische Anfängerfehler?

Schigl: Zum einen, zu angespannt zu sein und dem Gespräch, der Erzählung des Patienten nicht seinen Lauf lassen zu können, zum anderen zu schnell zu viel zu wollen. In Supervisionen höre ich immer wieder, dass jemand sagt, schon ganz viel Interventionen ausprobiert zu haben, aber es sei immer noch nichts passiert. „Was soll ich denn jetzt noch tun?“, lautet dann die Frage an die Supervisorin. Das ist dann zu viel Aktionismus.

Und die erfahrenen Therapeuten, welche Fehler machen die?

Schigl: Die machen natürlich auch Fehler, aber andere. Die glauben zu oft, sie wüssten schon alles. Erfahrung ist natürlich gut und wichtig, aber es gibt in der Psychotherapieforschung die Erkenntnis, dass die jüngeren Therapeutinnen und Therapeuten die mangelnde Erfahrung durch Engagement ausgleichen. Die anfängliche Unsicherheit wird im Laufe der Berufsjahre zu mehr Sicherheit, aber eine zu große Sicherheit kann auch dazu führen, etwas zu übersehen und zu glauben, wir wissen schon, wie es geht. Darauf müssen wir Erfahreneren achten.

Wie korrigiert man am besten therapeutische Missgriffe?

Schigl: Erst einmal müssen wir sie erkennen und uns eingestehen. Wir müssen uns anschauen, woraus der Missgriff entstanden ist. Bei Alltagsfehlern können wir vielleicht noch innerhalb derselben Sitzung reagieren. Wir merken, dass sich die Patientin zurückzieht, und fragen nach, ob etwas war und ob unser Eindruck richtig ist, dass sie sich so verhält. Oder aber uns wird der Fehler erst später bewusst, dann müssen wir es in der direkt nächsten Sitzung von uns aus ansprechen.

Ist die Vertrauensbeziehung gut, dann helfen uns manchmal auch die Patienten, indem sie das Vorgefallene von sich aus ansprechen. Dazu müssen wir ihnen aber auch immer wieder sagen, dass sie es ausdrücken sollen, wenn für sie etwas nicht stimmt. Allein schon mit Fragen danach, wie es der Patientin mit der Therapeutin geht, wie sie die Zusammenarbeit empfindet, wie sie die Passung erlebt, verbessert schon die therapeutische Beziehung.

Bei Interventionen denken wir meistens zuerst an verbale Interventionen, aber das Nonverbale ist ja nicht unwichtig.

Schigl: Natürlich laufen ganz viele nonverbale Interventionen ab. Das fängt bei meinem Zugewandtsein und der Mimik an und geht bis hin dazu, dass ich mich neben eine Klientin setze, die ganz heftig weint, und sie frage, ob ich sie mal in den Arm nehmen dürfe. Oder ich lege ihr die Hand auf die Schulter. Dabei kann man natürlich genauso falschliegen. Auch das zuvor schon angesprochene Mitlachen ist ja eine nonverbale Intervention.

Es geht nicht immer nur um verbale Deutungen, sondern auch um das körperlichsprachliche Feintuning. Natürlich passieren dabei Fehler, gerade bei körperlichen Berührungen können auch mal unangenehme Empfindungen ausgelöst werden.

Wenn Sie mal an eine Therapiesituation denken, in der das Gespräch schwierig und vertrackt ist, Sie selbst ratlos sind und es Ihnen am liebsten wäre, jetzt einfach nur schweigen zu können – was tun Sie dann?

Schigl: Nun ja, wahrscheinlich schweigen … Aber: Es kommt natürlich darauf an, wie ich die Patientin einschätze. Ist meine Annahme, dass mein Schweigen von ihr als eine Art Bestrafung erlebt wird, dann würde ich etwas sagen. Wir müssen also ganz schnell reflektieren, was ein Schweigen auslösen könnte. Mal zu schweigen, wenn man ratlos ist, ist aber sicher eine der weisesten Handlungen, die wir setzen können. Ein Schweigen kann den therapeutischen Raum öffnen, damit etwas Neues kommt.

Schlimmer als Schweigen ist es, wenn man planlos weiter haspelt und plötzlich gar nicht mehr weiß, wie man jetzt darauf gekommen ist und wohin man eigentlich will. Schweigen kann also durchaus weise sein.

Das Gespräch führte Uwe Britten.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote