ArchivDeutsches Ärzteblatt10/2021Von schräg unten: Gleichung für Arztbriefe

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Von schräg unten: Gleichung für Arztbriefe

Böhmeke, Thomas

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Das Wissen der Menschheit wächst exponentiell und mittels Internet ist es fast überall verfügbar. Das ist wunderbar, jedoch wie alles auf der Welt mit kleinen Nebenwirkungen behaftet: Angesichts der Informationsflut fühlt man sich förmlich erschlagen und nicht mehr imstande, sich eine umfassende Meinung zu bilden, weil die Masse der Informationen die Kapazität des intellektuellen Verdauungstraktes überfordert. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Menschen heute nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen sehnen, ich übrigens auch.

Und daher habe ich eine späte Liebe zu einem Fach entwickelt, für das ich f rüher weder Sympathien noch Kompetenz übrig hatte: der Mathematik. Denn diese arbeitet mit Gleichheitszeichen, die sich in unserer verwirrenden Welt durch eine wohltuende Zuverlässigkeit und Klarheit auszeichnen, die allen Variablen ein definiertes Yin und Yang zuordnen. Gleichungen sind frei von Fantasien und Verrücktheiten, sie kennen keine Konjunktive und lassen sich weder durch Schmeicheleien noch durch Schimpf und Schande aus der Balance bringen.

Meine Lieblingsgleichungen sind übrigens die Kontinuitäts- und die Bernoulli-Gleichung, damit kommt man in der Kardiologie unglaublich weit. Es gibt auch weniger liebenswerte Gleichungen wie 4 x 1/4 = 1: Jedes Quartal beziehungsweise zu jeder Jahreszeit zerrt uns das Finanzamt Geld vom Konto, dies gilt für 1 = die Jahreseinkommenssteuer. Dem gegenüber erfreut sich die Gleichung 5 x 1/4 = 0 (die Mathematiker unter uns mögen jetzt bitte keinen Herzanfall kriegen) besonders in Köln und Düsseldorf größter Beliebtheit: Für die fünfte Jahreszeit ist keine Steuer fällig.

Eigentlich ist alles in unserem schönen durchregulierten Land derart definiert, in Formeln und Formulierungen gefasst. Wirklich alles? Meines Wissens nach existiert keine Formel für Arztbriefe und das ist schade. Arztbriefe leiden nämlich, so habe ich im Laufe meines Arztlebens festgestellt, zunehmend unter der Funktion x = 2y, das heißt mittels Textverarbeitungssystemen nimmt der Umfang von Arztbriefen exponentiell zu. Wobei, so darf ich aus langer Selbsterfahrung berichten, für den Adressaten folgende Formel des Frohsinns gilt: L = 1/S. Das heißt, die gute Laune beim Lesen von Arztbriefen verhält sich reziprok zur Anzahl der zu lesenden Seiten. Ich selbst begrenze meine Arztbriefe seit vielen Jahren auf eine Seite, dies gelingt ganz einfach, wenn man Redundanzen minimiert. Gemäß einer nicht ganz repräsentativen (n = 8) Umfrage konnte ich für die Variablen E (Einseitigkeit meiner Arztbriefe) und A (Akzeptanz seitens des Adressaten) einen Korrelationskoeffizienten von 1 ermitteln, also einen vollständig positiven linearen Zusammenhang. Ha! Jetzt werde ich mich unsterblich machen und die Böhmeke-Formel für den perfekten Arztbrief erfinden!

Aber bevor ich diese höchst komplexe Gleichung formuliere, zeige ich der Besten aller Ehefrauen, was ich Sensationelles zu Papier gebracht habe. Sie meint: „Willst Du eine ehrliche Antwort?“ Ja, natürlich, wenn Du sagst, dass es fantastisch ist! „Naja, was Du geschrieben hast, ist mindestens so kompliziert wie diese umfangreichen Arztbriefe, mit denen Du fremdelst. Machʼs Dir doch einfach und halte Dich an den guten alten Goethe, der alles schon auf den Punkt gebracht hat: Ich schreibe Dir einen langen Brief, weil ich keine Zeit habe, einen kurzen zu schreiben.“

Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.

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