THEMEN DER ZEIT
Gesundheitsämter und COVID-19: Maßgeschneiderte Eindämmungsinterventionen
; ; ; ; ;


Die Gesundheitsämter wurden bislang wenig in die Beratung der Politik zur strategischen Planung von COVID-19-Maßnahmen einbezogen. Dabei spielen sie gerade in der Organisation der COVID-19-Bekämpfung, insbesondere in der Interaktion mit der Bevölkerung, eine bedeutende Rolle.
Seit einem Jahr sind die 375 Gesundheitsämter Deutschlands fast nur noch mit der Coronapandemie beschäftigt. Damit einhergehend hat sich der Öffentliche Gesundheitsdienst grunderneuert. Ämter, die bisher ein Dornröschendasein fristeten, sind durch ein Virus abrupt ins öffentliche Rampenlicht katapultiert worden. Mehr Personal und der Anschluss an die digitale Arbeitswelt wurden in kürzester Zeit, wenn auch noch nicht perfekt, den Gesundheitsämtern zugeführt. Das alles geschah, um die Eindämmung dieses an unserem sozialen Leben rüttelnden Virus in den Griff zu bekommen. Diese Transformation der Gesundheitsämter kommt einer historischen Zäsur gleich.
Umso erstaunlicher klingt die Einschätzung einiger gesundheitspolitischer Experten, dass Gesundheitsämter bei über 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche die Kontaktnachverfolgung nicht mehr leisten könnten.
Stufenpläne schaffen
Derartige Einschätzungen sind in der fehlenden Erkenntnis begründet, dass die Aufgaben und die Expertise der Gesundheitsämter schlichtweg nicht bekannt sind. Bei allen Experten, die in dieser Krise beraten, sind die Amtsärzte bisher kaum gefragt. Dabei ist die umfangreiche und hoch spezialisierte Ausbildung dieser Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Säule im Prozess der interdisziplinären Lösungsfindungen. Zusammen mit den schon etablierten Beratern der Politik könnten Impulse für gangbare Wege gefunden werden. Die Erfordernisse für den Schutz der Bevölkerung kennen die Gesundheitsämter seit Jahrzehnten aus der direkten Praxis. Bisher wurden die Gesundheitsämter am Diskurs der Zielmarken nicht beteiligt, ihre Arbeitsfähigkeit wurde allein an politisch festgelegten Zielgrößen definiert. Dabei ist die Lage spätestens seit Beginn der Impfungen komplexer, als es die 7-Tages-Inzidenz vermuten lässt.
Die Problematik im aktuellen Diskurs ist schlicht: Es fehlt an unterschiedlichen Perspektiven. Wir müssen die Entweder-oder-Logik der No-COVID-Strategie zugunsten gut durchdachter, regionaler Stufenpläne verlassen. Allerdings hat sich die politische Beratung an den Wocheninzidenzen von wahlweise 50 oder 100 pro 100 000 Einwohner verbissen. Dabei werden vier Dinge außer Acht gelassen:
- Erstens sind die harten Obergrenzen von 25, 35 und 50 politische Festlegungen, keine absoluten epidemiologischen Maßzahlen.
- Zweitens definieren diese Obergrenzen heute nicht mehr die Arbeitsfähigkeit der Gesundheitsämter.
- Drittens werden repräsentative Infektionsdaten durch Massentestungen in öffentlichen Testzentren und Gesundheitsämtern erhoben, nur eben nicht öffentlich genutzt.
- Viertens ist eine Fixierung auf die 7-Tages-Inzidenzen allein nicht ausreichend, die Lage konkret zu beschreiben.
Oberste Maxime: Impfen
Wie wir live erleben, laufen die pandemischen Phasen Detektion (Identifizierung), Containment (Eindämmung), Protektion (Schutz) und Mitigation (Abmilderung) nicht streng getrennt nacheinander ab, sondern sind regional durch Übergänge und Mischformen geprägt. Die epidemiologische Lage ist je nach Ort, Zeitpunkt, Alter, Geschlecht und betroffener Gruppe differenziert zu betrachten. Es ist ein relevanter Unterschied, ob es sich bei steigenden Inzidenzen um asymptomatische Einzelfälle ohne Krankheitslast der Betroffenen handelt oder um größere Infektionsherde, medizinische Einrichtungen, diffuse Infektionsgeschehen in Privathaushalten oder Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. Die gute Botschaft bei alledem ist, dass gerade bei den letztgenannten Einrichtungen erfolgreich die Erstimpfungen durchgeführt wurden. Der Wichtigkeit dieses Umstands wird in bisherigen Strategiepapieren zu wenig Beachtung beigemessen. Denn Impfungen zeigen echte Wirkung: Wir sehen weniger schwere Krankheitsverläufe und eine geringere Sterblichkeit in den Einrichtungen, wo Personal und Bewohner geimpft wurden, und das schon mit der Erstimpfung.
Die Maxime aller Anstrengungen muss also genau hierauf gesetzt werden: Impfen, Impfen, Impfen.
Die Arbeitsgemeinschaft der zwölf Berliner Amtsärztinnen und Amtsärzte hat in einer Stellungnahme an die Landesregierung für jene Eindämmungsmaßnahmen plädiert, die sich nicht allein an pauschalen Wocheninzidenzen von 10, 25, 35 oder 50 pro 100 000 Einwohner orientieren. Der bloßen Fixierung auf politisch festgelegte kumulative Inzidenzen fehlt belastbare Evidenz. Sie wird den tatsächlichen Lebenswirklichkeiten von Kindern und Bürgern nicht gerecht. Nach den Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung kommen mehrere Bundesländer zum jetzigen Zeitpunkt in absehbarer Zeit erst gar nicht unter die Obergrenze von 35 Neuinfektionen pro Woche. Schlimmer: Eine Touchdownline von 35 oder niedriger als alleinige Zielgröße für Lockerungen verschärft die soziale Ungleichheit, mit der die Pandemie unterschiedliche Bevölkerungsschichten trifft. Deswegen müssen Maßnahmen ebenso aus den Erfahrungen von Sozialmedizin und Epidemiologie abgeleitet werden. Es geht nicht um individualmedizinische Versorgungen, sondern um eine an den Bedarfen der diversen Bevölkerung ausgerichtete medizinische Betreuung. Entscheidend für jede Eindämmungsmaßnahme ist die vorherige Nutzen-Schaden-Abwägung. Die perfekte Lösung kennen wir (noch) nicht. Zu viele Unbekannte wie Spätfolgen durch Long-COVID-Syndrom müssen weiter empirisch erforscht werden. Allerdings können wir gemeinsam Lehren ziehen aus dem, was gut und was weniger gut lief im ersten und zweiten Lockdown.
Maßnahmen regional anpassen
Die erste Welle war für alle Neuland, bei der zweiten reagierten Gesundheitsämter und Bürger nach anfänglichem Überraschtsein routiniert. Die Inzidenzfixierung differenziert Cluster nicht von diffusen Geschehen, sie unterscheidet nicht zwischen einem Gesundheitsamt in Berlin und dem eines Landkreises in Mecklenburg-Vorpommern. Gerade die dezentrale Aufstellung der Gesundheitsämter erlaubt es, auf die epidemiologische Lage regional angepasst zu reagieren. So kann ein einziges Ausbruchscluster in einem dünn besiedelten Gebiet die Neuinfektionszahlen in die Höhe schnellen lassen und dennoch aufgrund seiner lokalen und zeitlichen Begrenzung regional effektiv eingedämmt werden.
Jetzt, wo die vulnerabelsten Gruppen geimpft sind, bedarf es einer altersstratifizierten Inzidenzbetrachtung. Wer ist wo wie stark mit welcher Variante infiziert. Dieses Vorgehen beinhaltet das Wechselspiel der gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Freiheit (dem Tanz) und effektiven Eindämmungsmaßnahmen (dem Hammer), dynamisch und, auch wenn es jeweils schmerzlich ist, notfalls repetitiv. Nur so lassen sich Schließungen von Baumärkten oder Einrichtungen körpernaher Dienste verständlicher vermitteln. Die Perspektive für die Gesellschaft ist hier konkreter, realistischer und nachvollziehbarer.
Dass die Inzidenzzahlen allein zur Orientierung von Maßnahmen nicht ausreichen, war schon in der Verabredung der elf größten Städte mit der Bundeskanzlerin im Oktober 2020, also zu Beginn der zweiten Welle, klar. Es wurde in der Verabredung die Arbeitsfähigkeit der Gesundheitsämter noch einmal definiert. Und hier entpuppte sich ein Umsetzungsproblem, das viele Gesundheitsämter bis heute hart trifft. So wurde in der Bund-Länder-Vereinbarung vom April 2020 ein Mindestpersonalschlüssel zur Unterstützung der Gesundheitsämter von fünf geschulten Mitarbeitern je 20 000 Einwohner vorgesehen, die vornehmlich die Fallermittlung und Kontaktnachverfolgung umsetzen sollen. Bisher sind es mehrheitlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter selbst gewesen, die in der Pandemiebekämpfung eingesetzt wurden, und dennoch wurde der Unterstützungsschlüssel nicht in allen Gesundheitsämtern erfüllt. Der Einsatz von Personal aus den Gesundheitsämtern für die Pandemiebekämpfung wiederum geschah nämlich zulasten ihre originären Aufgaben der bevölkerungsmedizinischen Daseinsvorsorge für Kinder und Erwachsene. So fehlt denn auch derzeit die subsidiäre psychosoziale Gesundheitsversorgung vulnerabler Bevölkerungsschichten gänzlich.
Schaden und Nutzen abwägen
Wir wissen mittlerweile, dass das Coronavirus fast ausschließlich in Innenräumen übertragen wird. Und wir kennen Interventionen, die sich als effektiv herausgestellt haben. Hierzu zählen Beschränkungen von Versammlungen und konsequentes Umsetzen vom Tragen medizinischer Masken, gutem und regelmäßigem Luftaustausch in Innenräumen, medizinischer Maskenpflicht in beengten Raumverhältnissen bis hin zu Reisebeschränkungen. Entscheidend ist es hier aber, zielgerichtet und verhältnismäßig vorzugehen. Nicht jede Intervention ist zu jedem Zeitpunkt und in jeder Region gleichermaßen effektiv, um zu einem weniger beschwerlichen Alltag zurückzukommen. Es gibt Mittel, um die Übertragungswahrscheinlichkeit signifikant zu senken. Neue Virusmutationen breiten sich aus. Wir wissen, dass auch diese Virusmutationen sich über die gleichen Wege verbreiten wie der Wildtypvirus. Das heißt, dass wir weiter konsequent unsere Hygienemaßnahmen anwenden müssen. Dazu braucht es als Erstantwort keinen harten Lockdown, sondern Eigenverantwortung durch Beteiligung und das Durchbrechen von Infektionsketten. Nach einem Jahr der Pandemie ist das grundlegende Wissen über den Umgang mit dem Virus bei Behörden, Arbeitgebern und der Bevölkerung angekommen. Und die Parameter, die für das Funktionieren von Gesundheitsämtern erfüllt sein müssen, sind definiert.
Die weitere Arbeit der Gesundheitsämter beinhaltet auch eine Fortentwicklung des Empowerments der Bevölkerung. Denn auch sie hat im Laufe der Zeit vieles über das Virus gelernt. Um weiter Akzeptanz für lokale und regionale Eindämmungsmaßnahmen zu fördern, bedarf es mehr als einer schlüssigen Kommunikationsstrategie. Jede Maßnahme muss durch unabhängige Wissenschaftler evaluiert werden. Bürger müssen in einer Pandemie Selbstwirksamkeit erfahren. Schnelltests und Selbsttests werden bereits massenhaft vielerorts durch private Anbieter feilgeboten. Menschen, die vor dem Besuch bei ihren Verwandten sich selbst testen, um ihre Verwandten nicht zu gefährden, benötigen frei erhältliche Schnelltests. Ob nun offiziell freigegeben und empfohlen oder nicht, Schnelltests sind online erhältlich und werden am eigenen Wohnzimmertisch durchgeführt. Vor einem Besuch bei den Eltern, dem Schulbesuch des Kindes oder einem unbeschwerten Abendessen mit einer guten Freundin.
Nach einem Jahr Pandemie sind viele Menschen erschöpft, psychische Symptome nehmen zu und das vor allem bei Kindern. Jedes dritte Kind in Deutschland weist bereits psychische Belastungsanzeichen auf, viele sind ungesund übergewichtig geworden. Das Bedürfnis nach Normalität lässt sich immer schwerer in den Hintergrund rücken. Schnelltests wirken dabei wie ein Passierschein, zumindest für ein paar Stunden. Die Aufgabe der Gesundheitsämter muss es sein, die Anwendung der Schnelltests zu erklären, Übersetzungen anzubieten und auch zu helfen, die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Außerdem sollten wir jedem positiv Getesteten weiterhin eine PCR-Testung anbieten, um das Ergebnis zu verifizieren und den Virustyp festzustellen.
Sozialraumnah kommunizieren
Jetzt wird erneut sozialraumnahe Aufklärung benötigt, um alters- und gruppenstratifiziert all diejenigen zu erreichen, bei denen sich die größte Infektionsdynamik abzeichnet. Die Impfbereitschaft ist da. Es muss endlich pragmatisch gehandelt, das Impfangebot maximal ausgeweitet und wirklich geimpft werden. Denn Impfen ist die schärfste Waffe gegen das Coronavirus. Dies alles muss mit vertrauensbildenden Maßnahmen durch wissenschaftliche Fachinformation und Multiplikatoren der Communities begleitet werden.
Das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit in einer Zeit mit starken Restriktionen ist immens. Dass das Virus uns noch eine unbestimmte Zeit verfolgen wird, ist überdies allerorten angekommen. Jetzt müssen die Maßnahmen sich an der Machbarkeit orientieren und für alle aushaltbar bleiben. All dies braucht eine sozialraumnahe Kommunikation. Die Gesundheitsämter stehen bereit.
Dr. med. Christine Wagner,
Dr. med. Birte Krutz, Dr. med. Andreas Zintel,
PD Dr. med. Nicolai Savaskan,
Gesundheitsamt Berlin-Neukölln
Dr. med. Frank Kunitz,
Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg
Patrick Larscheid,
Gesundheitsamt Berlin-Reinickendorf
Thiele, Henning