MEDIZINREPORT
Cannabisbasierte Arzneimittel: Therapieoption für die Psyche


Schon länger ist bekannt, dass Cannabis beziehungsweise cannabishaltige Arzneimittel zur Schmerzlinderung eingesetzt werden können. Doch es mehren sich die Studien, dass THC und CBD auch bei psychischen Erkrankungen eine sinnvolle Therapieoption darstellen könnten.
Die Hanfpflanze Cannabis sativa enthält etwa 144 bekannte Phytocannabinoide, die beiden bekanntesten Wirkstoffe daraus sind Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Cannabisbasierte Arzneimittel werden anhand ihres unterschiedlichen THC- und CBD-Gehalts entweder in THC-dominante, THC/CBD-balancierte oder CBD-dominante Produkte gegliedert.
Die Erforschung der Cannabinoide im Hanf führte zur Entdeckung des Endocannabinoid-Systems (ECS) im Nervensystem von Vertebraten: Es besteht unter anderem aus den Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 und ihren endogenen und exogenen Liganden, die als Agonisten (z. B. THC) oder Antagonisten (z. B. CBD) wirken können. Die körpereigenen Liganden des ECS werden als Endocannabinoide bezeichnet, zu ihnen zählt
zum Beispiel das in seiner Wirkung dem THC ähnelnde Anandamid.
Das ECS wirkt modulierend
zum Beispiel bei der Stressverarbeitung und der Aufrechterhaltung der homöostatischen Balance. Es ist außerdem beteiligt an der Steuerung von Emotionen, kognitiven Funktionen, Motivation, Neuroprotektion und Neurogenese, Myelinisierung, Nozizeption, motorischer Aktivität sowie Immun- und Entzündungsprozessen.
Es wird diskutiert, dass Veränderungen im ECS wie beispielsweise ein Endocannabinoid-Mangel beziehungsweise eine Dysfunktion des Systems auch mit psychischen Störungen wie Ängsten, Schizophrenie, Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) assoziiert sein könnten. Daher werden die Komponenten des ECS als mögliche Biomarker zur Diagnose, Prognose und Prädiktion der Wirksamkeit von Therapien auch bei psychischen Erkrankungen untersucht (1).
Aktuelle Datenlage
Bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zeigte sich, dass die Datenlage zum Einsatz cannabisbasierter Arzneimittel in der Psychiatrie noch der Verbesserung bedarf, aber durchaus auch positive Signale liefert. Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover stellte einen Review von 83 Studien vor, der zu dem Schluss kommt, dass die Evidenz dafür, dass Cannabinoide in den untersuchten Indikationen eine Symptomverbesserung erzielen können, gering ist. Untersucht wurden unter anderem Angststörungen, Schlafstörungen, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie das Tourette-Syndrom und Depressionen. Es fehle in großem Umfang an qualitativ hochwertigen Studien, die ausreichend gepowert seien, um den direkten Einfluss von Cannabinoiden bei psychischen Störungen zu untersuchen, schlussfolgerten die Studienautoren (2).
Ein weiterer Review aus dem Jahr 2020 kommt zu einem ebenfalls eher kritischen Fazit: Es lägen zwar erste Hinweise auf die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei einer Reihe von psychischen Erkrankungen vor, die aber noch nicht ausreichten, um konkrete Behandlungsstrategien abzuleiten, schreiben die Autoren. Was sich aus dem Review ableiten ließ, war, dass CBD tendenziell dazu beizutragen könnte, soziale Ängste zu reduzieren und als Add-on bestimmte Symptome bei einer Schizophrenie zu verbessern. Die Autoren berichten, dass kleine Fallstudien außerdem auf mögliche positive Einflüsse von medizinischem Cannabis bei Schlafstörungen und PTBS hindeuten. Sie geben jedoch zu bedenken, dass bei hoch dosierten THC-Formulierungen besondere Vorsicht geboten sei. Diese sollten unter anderem nicht bei jugendlichen Patienten und bei Patienten mit Ängsten oder psychotischen Störungen zum Einsatz kommen (3)
Engmaschige Kontrolle
Patienten, die cannabisbasierte Therapien nutzten, sollten vom Behandler engmaschig kontrolliert und nur schrittweise auftitriert werden, betonte Müller-Vahl. Eine etwas bessere, wenn auch nur moderate Evidenz zum Einsatz von Cannabinoiden in der Medizin liege für die Behandlung von chronischen Schmerzen und Spastik vor, ergänzte die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie (4). Dem gegenüber würden im Bereich psychischer Störungen immer noch qualitativ hochwertige, randomisiert-kontrollierte Studien mit Vergleich zu Standardtherapien benötigt, um die Effektivität und Sicherheit von medizinischen Cannabinoiden adäquat beurteilen zu können, schlussfolgerte Müller-Vahl.
Zugelassene Therapien
Das Therapiespektrum cannabinoidhaltiger Präparate mit einer definierten Zusammensetzung und Zulassungsstatus sei mit 3 verfügbaren Optionen aktuell sehr übersichtlich, berichtete Dr. Dennis Stracke, Apotheker aus Berlin.
Da ist zum einen das THC/CBD-balancierte Fertigarzneimittel Nabiximols (Sativex®). Es handelt sich dabei um ein Oromukosal-Spray, von dem ein Sprühstoß 2,7 mg THC, 2,5 mg CBD und 0,04 g Ethanol enthält. Nabiximols ist zugelassen für die Behandlung der therapieresistenten Spastik bei multipler Sklerose (MS). Die mittlere Dosis bei MS beträgt 8 Sprühstöße. Höhere Dosen von bis zu 16 Sprühstößen könnten auf Missbrauch hindeuten, gab Prof. Dr. med. habil. Dr. rer. nat. Ursula Havemann-Reinecke, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in Göttingen, zu bedenken. Insbesondere Patienten, bei denen Suchterkrankungen vorlägen, könnten dazu neigen, Nabiximols zu missbrauchen.
Häufige Nebenwirkungen von Nabiximols sind schwach bis mäßige Schwindelanfälle in den ersten Wochen. Träten Angst, Desorientierung, Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Suizidgedanken auf, sollte Nabiximols abgesetzt werden, so Havemann-Reinecke. Kontraindiziert ist das Präparat bei stillenden Patientinnen und bei Patienten mit einer bekannten oder vermuteten Anamnese von Schizophrenie oder anderen psychischen Störungen mit Ausnahme einer Depression, die mit der zugrunde liegenden Erkrankung in Verbindung steht.
Weitere bekannte Nebenwirkungen, die im Zusammenhang mit Cannabinoiden als Medikament auftreten können, sind beispielsweise trockener Mund, Übelkeit, Erbrechen, Euphorie und Durchfall. Pleiotrope Effekte von Cannabinoiden beträfen bestimmte Enzyme wie beispielsweise CYP3A4-, CYP2C8/9-, CYP2D6-Inhibitoren bei THC sowie CYP3A4- und CYP2C9/C19-Inhibitoren bei CBD, so Havemann-Reinecke. So können CYP2C8/9-vermittelte Interaktionen beispielsweise in Kombination mit Warfarin und Clobazam auftreten.
Nabilon (Canemes®, Kapseln mit jeweils 7–8 mg Dronabinol) ist das zweite auf dem deutschen Markt verfügbare cannabinoidhaltige Präparat. Es ist ein vollsynthetisches Derivat von Dronabinol (Synonym für THC) zur Reduktion von Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie bei Patienten mit malignen Tumoren.
Allerdings ist die Liste von Arzneistoffen, mit denen Nabilon inter-agiert laut Havemann-Reinecke relativ lang: Diese umfasst beispielsweise Symphathomimetika, Anticholinergika, Antidepressiva, Opioide und Benzodiazepine.
Außerdem zur Verfügung steht das CBD-dominante Produkt Epidyolex® (CBD-Vollextrakt, 100 mg/ ml), welches beim Lennox-Gastaut-Syndrom und beim Dravet-Syndrom als Kombinationstherapie zur Verminderung epilepsiebedingter Krampfanfällen in Betracht gezogen werden kann.
Zulassungsfreie Rezepturen
Cannabinoidbasierte Rezepturen wie Monopräparate, Cannabis-Extrakte und Cannabisblüten haben keine Zulassungspflicht. Sie werden nach Erfahrung von Stracke in der Praxis häufiger verordnet. Das jeweilige Arzneimittel werde je nach ärztlicher Verschreibung patientenindividuell in der Apotheke angefertigt, so der Berliner Apotheker.
Der Verordner bestimmt die Zusammensetzung, Darreichungsform sowie Indikation der Rezeptur. Eine Therapie mit THC- und CBD-basierten Rezepturen sollte bei der geringsten Dosierung beginnen und langsam aufdosiert werden, gab Stracke zu bedenken. Flüssige Darreichungsformen sind aufgrund definierter Wirkstoffkonzentrationen besser dosierbar und einfacher zu applizieren als beispielsweise eine inhalative Anwendung von Cannabisblüten durch Vaporisation.
Monopräparate mit den Wirkstoffen Dronabinol und Cannabidiol sind zur oralen Anwendung als ölige und Ethanol-Lösungen sowie als Kapseln in unterschiedlichen Konzentrationen verfügbar. Optional ist auch eine rektale Darreichungsform (Suppositorien, Rektal-Lösungen) möglich, zum Beispiel bei Patienten mit Dysphagie oder einer PEG-Sonde (Sondenernährung).
Die Wirkstoffe Dronabinol (Anfangsdosis/Tag: 1,7–2,5 mg) und Cannabidiol (Anfangsdosis/Tag: wenige mg bis mehrere 100 mg) seien kombinierbar, so Stracke. Ölige Cannabis-Vollspektrum-Extrakte (Anfangsdosis/Tag: 1–2,5 mg) mit verschiedenen THC- und CBD-Anteilen zur oralen Anwendung (oder ggf. auch zur rektalen Applikation) werden in der Zubereitung konzentriert oder verdünnt eingesetzt. Trägerlösungen sind beispielsweise Traubenkernöl (z. B. THC 25 mg/ml, THC:CBD 10 mg/ml, THC:CBD 5 mg:20 mg/ml), Sesamöl (z. B. THC 50 mg/g, THC:CBD 50 mg/g, CBD 50 mg/g) oder mittelkettige Triglyceride (THC 5 %; 50 mg/g).
Als Therapieoption auf Rezepturbasis steht seit Kurzem außerdem ein wässriger Cannabis-Extrakt mit THC (CannaXan 701–1.1; 0,3 mg/0,14 ml) zur Verfügung. Ein entsprechender CBD-dominanter Extrakt soll folgen. Diese wären dann ebenfalls kombinierbar, so Stracke. Der wässrige Cannabis-Extrakt ist ein oromukosales Mundspray zur Anwendung auf einer Wangeninnenseite oder unter der Zunge. Mögliche Vorteile des Mundsprays sind Stracke zufolge eine geringere systemische Belastung mit Cannabinoiden, ein schneller Wirkeintritt und potenziell weniger Nebenwirkungen.
Cannabisblüten mit Nachteilen
Cannabisblüten zur medizinischen Anwendung (Anfangsdosis/Tag: 25–50 mg) weisen je nach Sorte und Auswahl zum Teil sehr stark unterschiedliche THC- und CBD-Gehalte auf. Vor der Anwendung sollten Cannabisblüten zur Verbesserung der Dosiergenauigkeit zerkleinert und gesiebt werden. Wenn die Kosten einer cannabisbasierten Therapie von der Krankenkasse übernommen würden, gelte dies beispielsweise auch für die Abrechnung von Vaporisatoren, so Stracke.
Trotz eines schnellen Wirkeintritts mit der inhalativen Anwendung durch Vaporisation lassen sich Cannabisblüten zur medizinischen Anwendung nur ungenau dosieren, was die Risiken für Überdosierungen beziehungsweise Missbrauch und für das Auftreten von Nebenwirkungen erhöhen kann.
Stracke geht daher davon aus, dass sich besser dosierbare Darreichungsformen und Applikationshilfen in der Praxis etablieren werden. Havemann-Reinecke gab außerdem zu bedenken, dass die hohe Pflanzenvariabilität bezogen auf die Gesamtheit der Cannabinoide die Umsetzung von differenzierten klinischen Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisblüten erschwere. Dr. rer. nat. Christine Willen
Therapeutische Möglichkeiten von CBD
Cannabidiol (CBD) erfreut sich seit einiger Zeit auch außerhalb der klinischen Anwendung großer Beliebtheit. Erhältlich ist es über das Internet, in spezialisierten CBD-Shops und selbst in einigen Cafés – trotz derzeit noch unklarer Rechtslage hinsichtlich der freien Erhältlichkeit.
Dem CBD-Öl werden alle möglichen Feel-good-Effekte nachgesagt, doch die genaue physiologische Wirkung von CBD ist komplex und im Detail noch nicht vollständig aufgeklärt. Bekannt ist, dass CBD die Cannabinoid-Rezeptoren im Endocannabinoidsystem aktivieren oder inhibieren kann. So antagonisiere es beispielsweise die Wirkung von THC an CB1/CB2-Rezeptoren, berichtete PD Dr. rer. nat. Eva Hoch, Leiterin der Forschergruppe Cannabinoide an der LMU Klinik Psychiatrie und Psychotherapie in München, beim DGPPN-Kongress.
CBD könnte ein breites therapeutisches Potenzial besitzen, da es möglicherweise anxiolytische, antipsychotische, analgetische, antiinflammatorische, antioxidative und antikonvulsive Effekte aufweise, so Hoch. Doch die medizinische Evidenz zum Einsatz von CBD sei bis auf den Bereich Epilepsie noch immer sehr gering. Bei seltenen, schwer therapierbaren kindlichen Epilepsien konnten mit einer Kombination aus einem CBD-haltigen Arzneimittel und Clobazam Krampfanfälle reduziert werden.
Weitere Untersuchungen zu CBD bei Psychosen, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und chronischen Schmerzen zeigen mitunter keine signifikanten oder heterogenen Ergebnisse. Bisherige Humanstudien dokumentieren eine gute Verträglichkeit von CBD als Arznei, allerdings sind Neben- und Wechselwirkungen wie Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Somnolenz und erhöhte Leberwerte möglich. Da viele wichtige Fragen, etwa zum Wirkmechanismus und zur Langzeitanwendung sowie -wirkung nach wie vor ungeklärt seien, bestehe weiterhin erheblicher Forschungsbedarf zum Einsatz von CBD-basierten Medikamenten, resümierte Hoch.
1. | Navarrete F, García-Gutiérrez MS, Jurado-Barba R, et al.: Endocannabinoid System Components as Potential Biomarkers in Psychiatry. Front Psychiatry 2020 Apr 20; doi: 10.3389/fpsyt.2020.00315 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Black N, Stockings M, Campbell G, et al.: Cannabinoids for the treatment of mental disorders and symptoms of mental disorders: a systematic review and meta-analysis. Lancet Psychiatry 2019; 6 (12): 995–1010 CrossRef |
3. | Sarris J, Sinclair J, Karamacoska D, et al.: Medicinal cannabis for psychiatric disorders: a clinically-focused systematic review. BMC Psychiatry 2020; 16; 20 (1): 24 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
4. | Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S, et al.: Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA 2015; 313 (24): 2456–73 CrossRef MEDLINE |
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.