POLITIK
Digitaler Grüner Nachweis: Wie die EU Reisen erleichtern will


Ein EU-weit anerkanntes Smartphone-Zertifikat soll den Europäern wieder mehr Freiheiten ermöglichen. Neben Coronaimpfungen soll es auch Testergebnisse und überstandene Krankheiten dokumentieren. Experten warnen dennoch vor zu viel Urlaubsoptimismus.
Ab Juni soll es erstmals ein in der gesamtem EU anerkanntes digitales Zertifikat geben, mit dem die Europäer sich wieder frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen können sollen. Über einen scannbaren QR-Code soll es Auskunft darüber geben, ob der Inhaber gegen SARS-CoV-2 geimpft wurde und zudem die Ergebnisse zugelassener PCR- und Schnelltests sowie Informationen zu einer durchgemachten COVID-19-Erkrankung anzeigen.
Jedes Mitgliedsland soll dafür eine eigene interoperable Anwendung entwickeln. Die EU will ein für alle nutzbares Zugangsportal zur Verfügung stellen und die Länder bei der Entwicklung einer Software unterstützen, mit der die Zertifikate EU-weit ausgelesen werden können. Dabei sollen keine personenbezogenen Daten gespeichert werden. In der vergangenen Woche legte die Kommission den Vorschlag für eine entsprechende Verordnung vor. Die Garantie für einen sorgenfreien Sommerurlaub ist das von der EU geplante Dokument aber keineswegs, sagen Experten.
Warnung vor Fälschungen
Lange hatte die EU gezögert, sich verbindlich zu einem gemeinsamen Nachweis für Impfungen gegen SARS-CoV-2 zu äußern. Zu groß war die Angst, noch nicht Geimpfte zu diskriminieren und damit noch mehr Kritik an lahmenden Impfstofflieferungen und zu langsamen Zulassungsprozessen heraufzubeschwören.
Doch die besonders vom Tourismus abhängigen Mitgliedstaaten wie Griechenland, Spanien oder Österreich hatten schon mit Zulassung des ersten Impfstoffs im Dezember begonnen, zu drängen.
Im Januar drohten einige bereits mit bilateralen Absprachen, Griechenland verhandelte über einen gemeinsamen Reisekorridor mit Israel, das den Europäern beim Impfen weit voraus ist. Knapp die Hälfte der Mitgliedstaaten tüftelte im Februar bereits an eigenen digitalen Impfnachweisen, die das Reisen wieder möglich machen sollten. Zeitgleich gab Europol eine Frühwarnmeldung über den Verkauf falscher negativer COVID-19-Testnachweise heraus. Es drohte ein Flickenteppich aus Einzellösungen und ein florierender Schwarzmarkt.
Die jetzt von der Kommission vorgelegte Verordnung soll das verhindern. „Das Zertifikat soll im gesamten europäischen Wirtschaftsraum gelten“, erklärte der für Justiz zuständige EU-Kommissar Didier Reynders. So liefen derzeit bereits Gespräche mit Nicht-EU-Mitgliedern wie Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, um dies zu ermöglichen.
Wenn der Rat der Europäischen Union und das EU-Parlament den Vorschlag der Kommission annehmen, sollen auch EU-Bürger, die in anderen Teilen der Welt leben, das Zertifikat bekommen können. Das Gleiche soll für nicht in der EU lebende Angehörige von EU-Bürgern sowie Nicht-EU-Bürger mit Wohnsitz in oder Reiseerlaubnis für die EU gelten. Ausstellen soll es jeweils das Land, in dem der Zertifikatsinhaber entweder geimpft, getestet oder gegen COVID-19 behandelt wurde.
Diskriminierung vermieden
Die jeweiligen Nachweise sollen an jeder Grenze anerkannt werden – der Impfnachweis allerdings nur, wenn es sich um einen von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zugelassenen Impfstoff handelt. „Wenn der verwendete Impfstoff nicht durch die EMA autorisiert wurde, müssen die Mitgliedstaaten selbst entscheiden, wie sie verfahren“, sagte Reynders mit Blick etwa auf Ungarn, wo seit Februar auch der russische Impfstoff Sputnik V verimpft wird. Die EMA hat die Prüfung des Stoffs bislang nicht abgeschlossen.
Explizite Berechtigungen sind an den sogenannten Digitalen Grünen Nachweis nicht geknüpft – anders als bei seinem Vorbild, dem israelischen „Green Pass“, mit dem die bereits geimpfte Bevölkerung seit Februar wieder Bars, Fitnessstudios oder auch Schwimmbäder besuchen kann. Durch die zusätzliche Aufnahme von Testergebnissen und Krankheitsdaten habe man die Diskriminierung noch nicht geimpfter Menschen vermieden, erklärte Reynders.
So sieht es auch Professor Dr. iur. Christian Pestalozza, Mitglied der Ethik-Kommissionen des Landes und der Ärztekammer Berlin und an der Freien Universität Berlin unter anderem zuständig für Verfassungsrecht und Medizinrecht in der Europäischen Union.
„Der Grundgedanke, alle drei Nachweise aufzunehmen ist richtig“, so Pestalozza. Ein Zertifikat zu entwickeln, das lediglich Impfungen nachweist, sei zum jetzigen Zeitpunkt unrealistisch. „Es sind zu wenige geimpft, zu viele würden sich benachteiligt fühlen“, meint der Jurist. Dennoch sei das geplante Zertifikat nicht mit Reisefreiheit gleichzusetzen.
Zwar garantiere der Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) den Bürgern der EU das Recht, sich innerhalb der Mitgliedstaaten frei zu bewegen. „Und die EU ist verpflichtet, diese Freizügigkeit zu erleichtern, das ist die Rechtsgrundlage für das Zertifikat“, erklärt Pestalozza. Dieser Pflicht komme die EU nach, denn dass mit dem Zertifikat erstmals alle EU-Mitglieder ein in wesentlichen Punkten einheitliches Impfdokument hätten, mache die Bewegung innerhalb der EU während der Pandemie einfacher. „Trotzdem ist es nur ein technisches Hilfsmittel, es garantiert nicht, dass man in irgendein Land einreisen darf“, so Pestalozza.
Aus Gründen des Gesundheitsschutzes könne das Recht auf Freizügigkeit weiterhin eingeschränkt werden. „Wenn bis zum Sommer nicht klar ist, dass Geimpfte keine Virusüberträger sind, wäre es völlig nachvollziehbar, wenn ein Land beispielsweise einen Impfnachweis nicht als Einreisegarantie akzeptiert.“
Zwar sollen Mitgliedstaaten die Nachweisinhaber auch nach dem Beschluss noch zu einer Quarantäne oder weiteren Tests verpflichten, dies der Kommission zuvor mitteilen und begründen, heißt es in der Verordnung. „Doch wenn ein Nationalstaat das beschließt, beispielsweise weil die Inzidenz wieder steigt, kann die EU rechtlich nur schwer dagegen vorgehen“, sagt Pestalozza.
Nachweise zusammendenken
Ohnehin brauche man noch mehr Wissen darüber, inwieweit Impfungen vor einer Ansteckung anderer schützen, um über den finalen Nutzen des Nachweises zu entscheiden, ist auch Dr. phil. Julia Inthorn überzeugt. Die Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum ist Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und plädiert dafür, die verschiedenen Nachweise künftig noch mehr zusammenzudenken.
„PCR-Tests zielen darauf ab, die Weitergabe des Virus einzuschränken, die Impfung setzt bei schweren Krankheitsverläufen an. Von daher bin ich froh, dass beide Aspekte in den Nachweis aufgenommen wurden“, so Inthorn. Nun werde man schauen müssen, welche Auswirkungen der EU-Nachweis auf bestimmte Betroffenengruppen hat. „Ebenso wie bei der Impfpriorisierung muss man dann gegebenenfalls noch nachjustieren.“
Es sei noch zu klären, in welchem Verhältnis die Freiheiten des Einzelnen zu der Freiheit sich impfen zu lassen stehen. „Aber so lange nicht jeder die Möglichkeit hatte sich impfen zu lassen, wäre es unfair, nur Geimpften bestimmte Freiheiten wieder einzuräumen“, erklärt Inthorn. Alina Reichardt
So sollen die Nachweise aussehen
Da die Gesundheitssysteme in jedem Land der EU anders organisiert und digitale Daten in unterschiedlichem Maße verfügbar sind, war eine EU-übergreifende Version für den „Digitalen Grünen Nachweis“ nicht möglich. Einige Punkte müssen jedoch alle Länder einhalten. So soll das Zertifikat kostenfrei und auf Wunsch auch in Papierform zur Verfügung stehen. Enthalten soll es nur einen minimalen Datensatz, darunter Name und Geburtsdatum sowie Informationen über die verwendeten Impfstoffe, Tests oder die Genesung. Ein QR-Code soll diese Angaben verschlüsselt enthalten und die Sicherheit und Authentizität des Zertifikats sicherstellen, heißt es in einer Erklärung der Kommission. Die Daten werden lokal auf dem Smartphone des Zertifikatsinhabers und nicht zentral gespeichert. Das Bundesgesundheitsministerium hat den Auftrag für die Entwicklung der deutschen Version an das US-Unternehmen IBM sowie das Kölner Start-up Urbich vergeben, das bereits QR-Codes für die Coronaimpfnachweise zweier süddeutscher Landkreise entworfen hatte. Auch die Genossenschaft govdigital und der IT-Systemanbieter Bechtle sind beteiligt. alir