ArchivDeutsches Ärzteblatt11/2021Wissenschaft: Plötzlich berühmt

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Wissenschaft: Plötzlich berühmt

Eckert, Nadine

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Die Coronapandemie hat in vielen Bereichen der Medizin zu gewaltigen Veränderungen geführt. Oft übersehene Fachbereiche wie die Virologie, Krankenhaushygiene und Epidemiologie standen plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Und auch die Forschungslandschaft war im vergangenen Jahr von der Bekämpfung von SARS-CoV-2 geprägt.

Foto: Vit Kovalcik/stock.adobe.com
Foto: Vit Kovalcik/stock.adobe.com

Einen besonders heftigen Schubs ins Rampenlicht erlebten in 2020 sicherlich die Virologen. Die ganze Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und Politik liegt seit Pandemiebeginn auf dem kleinen Fachgebiet. „Vorher hat sich niemand für uns interessiert“, sagt Prof. Dr. med. Sandra Ciesek, die am Universitätsklinikum Frankfurt die Medizinische Virologie leitet. „Jetzt kommen täglich Presseanfragen von allen möglichen Medien“, erzählt die Fachärztin für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, die im vergangenen Jahr selbst der New York Times Rede und Antwort stand.

„Das Interesse der Medien an unserem Fach ist gleichsam explodiert“, bestätigt Prof. Dr. med. Hartmut Hengel. Der Ärztliche Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg begrüßt, dass auf diesem Weg das Wissen der breiten Öffentlichkeit zu den elementaren Grundbegriffen der Infektionsmedizin und Epidemiologie zugenommen hat. Er sieht das ungewohnte Medieninteresse allerdings ambivalent, denn „unangenehme, politisch getroffene Entscheidungen in der Pandemiebekämpfung seien auf diese Weise oft „der Virologie“ und „den Virologen“ angelastet worden.

Noch mehr Aufklärungsarbeit

Dass Wissenschaft ein vielschichtiger, kontroverser Prozess der Wahrheitssuche sei, der die Unsicherheit der Aussage und den Irrtum notwendigerweise einschließe, sei von den Medien nicht immer vermittelt worden. „Hier gibt es noch sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten“, so Hengel. Auch Ciesek wirft die Frage auf, ob der Öffentlichkeit wirklich ausreichend Informationen zur Verfügung gestellt werden. Denn nicht nur die Anfragen der Medien haben bei der Frankfurter Virologin stark zugenommen: „Ich bekomme auch extrem viele E-Mails von medizinischen Laien, die Fragen haben – insbesondere auch zur Impfung.“

Ob die Expertise der Virologen langfristig so stark gefragt sein wird, daran zweifelt Ciesek allerdings. Sie befürchtet: „Ich denke, sobald das Coronavirus keine Einschränkungen mehr im Alltag mit sich bringt, dann werden viele Menschen eher genervt davon sein und nichts mehr darüber hören wollen.“ Sie hat aber die Hoffnung, dass der Virologie zumindest das Interesse im Kollegenkreis sowie bei den Medizinstudierenden erhalten bleibt.

Bei der Virologie handelt es sich um einen Teilaspekt des Facharztes für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. „In den letzten Jahren wurde beim Nachbesetzen von Lehrstühlen für Virologie häufig diskutiert, ob man das Fach überhaupt braucht und ob nicht ein Mikrobiologe die Diagnostik mitmachen kann“, berichtet Ciesek. „Viele Lehrstühle wurden geschlossen oder zusammengelegt, speziell in Ostdeutschland.“

Klinische Bedeutung klargestellt

Es sei immer schon ein Problem gewesen, dass die klinische Bedeutung der Virologie unterschätzt worden sei. Doch: „Ich glaube, durch die Pandemie haben jetzt viele Leute verstanden, dass die klinische Virologie ein wichtiges Fach ist und das Wissen darüber nicht verloren gehen darf, indem man einen Lehrstuhl nach dem anderen schließt“, so Ciesek.

Und auch beim Nachwuchs steigt offenbar das Bewusstsein für die Virologie als mögliches Betätigungsfeld. „Wenn ich heute eine PhD-Stelle für Biologen ausschreibe, dann bewerben sich deutlich mehr Leute als vor der Pandemie. Und auch bei den Ärzten steigt das Interesse an der Virologie. „Ich glaube, dass viele das Fach bewusster wahrnehmen; wir haben jetzt auch mehr PJler als zuvor.“ Der ideale Bewerber für die klinische Virologie müsse auch Interesse an der Forschung haben. „Auch ich selber bin auf dem ‚zweiten Bildungsweg‘ zur Virologie gekommen“, berichtet Ciesek, die zuvor 13 Jahre lang als Internistin und Gastroenterologin praktiziert hatte. Üblicherweise bietet die Virologie dem Facharzt nämlich Vorteile, die im Medizinbetrieb durchaus nicht selbstverständlich sind: „Ein Grund für meinen Wechsel von der Inneren Medizin in die Virologie waren die geregelten Arbeitszeiten und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, berichtet Ciesek. Auch wenn davon in der Pandemie nicht viel übrig geblieben ist.

„Momentan haben wir eine wahnsinnig hohe Arbeitsbelastung, arbeiten sieben Tage die Woche“, so die Medizinerin. Auch der Freiburger Virologe Hengel berichtet von einem „dramatisch veränderten Berufsalltag für alle Virologinnen und Virologen in der Medizin“. Die Arbeit gegen die Pandemie habe alles andere zurückgedrängt, das erhöhte Arbeitsvolumen und die ständig wechselnden Herausforderungen alle Mitarbeitenden chronisch erschöpft.

Allerdings berichtet der Virologe auch von einer neuen Wertschätzung seiner Arbeit durch die klinischen Kolleginnen und Kollegen. Eine Erfahrung, die im Laufe der Pandemie auch noch ein anderes Fachgebiet gemacht hat: „Wir retten viele Menschen vor Ungemach, werden aber – solange wir unseren Job gut machen – nicht wahrgenommen“, sagt Prof. Dr. med. Iris Chaberny, Direktorin des Instituts für Hygiene, Krankenhaushygiene und Umweltmedizin am Universitätsklinikum Leipzig.

Hygiene im Aufwind

Auch für die Krankenhaushygieniker habe sich der Berufsalltag in der Pandemie massiv verändert, berichtet Chaberny. „Seit März 2020 haben wir über 1 900 positive Patienten hier in der Klinik gehabt. Unsere Teams haben von 7 bis 19 Uhr Kontaktnachverfolgung gemacht und auch am Wochenende gearbeitet.“

In der Vor-Corona-Zeit hätten die Empfehlungen der Krankenhaushygieniker mitunter zu langen Diskussionen darüber geführt, ob diese denn wirklich unbedingt umgesetzt werden müssten. „Das ist jetzt in der Pandemiephase genau umgekehrt“, so Chaberny. „Wenn wir jetzt sagen, dass etwas so und so gemacht werden muss, dann wird das genau so gemacht, ohne Diskussionen.“ Insgesamt sei die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen enger geworden, berichtet sie.

Und auch einen positiven Aspekt kann die Krankenhaushygienikerin der Pandemie abgewinnen: „Für unser Fachgebiet ist das schon spannend. Ausbruchsmanagement ist schließlich unser Job, ob nun im Kleinen auf einer Station oder die ganze Klinik. Das sind genau die Handwerkssachen, die wir lernen und lehren.“

Und auch die Virologin Ciesek betont: „Das ist etwas, das ich nie vergessen werde, im negativen, aber auch im positiven Sinn, eine Pandemie von Anfang bis Ende mitzuerleben, das ist schließlich mein Beruf.“ Sie schätzt das Gefühl, mit ihrer Arbeit einen Beitrag leisten zu können, um die Auswirkungen der Pandemie zu lindern, durch Wissenschaftskommunikation, aber vor allem auch durch wissenschaftliche Forschung.

Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat im vergangenen Jahr Medizin und Forschung einschneidend verändert. Foto: Photocreo Bednarek/stock.adobe.com
Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat im vergangenen Jahr Medizin und Forschung einschneidend verändert. Foto: Photocreo Bednarek/stock.adobe.com

Ebenso wie die Frankfurter Virologin wünscht sich Chaberny, dass es in ihrem Fach mehr Lehrstühle gebe. „Es kann nicht sein, dass wir 39 medizinische Fakultätsstandorte haben, aber nur zehn Lehrstühle und Institute für Krankenhaushygiene. Das ist zu wenig, denn wir sehen, wie wichtig diese Ausbildung ist.“ Mikrobiologen und Virologen könnten die Hygiene nicht abdecken, so Chaberny, sie müssten sich um den individuellen Patienten kümmern, während der Krankenhaushygieniker im Bereich Public Health arbeite.

Ob die neue Wertschätzung ihres Fachgebiets allerdings dauerhafte Veränderungen nach sich ziehen wird, ist für Chaberny fraglich: „Ich befürchte, dass wir bei vielen Dingen wieder in alte Verhaltensweisen zurückfallen werden. Sie appelliert deshalb an die Ärzteschaft, „die Erfahrungen aus der Pandemie mitzunehmen und daran weiterzuarbeiten, miteinander und nicht gegeneinander“. Ein erster wichtiger Schritt sei hier das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM).

Und auch Ciesek betont, dass die jetzt geschaffenen Strukturen wie etwa das NUM nicht wieder völlig fallen gelassen werden sollten, sobald „das Virus aus unserem Alltag verschwunden ist“. „Wir müssen sie zumindest im kleinen Rahmen aufrecht erhalten, um auf eine nächste Pandemie oder anderes Ereignis besser vorbereitet zu sein und dann nicht wieder völlig neu anfangen zu müssen.

Langfristige Strategien nötig

Und Hengel erinnert daran: „Selbst wenn wir in Deutschland bis zum Herbst eine weitgehende Kontrolle über das Virus erreicht haben, setzt sich das pandemische Geschehen in vielen Ländern fort, wo es keine ausreichenden Impfprogramme gibt.“ Der Freiburger Virologe geht davon aus, dass dort langfristig neue SARS-CoV-2-Varianten entstehen und regelmäßig nach Deutschland importiert werden. Daher müssten langfristige und nachhaltige Strategien der Viruskontrolle entwickelt werden. Eine entscheidende Rolle hierbei spielen Hengel zufolge eine gut organisierte molekulare Surveillance sowie die leicht anpassbaren mRNA-Impfstoffe.

Große Veränderungen hat die Coronapandemie auch für die Wissenschaftslandschaft mit sich gebracht. Der Fokus auf die Erforschung und Bewältigung der Coronapandemie habe zu einer Depriorisierung anderer Forschungsgebiete geführt, wie die HIV-Forscherin Prof. Dr. rer. nat. Christine Goffinet vom Institut für Virologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin berichtet. Wie viele andere Arbeitnehmer mussten auch Wissenschaftler so weit es geht ins Homeoffice wechseln. „Alle nichtexperimentellen Tätigkeiten, wie Daten auswerten oder Manuskripte und Anträge schreiben, erfolgen seit dem Frühjahr weitestgehend von zu Hause, Meetings finden fast nur noch virtuell statt“, berichtet Goffinet. Doch nicht alles lässt sich von zu Hause erledigen: Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 sei zeitweise die Arbeit an Nicht-SARS-CoV-2-Projekten formal nicht mehr erlaubt gewesen – auch Labore unterlägen Kontaktbeschränkungen. „Nur essenzielle HIV-Experimente, deren Stoppen in einen großen finanziellen oder wissenschaftlichen Schaden gemündet hätte, durften vollendet werden.“ Und selbst wenn die Möglichkeit zum experimentellem Arbeiten bestand, kam es mitunter vor, dass es an Plastikmaterial, Handschuhen und Masken mangelte, die prioritär an Klinik und Diagnostik für den akuten Bedarf bei der Patientenversorgung gingen. In Deutschland habe das glücklicherweise meist vermieden werden können, berichtet Goffinet.

Als positiv bewertet Goffinet, dass viele Förderorganisationen flexibel und auf die Situation angepasst reagiert hätten: „Die Laufzeit unserer DFG-Projekte zu HIV durfte unter leicht erfüllbaren Voraussetzungen verlängert werden; zusätzliche Gelder für die trotz ‚Laborlockdown‘ weiterlaufenden Personalmittel konnten formlos beantragt werden.“

Projektbezogene Finanzierung

Für die Braunschweiger Infektionsepidemiologin Dr. med Berit Lange hat die Coronapandemie allerdings auch zutage gebracht, dass die größtenteils projektbezogene Förderung der Forschung in Deutschland problematisch sein kann. „Man bekommt eine Finanzierung für ein bestimmtes Projekt über einen bestimmten Zeitraum, für das man dann Personal einstellen kann. Dieses Personal kann man nicht ohne Probleme für die Coronaforschung umwidmen.“

Lange leitet in der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig die Klinische Epidemiologie. Schon früh in der Pandemie wurde dort die Entscheidung getroffen, die Abteilung Epidemiologie weitgehend auf die Erforschung von SARS-CoV-2, entsprechende Beratung von Entscheidungsträgern und Entwicklung von Instrumenten zur Bewältigung der Pandemie, umzustellen. Grund dafür war die Ausrichtung der Abteilung: „Wir sind eine von relativ wenigen Einrichtungen in Deutschland, die primär zur Infektionsepidemiologie forschen.“ Dass das geklappt habe, sei aber nicht selbstverständlich und nicht unbedingt auf andere Forschungsgruppen übertragbar.

Die Projektträger zeigten zwar Verständnis und verlängerten die Laufzeit der Projekte, dies aber häufig kostenneutral, es gab also nicht mehr Geld. „Doch man muss die Leute in dieser Zeit auch weiter beschäftigen und nicht immer gibt es sofort eine Finanzierung für das Coronaprojekt. Das sind Probleme, die uns noch etwas weiter beschäftigen werden“, ist sich die Epidemiologin sicher.

Denn solange alle wissenschaftlichen Mitarbeiter größtenteils projektbezogen bezahlt werden, ist es schwierig, personelle Kapazitäten vorzuhalten, die beim Ausbruch einer Pandemie schnell eingesetzt werden können. „Wenn man will, dass an Tag 3 einer sich ankündigenden Pandemie eine umfassende Infektionsmodellierung vorliegt, die den zuständigen Entscheidungsträgern wirklich weiterhilft, dann brauche ich die Kapazitäten vorher“, sagt Lange. Das bedeute aber auch, eine ganze Zeit personelle Kapazitäten vorzuhalten, die nicht sofort direkt für Deutschland nützliche Ergebnisse liefern. Nur allzu oft seien ihre Anträge auf Förderung von Projektträgern abgelehnt worden mit dem Einwand, dass das Forschungsprojekt für Deutschland keine Relevanz habe, berichtet Lange, die vor der Pandemie lange im Bereich Tuberkulose geforscht hat.

Nicht alle virologischen Forschungsgruppen haben ihre Arbeit komplett auf SARS-CoV-2 umgestellt, dennoch bestand bei vielen der Wunsch, ebenfalls einen Beitrag zu leisten. „Die Verlockung, an einem gänzlich neuen, akuten, pandemischen Virus von höchster Relevanz zu arbeiten, hat bei vielen ungeahnte Kräfte freigesetzt“, berichtet Goffinet. Nicht wenige HIV-Forschungsgruppen, die sich bisher nie wissenschaftlich mit Coronaviren beschäftigt hätten, hätten Teile ihres Forschungsprogramms neu ausgerichtet.

Auch die Arbeitsgruppe der Berliner HIV-Forscherin entschied sich, ihre mit einigem Aufwand etablierte Einzelzellsequenzierungstechnologie zunächst auf Material von COVID-19-Patienten anzuwenden, anstatt wie vorgesehen von HIV-Patienten. Die Pandemie habe deutlich gemacht, welche Kräfte in der Forschung mobilisiert werden können.

Neue Priorisierung erforderlich

Diese gestiegene Geschwindigkeit und Interdisziplinarität habe aber nicht nur gute Seiten: „Der Grat zwischen einem unvoreingenommenen, konstruktiven Blick auf ein neues Virus und dem Verlassen der ureigenen Expertise ist schmal.“ Auch dass die Datenqualität zunehmend der Quantität weiche, sei ein bereits vor der Coronaviruspandemie existierendes Phänomen, das sich nun noch verstärkt habe.

Die Berliner HIV-Forscherin betont außerdem, – ebenso wie Lange – dass vorausschauendes Agieren besser gewesen wäre als schnelles Mobilisieren. Tatsächlich standen viele Forschungsprogramme zu Coronaviren nach dem Ende der ersten SARS-CoV-Pandemie 2002/2003 unter Rechtfertigungsdruck. „Jetzt ist in der breiten Gesellschaft angekommen, wie wichtig die prospektive Erforschung von pathogenen Infektionserregern mit Zoonosepotenzial ist“, betont Goffinet. Spätestens jetzt wäre es angebracht, der Infektionsforschung insgesamt eine weitaus höhere Priorität als bisher zuzugestehen. Nadine Eckert

Lesen Sie ausführliche Interviews unter http://daebl.de/VQ73

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