

Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca und seltener Hirnvenenthrombosen haben das Impfprogramm in Deutschland vorübergehend ins Straucheln gebracht. Die Beurteilung solcher unbewiesener Verdachtsfälle ist durchaus kompliziert.
Wenn die Vorkommnisse um den Corona-Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca eines gezeigt haben, dann dies: Das Meldesystem zur frühzeitigen Erfassung unerwünschter Ereignisse, die in einem möglichen Zusammenhang mit Impfungen stehen, funktioniert sowohl deutschland- als auch europaweit ausgezeichnet. Die koordinierte Pharmakovigilanz hatte für AZD1222 Signale ausfindig gemacht, die einen Verdacht auf durch Impfung induzierte Sinus- beziehungsweise Hirnvenenthrombosen nahegelegt hatten.
Welche Schlüsse aus diesen Verdachtsmeldungen gezogen und welche Maßnahmen auf dieser Basis vonseiten der Gesundheitspolitik getroffen wurden, war Gegenstand heftiger und kontroverser öffentlicher Debatten. Wie die Verdachtsmeldungen aus wissenschaftlich-medizinischer Sicht eingeordnet werden können, ist indes noch nicht abschließend geklärt.
Um eine Zulassung zu erlangen, müssen Impfstoffe in umfangreichen Studien der Phasen I–III zahlreiche standardisierte Testreihen durchlaufen.
Echte Schutzwirkung gezeigt
Unter Pandemiebedingungen wie aktuell bei SARS-CoV-2 konnten erstmals Raten einer echten Schutzwirkung gegen eine Infektionskrankheit im großen Stil erhoben werden. In der Summe haben alle bislang gegen SARS-CoV-2 durchgeführten Phase-III-Studien mit einer akkumulierten Probandenzahl von mittlerweile mehr als 150 000 alles in den Schatten gestellt, was jemals in Impfstudien gegen andere Infektionskrankheiten zusammengetragen werden konnte. Diese Studien mussten sich hinsichtlich der Wirksamkeit der zu beurteilenden Impfstoffe stets auf Surrogatparameter verlassen. Das gilt nicht nur für seltenere, aber oftmals schwer verlaufende Infektionskrankheiten, sondern auch für die jährlich zumindest endemisch auftretende Influenza.
So beruhen Wirksamkeitsnachweise von Impfstoffen gegen Influenza zunächst nur auf Nachweisen immunologischer Laborparameter wie zum Beispiel Antikörperspiegel, da randomisierte, kontrollierte Studien wegen der unvorhersehbaren Influenzasituation kaum durchführbar und nicht reproduzierbar sind. Nach Anwendung in der jeweiligen „Grippewelle“ werden dann der Schutz vor Infektion und Erkrankung nachträglich bestimmt.
„Die aktuellen Impfstoffe gegen COVID-19 wurden hingegen in den Zulassungsstudien (Phase III) tatsächlich auf ihre Wirksamkeit zum Schutz vor einer schweren Erkrankung geprüft und bewertet“, erklärt der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO), Prof. Dr. med. Thomas Mertens.
Was für die Beurteilung der Wirksamkeit der Vakzine unter Pandemiebedingungen zutrifft, das gilt nun auch für die Ermittlung von unerwünschten Wirkungen dieser Impfstoffe. Mit Phase-III-Studien in Größenordnungen von bis zu 30 000 Probanden, wie sie jetzt für eine Reihe von COVID-19-Impfstoffen absolviert wurden, ließen sich durchaus auch seltenere ernstzunehmende Impfkomplikationen detektieren.
Um allerdings ein verdoppeltes Risiko einer Erkrankung aufzuspüren, das durch eine Impfung gegenüber einem allgemeinen Risiko in Höhe von 1:100 000 in der Allgemeinbevölkerung hervorgerufen wird, müsste eine Studie mehr als 2,3 Millionen Probanden umfassen, die 1:1 auf Placebo und Verum verteilt wären, rechnete die Leiterin der Abteilung für Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten im Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Dr. med. Brigitte Keller-Stanislawski, bei einem Pressebriefing vor. Solche sehr seltenen Ereignisse können somit kaum in Zulassungsstudien der Phase III registriert werden und bedürfen vielmehr einer sorgfältigen Pharmakovigilanz über einen langen Zeitraum nach der Zulassung hinweg.
Von Verdachtsfällen zu Signalen
Mit der Zahl der Impfungen gegen COVID-19 im Rahmen nationaler Impfkampagnen weltweit nimmt also auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass sehr seltene Impfkomplikationen überhaupt auffallen, registriert und dokumentiert werden können.
Ein solches Signal hatte sich aufgrund von mittlerweile 14 beim PEI gemeldeten Verdachtsfällen auf zerebrale Sinusvenenthrombosen (CSVT) ergeben (Stand: 23. März 2021). Diese Verdachtsdiagnosen wurden im Abstand von 4 bis 16 Tagen nach der Impfung mit AZD1222 bei 13 Frauen und 1 Mann im Alter von 20 bis 63 Jahren gestellt. Da inzwischen mehr als 1,6 Millionen Menschen in Deutschland seit Impfbeginn im Februar 2021 mit AZD1222 geimpft wurden, lässt sich eine jährliche Inzidenz dieser Ereignisse von etwa 10 pro 100 000 hochrechnen. Dies übertrifft laut PEI die zu erwartende Inzidenz in der Allgemeinbevölkerung bei Weitem und wurde deshalb als Signal gewertet.
Die CSVT-Hintergrundinzidenz, die laut PEI als Vergleich zur Aufspürung eines Signals herangezogen wurde, liegt bei etwa 1 pro 100 000 pro Jahr und beträgt somit nur 1/10 der jetzt auffällig gewordenen Häufung. Australischen Daten zufolge wird aber die CSVT-Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung unterschätzt. Mit ihnen lässt sich die jährliche Inzidenz auf 1,57 pro 100 000 pro Jahr berechnen (1). Ferner legen niederländische Daten eine altersabhängige Verteilung der CSVT-Häufigkeit mit Schwerpunkt auf Personen unter 50 Jahren nahe, sodass es in dieser Altersgruppe zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Inzidenz um den Faktor 4 bis 8 kommen dürfte (2). In einer aktuellen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) heißt es in diesem Zusammenhang: „Insgesamt ist die Datenlage unsicher, da es wahrscheinlich nicht wenige, klinisch blande Fälle gibt, die nie als CSVT identifiziert werden.“ (3)
In Großbritannien sind nach elf Millionen Impfungen gegen COVID-19, bei denen überwiegend das Vakzin von AstraZeneca appliziert wurde, lediglich drei CSVT-Diagnosen gestellt worden. Dass die Häufigkeit dort im Unterschied zu hierzulande durchaus im Rahmen der Hintergrundinzidenz oder sogar darunter liegt, könnte an Unterschieden in den Impfpopulationen liegen.
Unterschiedliche Impfkollektive
Sowohl thrombotische Ereignisse als auch Autoimmunphänomene, die mit diesen Ereignissen assoziiert sind, werden überwiegend mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht. Aufgrund der anfänglichen STIKO-Empfehlung, AZD1222 trotz europäischer Zulassung ohne Altersbeschränkung nur bei Personen unter 65 Jahren zu verimpfen, wurden in Deutschland seit Februar 2021 fast ausschließlich Menschen aus dem medizinischen Personal mit diesem Impfstoff geimpft. Da in diesem Kollektiv wiederum das weibliche Geschlecht den weitaus überwiegenden Anteil hat, wurden überproportional viele junge Frauen unter 50 Jahren mit AZD1222 geimpft. In Großbritannien wurde der Impfstoff dagegen ohne Altersbeschränkung verabreicht.
Laut Peter Arlett, Head of Data Analytics and Methods Task Force der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA, ist es „sehr wahrscheinlich“, dass Unterschiede zwischen den Impfpopulationen der Grund für die Verzerrung der CSVT-Hintergrundinzidenz gewesen sind. „In Großbritannien waren es vor allem ältere Menschen. Wenn man mehr junge Frauen impft, dann hat man auch mehr Fälle“, erklärte er bei einer Pressekonferenz der EMA.
Als eine mögliche Erklärung werde diskutiert, dass es bei den älteren Personen aufgrund des schwächeren Immunsystems nicht zu der immunologisch vermittelten Komplikation einer CSVT gekommen ist, erklärt Prof. Dr. med. Johannes Oldenburg, Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin am Universitätsklinikum Bonn. Nach einer eingehenden Überprüfung durch den Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) war die EMA zu dem Schluss gekommen, dass es insgesamt gesehen zu keiner auffälligen Häufung thromboembolischer Ereignisse im Zusammenhang mit der AZD1222-Impfung gekommen ist.
Allerdings könnte die Impfung mit dem Vakzin mit sehr seltenen Fällen von Thrombosen – Sinusvenenthrombosen – assoziiert sein, die mit einer Thrombozytopenie und teilweise Blutungen einhergehen (4). Für einen kausalen Zusammenhang gebe es nicht ausreichend Evidenz, so die Behörde, die dem Vakzin erneut eine gute Nutzen-Risiko-Bilanz bescheinigte. Dennoch sei ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen, weshalb weitere Prüfungen und Studien folgen werden. In der Zwischenzeit wird das Vakzin mit einem Warnhinweis versehen.
Bei aller Unklarheit, ob es sich bei der Häufung von CSVT-Fällen tatsächlich um ein Sicherheitssignal für AZD1222 handelt, hat sich doch eines deutlich gezeigt: „Die Ursachenforschung – selbst für einen bislang nur vermutlichen Zusammenhang – ist in Deutschland gut organisiert, basiert auf spezialisierter Expertise und ist international vernetzt“, sagt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI), Prof. Dr. rer. nat. Carsten Watzl. So hat sich aufgrund der mit der CSVT meist vergesellschafteten Thrombozytopenie sehr rasch herausgestellt, dass es sich bei den unerwünschten Ereignissen mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein immunologisch ausgelöstes Phänomen handelt (5).
Mögliche Auslöser für CSVT
Als Auslöser könnten das Impfantigen, das Transportvehikel für die körpereigene Produktion des Impfantigens und eine unspezifische Impfreaktion des angeborenen Immunsystems infrage kommen. Für den Fall, dass es das Impfantigen ist, wäre zu erwarten, dass andere Impfstoffe, die ebenfalls für dieses Antigen kodieren, ähnliche Probleme hervorrufen: Bislang gibt es noch keine Berichte über entsprechende Häufungen bei den zugelassenen mRNA-Vakzinen. Außerdem müssten die Ereignisse auch im Zusammenhang mit Infektionen mit dem Erreger selbst auftreten.
Mehr als die Hälfte der Menschheit hat mit unterschiedlichen Adenoviren als Auslöser von Erkrankungen meist banaler Natur wie zum Beispiel Erkältungen Bekanntschaft gemacht hat. Zu einer dokumentierten CSVT-Häufung im Zusammenhang mit Adenovirusinfektionen ist es aber nicht gekommen. Das Transportvehikel für die Erbinformation des Impfstoffantigens erscheint als Auslöser deshalb eher unwahrscheinlich.
Denkbar ist auch eine unspezifische Impfreaktion des angeborenen Immunsystems. Vorstellbar wäre eine Hochregulierung über Toll-like-Rezeptoren und Interferone als erste Antwort auf Impfantigene, die bei Menschen mit entsprechender genetischer Disposition Autoimmunvorgänge auslösen könnte, die letztlich in eine immunologisch bedingte CSVT münden könnten.
Der Dortmunder Immunologe Watzl kommt deshalb zu dem Schluss, dass derzeit keine Rationale greifbar zu sein scheint, mit der sich das vermeintliche Signal einer CSVT-Häufung nach Impfung mit AZD1222 tatsächlich auf die spezielle Eigenart dieses Impfstoffes zurückführen ließe. Martin Wiehl
Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit1321 oder über QR-Code.
Kommentar
Martin Wiehl, Freier Medizin- und Wissenschaftsjournalist
Noch bevor eine sorgfältige Überprüfung, Einschätzung und Einordnung von vermutlichen Sicherheitssignalen bei Impfungen mit dem COVID-19-Vakzin von AstraZeneca überhaupt möglich wurde, überschwemmten die Medien die Menschheit auf allen Kanälen mit Meldungen. Zu den Glanzleistungen der medialen Berichterstattung gehörte dabei auch, das Publikum mit allen möglichen Arten von „Blutgerinnseln“ vertraut zu machen. Dass venöse Thromboembolien und konsekutiv damit verbundene Lungenembolien zu den häufigsten Volksleiden zählen, hat die auf Schlagzeilen abonnierten Medien nicht davon abgehalten, AZD1222 „Blutverklumpungen“ als mögliches Risiko zuzuschreiben. Dass die Hintergrundinzidenz venöser Thromboembolien weitaus höher war, als sich aus den vermeintlichen Impfkomplikationen errechnen ließ, war für den „news-flow“ in dieser Phase der medialen Aufmerksamkeit unerheblich. Völlig egal war dabei auch die Unterscheidung von thromboembolischen Ereignissen, wie sie häufig in der Allgemeinbevölkerung vorkommen, und den extrem seltenen Sinusvenenthrombosen als komplett andere Entität.
Viel aufregender erschien den medialen Experten, dass gleich mehrere Staaten einen Impfstopp verhängt hatten. Auch wenn ein postulierter Zusammenhang zwischen Thrombosen und Impfungen nicht dadurch an Wahrheitsgehalt gewinnt, dass viele ihn teilen und daraus voreilige Schlüsse ziehen.
1. | Devasagayam S, Wyatt B, Leyden J, Kleinig T: Cerebral venous sinus thrombosis incidence is higher than previously thought: a retrospective population-based study. Stroke 2016; 47 (9): 2180–2 CrossRef MEDLINE |
2. | Coutinho JM, Zuurbier SM, Aramideh M, Stam J: The incidence of cerebral venous thrombosis: a cross-sectional study. Stroke 2012; 43 (12): 3375–7 CrossRef MEDLINE |
3. | Stellungnahme der DGN zur SarsCoV2-Impfung mit dem Impfstoff von AstraZeneca, 19. März 2021; https://dgn.org/neuronews/neuronews/stellungnahme-der-dgn-zur-sarscov2-impfung-mit-dem-impfstoff-von-astrazeneca/ (last accessed on 26 March 2021). |
4. | Mitteilung der EMA, 18. März 2021; https://www.ema.europa.eu/en/news/covid-19-vaccine-astrazeneca-benefits-still-outweigh-risks-despite-possible-link-rare-blood-clots (last accessed on 26 March 2021). |
5. | Stellungnahme der GTH zur Impfung mit dem AstraZeneca COVID-19 Vakzin, 22. März 2021; https://gth-online.org/wp-content/uploads/2021/03/GTH_Stellungnahme_AstraZeneca_3_22_2021.pdf (last accessed on 26 March 2021). |
Meier, Felix
Niller, Hans Helmut