ArchivDeutsches Ärzteblatt15/2021Atypische Gerinnungsstörungen nach COVID-19-Impfung: Vorgehen bei Hirnvenenthrombose

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Atypische Gerinnungsstörungen nach COVID-19-Impfung: Vorgehen bei Hirnvenenthrombose

Lenzen-Schulte, Martina

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Wenn sich derzeit vermehrt Patienten mit Angst vor Sinusvenenthrombosen und unspezifischen Symptomen vorstellen, geht es nicht zuletzt darum, unnötige Überdiagnostik zu vermeiden.

Nach wie vor äußerst selten: Die englische Medicines & Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) sieht auf der Basis von geschätzt 13,7 Millionen mit der AstraZeneca- Vakzine durchgeführten Impfungen keine erhöhte Inzidenz venöser Thromboembolien. Foto: Science Photo Library/Jim Dowdalls
Nach wie vor äußerst selten: Die englische Medicines & Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) sieht auf der Basis von geschätzt 13,7 Millionen mit der AstraZeneca- Vakzine durchgeführten Impfungen keine erhöhte Inzidenz venöser Thromboembolien. Foto: Science Photo Library/Jim Dowdalls

Die in zeitlichem Zusammenhang mit einer COVID-19-Impfung aufgetretenen Hirnvenenthrombosen mit systemischen Gerinnungsstörungen haben viele Menschen erheblich verunsichert. Während in anderen Ländern die AstraZeneca-Vakzine ohne Einschränkungen weiterverimpft wurde, hatte sie die Bundesregierung zunächst für einige Tage gestoppt. Seit dem 19. März 2021 wird sie von der Ständigen Impfkommission (STIKO) nur mehr für Personen ab 60 Jahren empfohlen.

Die intensive Berichterstattung hat das sehr seltene Krankheitsbild der Sinusvenenthrombose in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Zahlreiche Patienten und Patientinnen stellen sich daher bei einschlägigen Warnsymptomen beim Arzt vor. Ein von mehreren Fachgesellschaften konsentierter Algorithmus (Grafik) soll nun die Abklärung so rational wie sicher gestalten.

Die Symptome einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose (CSVT) mit oder ohne disseminierter intravasaler Koagulopathie (DIC) sind eher unspezifisch. Starke Kopfschmerzen, Nausea, Übelkeit, Schwindel und Sehstörungen zählen dazu. Viele Geimpfte klagen indes 1–2 Tage nach der Impfung über ähnliche Symptome wie Gelenk-, Muskel-und Kopfschmerzen sowie Müdigkeit als harmlose Nebenwirkung einer solchen Impfung. Diese Symptome allein sind daher noch kein Anlass für eine weitere laborchemische oder bildgebende Diagnostik, heißt es in der Stellungnahme zu dieser Problematik (1).

Zeitlicher Verlauf als Fingerzeig

Jedoch sollte bei CSVT- oder DIC-Symptomen, die 4 bis 16 Tage nach der Impfung auftreten, umgehend eine weitere Diagnostik zur Abklärung erfolgen. Charakteristisch für die DIC ist das gleichzeitige Auftreten multipler venöser oder arterieller Thromboembolien mit einer ausgeprägten Thrombozytopenie, begleitet von plasmatischen Gerinnungsstörungen. Die Thrombozytopenie wurde auch bei den bisher eingehend untersuchten Patienten beobachtet, die nach einer Impfung eine Sinusvenenthrombose entwickelten.

Umgang mit dem Risiko von Gerinnungskomplikationen
Grafik
Umgang mit dem Risiko von Gerinnungskomplikationen

Typischerweise treten die Beschwerden innerhalb von 4–16 Tagen nach der Impfung auf. Betroffen waren vor allem Frauen im Alter < 55 Jahren. Gleichwohl sind diese Komplikationen weder auf Frauen noch auf die eher jüngeren Patienten beschränkt. Überdies sind arterielle und venöse Thrombosen in anderen Organen dokumentiert.

Bei der diagnostischen Entscheidung darüber, ob eine Klinikeinweisung notwendig ist, ist die Schwere der Symptomatik das Kriterium schlechthin. „In den ersten Tagen nach Veröffentlichung der Verdachtsfälle waren viele Menschen sehr verunsichert und haben die häufig am Tag nach der Impfung auftretenden Kopfschmerzen als beunruhigend empfunden. Wir haben deshalb im Algorithmus 2 Optionen vorgesehen“, erklärt Prof. Dr. med. Tobias Welte, Chefarzt der Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, wo mehrere der in Deutschland erkrankten Patientinnen betreut worden sind.

Ist die Symptomatik leicht, kann der Hausarzt selbst zunächst ein Blutbild anordnen. Allerdings sollte dessen Ergebnis noch am selben Tag vorliegen. Hierzu zählen auch LDH und Haptoglobin, da ein LDH-Anstieg und ein Haptoglobin-Abfall für die Hämolyse bei einer thrombotischen Mikroangiopathie charakteristisch sind.

Beim schwer kranken Patienten mit massiven Kopfschmerzen – begleitet womöglich von Sehstörungen oder einer Bewusstseinseintrübung, Übelkeit, Erbrechen, Luftnot, Petechien sowie akuten Schmerzen in Thorax, Abdomen oder den Extremitäten – sei die Situation eindeutig und eine sofortige Einweisung geboten. Der klinische Zustand entscheidet außerdem über den Einsatz der Bildgebung. „Bei unklarem Bild, aber stabilem Patienten wird man bis zum Eintreffen der Blutergebnisse abwarten können“, so Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), die federführend an der Stellungnahme beteiligt war.

Bei schwer kranken Patienten mit den genannten Symptomen wird jedoch gleich in der Notaufnahme die bildgebende Diagnostik – CT, MRT oder Sonografie – veranlasst werden. „Außerdem muss bei einem neurologischen Krankheitsbild sofort der Neurologe hinzugezogen werden“, erläutert Wörmann, Hämatologe und Medizinischer Onkologe am ambulanten Gesundheitszentrum (MVZ) am Campus Virchow der Charité.

Bedeutsam ist im weiteren Verlauf, dass die Patienten, die nach einer COVID-19-Impfung eine CSVT/DIC-Symptomatik entwickeln, zunächst kein Heparin zur Therapie ihrer Thrombosen erhalten sollten. Denn das inzwischen als vakzineinduzierte prothrombotische Immunthrombozytopenie (VIPIT) bezeichnete Krankheitsgeschehen ähnelt in Ablauf und Symptomatik der sogenannten Heparin-induzierten Thrombozytopenie oder HIT, die schon länger beschrieben ist (2).

Dem liegt eine Antikörperbildung gegen Thrombozytenantigene zugrunde. Diese induzieren eine Thrombozytenaktivierung über den Fc-Rezeptor mit der Folge einer Thrombozytenaggregation. Dies verläuft analog zur Heparin-induzierten Thrombozytopenie, weshalb auch die weitere Diagnostik und Therapie aus diesem Krankheitsgeschehen abgeleitet werden.

„Wenn der begründete Verdacht auf eine solche VIPIT besteht, muss stationär eingewiesen und zunächst mit Heparin gewartet werden, bis die Ergebnisse der Antikörperbestimmung vorliegen“, erklärt Wörmann.

Hierzu hat die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) die entsprechenden Diagnosemethoden differenziert aufgeführt (3). „Man muss unbedingt berücksichtigen, dass nicht jeder Test zuverlässig ist“, warnt Prof. Dr. med. Andreas Tiede, Hämostaseologe an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Notfalls besser verlegen

„Daher empfehlen wir hier die Verlegung in ein Zentrum mit hämostaseologischer und nötigenfalls neurologischer Expertise, das sowohl mit alternativen Formen der Antikoagulation als auch mit der Immuntherapie – zum Beispiel hoch dosierten intravenös verabreichten Immunglobulinen – Erfahrungen hat“, führt Tiede weiter aus.

Manches ist aber auch harmlos. Für den Fall, dass bettlägerige oder aus anderen Gründe immobile Patienten in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung eine Unterschenkelvenenthrombose entwickeln, ist keine stationäre Aufnahme erforderlich – wenn das Blutbild unauffällig ist, hält Wörmann fest.

„Entscheidend ist die ärztliche Beurteilung der Gesamtsituation mit einem Algorithmus als Handlungsgerüst, auf dem manchmal schmalen Grat zwischen Information und Sensibilisierung der Ärzte für die VIPIT-Symptomatik und der Vermeidung einer hysterischen Überdiagnostik“, lautet sein Fazit.

Dr. med. Martina Lenzen-Schulte

1.
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO): Stellungnahme vom 30. März 2021, http://daebl.de/TX62 (last accessed on 9 April 2021).
2.
Lenzen-Schulte, M:Thrombosen-nach-COVID-19-Impfung-Theorie-zur-Pathogenese-Testung-und-Therapie Deutsches Ärzteblatt online 19. März 2021, www.aerzteblatt.de/n122232 (letzter Zugriff am 9. April 2021).
3.
Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH): Stellungnahme vom 29. März 2021, https://gth-online.org/wp-content/uploads/2021/03/GTH-Stellungnahme-AstraZeneca_3-29-2021.pdf (letzter Zugriff am 9. April 2021).
Umgang mit dem Risiko von Gerinnungskomplikationen
Grafik
Umgang mit dem Risiko von Gerinnungskomplikationen
1.Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO): Stellungnahme vom 30. März 2021, http://daebl.de/TX62 (last accessed on 9 April 2021).
2. Lenzen-Schulte, M:Thrombosen-nach-COVID-19-Impfung-Theorie-zur-Pathogenese-Testung-und-Therapie Deutsches Ärzteblatt online 19. März 2021, www.aerzteblatt.de/n122232 (letzter Zugriff am 9. April 2021).
3.Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH): Stellungnahme vom 29. März 2021, https://gth-online.org/wp-content/uploads/2021/03/GTH-Stellungnahme-AstraZeneca_3-29-2021.pdf (letzter Zugriff am 9. April 2021).
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