ArchivDeutsches Ärzteblatt11/2021Ambulante Versorgung: Herausforderung bestanden

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Ambulante Versorgung: Herausforderung bestanden

Haserück, Andre

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Die ambulante Versorgung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschlands Gesundheitssystem die COVID-19-Pandemie im internationalen Vergleich bisher gut bewältigt. Nun kommt es darauf an, aus den Erfahrungen für die Zeit nach der Coronakrise zu lernen.

Foto: Kzenon/stock.adobe.com
Foto: Kzenon/stock.adobe.com

Das deutsche Gesundheitssystem wurde durch die Coronapandemie einem enormen Stresstest ausgesetzt – welcher aber, Stand jetzt, gemeistert werden konnte. Ähnlich wie die in der stationären Versorgung tätigen Kolleginnen und Kollegen bewiesen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte viel Improvisations- und Anpassungstalent, Geduld und Engagement.

Neben dem eindrücklich erbrachten Nachweis der Einsatzbereitschaft der Ärzteschaft lieferten die pandemiebedingten Umstände aber auch Eindrücke von strukturellen und regulatorischen Reibungsverlusten, politischem Kompetenzgerangel und mangelnder Wertschätzung des Geleisteten.

Welche Lehren lassen sich also aus dem Umgang mit der Coronakrise ziehen? Welche Aspekte müssten angegangen werden, um das Gesundheitssystem noch resilienter und leistungsfähiger zu machen? Und wie können systemische Optimierungen den Versorgungsalltag der einzelnen Arztpraxen unterstützen?

Unberechenbarkeit gestiegen

Denn, darauf wies unter anderem die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mehrfach hin, mehr als 90 Prozent der COVID-19-Patienten wurden und werden von den niedergelassenen Hausärzten und Fachärzten behandelt. Dazu, wie dies neben der oftmals noch parallel geleisteten Arbeit in Test- und Impfteams bewerkstelligt wird, hat die Redaktion des Deutschen Ärzteblattes unter anderem mit Dr. med. Doris Reinhardt, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Pandemiebeauftragte der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg für den Ortenaukreis, gesprochen. Reinhardt zufolge hat im Berufsalltag vor allem die Unberechenbarkeit respektive Nichtplanbarkeit „massiv“ zugenommen. Dies betreffe einerseits organisatorische und regulatorische Aspekte wie zum Beispiel bei der Teststrategie. Wer darf wann getestet werden und welche Regelung beziehungsweise Abrechnungsziffer gilt? Ähnliches drohe sich nun im Rahmen der Coronaimpfpriorisierung mit ihren Landes- und Bundesregelungen zu wiederholen.

Foto: privat
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Schwierig hätten sich auch die Kalkulationen und Planungen bezüglich der Coronaschwerpunktpraxen in Baden-Württemberg gestaltet, insbesondere bei der Test- und Schutzausrüstung. Hinzu seien die notwendigen schnellen und flexiblen Reaktionen auf SARS-CoV-2-Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen gekommen – inklusive kurzfristiger Durchtestung in der Mittagspause.

Hohe Belastung

Teststellen einrichten, aufbauen und organisieren sowie Kollegen für die zusätzlichen Dienste gewinnen: All dies fiel für Reinhardt und weitere engagierte Ärzte im Alltag und auch in der eigenen Urlaubs- beziehungsweise Vertretungszeit sowie ganz besonders in der Weihnachtszeit an. Bei dem nahtlosen Übergang in die Umsetzung der Impfstrategie sei das im ersten Pandemiejahr aufgebaute Netzwerk sehr hilfreich gewesen. „Sportlich“ bliebe all das neben der eigenen Praxis aber allemal. Akzeptiere man die ständige Erreichbarkeit als Fakt, könne man auch die Möglichkeit wertschätzen, sofort reagieren zu können.

Von einer ständig erforderlichen Reaktionsbereitschaft und Flexibilität berichtet auch Dr. med. Anke Speth, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Rüdersdorf bei Berlin. So hätten vor allem die sich ständig ändernden Testverordnungen und dazu gehörenden Abrechnungsvorschriften, die zum Teil auch noch sehr schwer zu verstehen seien, für viel Bürokratie gesorgt.

„In einer Kinderarztpraxis ist eh schon immer viel an ,Papierkram‘, aber das letzte Jahr war unerträglich.“ Anke Speth, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Rüdersdorf. Foto: privat
„In einer Kinderarztpraxis ist eh schon immer viel an ,Papierkram‘, aber das letzte Jahr war unerträglich.“ Anke Speth, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in Rüdersdorf. Foto: privat

„Am schlimmsten ist es, wenn es etwas umzusetzen gilt, das man vielleicht am Abend vorher aus der Presse erfährt, es möglichst sofort durchführen soll und weder die Modalitäten noch die Abrechnung dafür geklärt sind.“ Zur Klärung und Umsetzung seien viele Telefon- und Videokonferenzen notwendig gewesen, meist nach Praxisschluss. Zudem habe die Beteiligung des Personals an Abstrichstellen für PCR-Testungen, später auch Impfungen in Pflegeheimen der Umgebung sowie in Impfzentren des Landes geplant werden müssen. Auch hätten Arztpraxen und Krankenhäuser Beratungsfunktion für Dinge übernommen, die ursprünglich andere Behörden tangieren – etwa bezüglich Testverordnungen, Quarantänevorschriften oder Anordnungen des Gesundheitsamtes.

Möglichkeiten, um dem Coronastress zu begegnen, bestünden in einer guten Organisationsstruktur, dem gelungenen Umgang mit Ambiguität, Flexibilität, einer bewusst pragmatischen Entscheidungsfindung sowie in kollegialen Netzwerken im Tun, so Reinhardt. Die kollegiale Erfahrung des sich fachübergreifend Unterstützens werde nachhaltig wirken, da ist sich die Allgemeinmedizinerin aus Friesenheim in Baden-Württemberg sicher.

Als „großes Plus“ sieht auch Speth die Kooperationen und den kontinuierlichen Austausch mit Niedergelassenen der Region. So habe man etwa bei hohen Inzidenzraten und dem Ausfall von Praxen durch Erkrankungen oder Quarantäne die Patientenbetreuung sicherstellen sowie Erfahrungen austauschen können.

Um diesen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen der Region und im Idealfall ganzen Ärztenetzen im Sinne einer umfassenden Patientenversorgung zu verstetigen, wünscht sich die Fachärztin eine Weiterentwicklung von digitalen Plattformen, die mit Praxissystemen und Krankenhaussoftware kompatibel sind. Generell hätten digitale Anwendungen sehr nützlich sein können – aber man stehe hier noch ganz am Beginn des Möglichen. Zudem würden die Anwender in den Arztpraxen zu wenig einbezogen und zu wenig berücksichtigt, was sie wirklich benötigen.

Bei den bisher erfolgten Entwicklungen im Digitalbereich sieht Speth den Großteil des Nutzens aufseiten der Krankenkassen und eben nicht bei den Arztpraxen oder Patienten. Auch wenn mit dem Alltag nach der Coronapandemie möglicherweise ein Zurückfallen in alte Muster drohe, sei es sinnvoll, bestimmte Versorgungs- und Organisationskonzepte beizubehalten. Etwa das Konzept von Infektsprechstunden, die Beratung ohne Vorstellung in der Praxis, wenn die Erkrankung es erlaubt (zum Beispiel per Videotelefonie) und in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit der Krankschreibung für drei Tage ohne persönliche Arztvorstellung.

Die im Rahmen der Pandemiebedingungen gesammelten Erfahrungen würden, so Reinhardts Einschätzung, auch dafür sorgen, dass grundsätzliche Hygieneprinzipien dauerhaft und verstärkt Einzug in die medizinische Versorgung halten.

Gespannt blickt sie auf darüber hinausgehende Entwicklungen. Ein „Must-have“ stellt aus ihrer Sicht die flächendeckende hausärztliche Versorgung dar. „Die aktuellen Aktivitäten der Hochschulen, die neue Approbation als nicht finanzierbar zu torpedieren“, bedeute bei der nächsten Pandemie ein Versagen der Gesundheitsversorgung mit Ansage. Auch angesichts der alternden Gesellschaft sei man auf eine umfassende Versorgung durch Hausärzte angewiesen. Wenn die Politik es mit dem Anspruch auf hausärztliche Versorgung ernst meine, dann müsse die neue Approbationsordnung wie geplant in Kraft treten.

Kritisch sieht Reinhardt auch die aktuell vorgesehenen Regelungen beim Thema Coronaschutzimpfungen in den Praxen der niedergelassenen Ärzte. Hier zeige sich, dass wieder keine adäquate Wertschätzung für den entstehenden Aufwand abgebildet wird. „Aufklärung und Nachbeobachtung: ‚all-inclusive‘.“

„Als Pilotpraxis in meinem Landkreis weiß ich in sechs Wochen, ob das kostendeckend mit den derzeitigen Planungen umsetzbar ist“, so Reinhardt. Das viele Drumherum an Arbeit und Aufwand werde wie bei der Durchführung von PCR-Tests in den Praxen und vor allem bei den Flächentests ausgeblendet oder gar negiert und damit nicht für Wert befunden. So sei kostendeckendes, oder gar mit Gewinn, Wirtschaften definitiv nicht möglich.

Föderale Struktur überdenken

Zwar habe es einen – allerdings veralteten – bundesweiten Plan für die Pandemiebekämpfung gegeben, trotzdem sei niemand auf die erste Coronawelle vorbereitet gewesen, kritisiert Speth. Die föderale Struktur habe zum Teil wirksame Maßnahmen und Kooperationen verhindert. So habe es beispielsweise völlig unterschiedliche Herangehensweisen zur Terminierung von Impfungen in Berlin und Brandenburg gegeben. Andererseits seien regional differenzierte Lösungsansätze auch nicht konsequent genutzt worden. Zu denken sei aus ihrer Sicht etwa an größere Impfzentren in der Großstadt mit gutem Nahverkehr und kleinteiligere Lösungen im Flächenland.

Neben Vereinfachungen der teilweise unverständlichen und unpraktischen starren Bürokratieregelungen sieht Speth deshalb auch systemisch-organisatorische Überlegungen als dringend notwendig an. Andre Haserück

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