ArchivDeutsches Ärzteblatt15/2021Globale Impfstoffverteilung: Die Blockade der Reichen

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Globale Impfstoffverteilung: Die Blockade der Reichen

Reichardt, Alina

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Viele arme Länder können ihre Bevölkerung wegen Impfstoffknappheit derzeit nicht versorgen. Damit sie selbst ausreichend Impfstoff herstellen können, fordern einige eine Patentfreigabe von der Welthandelsorganisation WTO. Doch reiche Staaten wollen diesen Schritt verhindern.

WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala. Die Finanzexpertin schlägt freiwillige Lizenzvergaben als Mittelweg zwischen Impfnationalismus und Patentfreigaben vor. Foto: SALVATORE DI NOLFI/KEYSTONE/AFP
WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala. Die Finanzexpertin schlägt freiwillige Lizenzvergaben als Mittelweg zwischen Impfnationalismus und Patentfreigaben vor. Foto: SALVATORE DI NOLFI/KEYSTONE/AFP

Stellen reiche Nationen die Profite heimischer Pharmakonzerne über ein schnelleres Ende der Coronapandemie? Es sind schwere Vorwürfe, die zahlreiche Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften sowie mehr als Hundert nationale Regierungen weltweit der Europäischen Kommission, den USA und anderen Vertretern wohlhabender Staaten machen.

Hintergrund ist ein Antrag, den Indien und Südafrika bereits im Oktober bei der Welthandelsorganisation WTO gestellt haben. Darin bitten sie das für geistiges Eigentum zuständige Gremium der WTO, das Aussetzen bestimmter Aspekte des unter den Mitgliedern vereinbarten Patentschutzes bis zum Ende der Pandemie zu empfehlen.

Mithilfe dieses sogenannten Waivers sollen auch Hersteller in Entwicklungsländern die dringend benötigten COVID-19-Impfstoffe nach den mehrheitlich in reichen westlichen Ländern entwickelten Rezepturen produzieren können, ohne Klagen befürchten zu müssen. Deutlich schneller und zu geringeren Preisen könnten so nicht nur Impfstoffe, sondern auch Diagnostika und Therapeutika in ärmeren Ländern ankommen, heißt es in dem Antrag.

Massenimpfungen erst 2024

Denn während etwa in Deutschland bis zum Spätsommer jeder Einwohner ein Impfangebot erhalten soll, konnten viele Länder in Afrika, Asien und Südamerika aufgrund von Impfstoffmangel bisher gar nicht mit dem Impfen beginnen. Die reichsten Länder der Welt, die knapp 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, haben sich laut einer kürzlich im Lancet veröffentlichten Analyse 70 Prozent der 2021 verfügbaren Dosen der fünf führenden Impfstoffe gesichert.

Die dabei gezahlten Kaufpreise sind für ärmere Länder nicht erschwinglich. Aufgrund von Patenten haben sie aber auch keine Möglichkeit, selbst ausreichend Impfstoff zu produzieren – obgleich die entsprechenden Kapazitäten teilweise vorhanden wären. Bleibt es bei dieser Ausgangssituation, könnten Massenimpfungen in ärmeren Ländern – wenn überhaupt – erst 2024 beginnen, prognostizieren Datenanalysten des britischen Magazins The Economist.

Doch ein teilweises Außerkraftsetzen des sogenannten TRIPS-Abkommens – kurz für Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights – würde tief in die marktwirtschaftlichen Interessen der Pharmakonzerne eingreifen. „Da die Patentrechte vorübergehend aufgehoben wären, hätten die Unternehmen nicht mehr die Möglichkeit mitzuverdienen, wenn andere Hersteller beispielsweise ihre Impfstoffe herstellen“, erklärt die Linken-Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler, die sich unter anderem für das globale Netzwerk „Peoples Health Movement“ einsetzt, das den Antrag von Indien und Südafrika unterstützt. „Zudem würden die Preise deutlich fallen, wenn mehr Produzenten einsteigen.“

Reiche Industrieländer mit traditionsreichen Pharmastandorten wie die EU, Japan, Kanada, Australien, Großbritannien, die Schweiz und die USA wollten keinen Präzedenzfall schaffen und so die Beziehung mit den Unternehmen langfristig schädigen, so Vogler. Aus diesem Grund blockierten diese und einige weitere wohlhabende Länder den Vorschlag von Südafrika und Indien in der WTO. Es sind fast ausnahmslos Staaten, die sich über bilaterale Verträge mit Herstellern bereits ausreichend Impfstoff für ihre Bevölkerung gesichert haben, wie eine laufend aktualisierte Weltkarte der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen zeigt.

Einigung unwahrscheinlich

Über 100 Nationen befürworten den Vorstoß, darunter die gesamte Afrika-Sektion sowie die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder der WTO. Auch zahlreiche nicht profitorientierte Organisationen unterstützen den TRIPS-Waiver, darunter die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker, Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen, das Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (UNAIDS), Unitaid, Vertreter des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie der Heilige Stuhl. Auf die Entscheidung der WTO hat das jedoch keinen direkten Einfluss.

Hier werden Entscheidungen in der Regel im Konsensverfahren getroffen. Und da die Blockadestaaten zu den gewichtigen Mitgliedern der Organisation zählen, gilt eine Einigung als unwahrscheinlich. Erst in der vergangenen Woche ging ein Treffen des WTO-Generalrats unter Leitung der im Februar gewählten neuen Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala in diesem Punkt ergebnislos auseinander.

Das Limit von 90 Tagen, in denen das zuständige Gremium üblicherweise eine Empfehlung an das höchste Organ der WTO, die Ministerkonferenz übermittelt, ist längst überschritten. Die Blockade hat bislang sogar verhindert, dass sogenannte textbasierte Verhandlungen aufgenommen wurden, die als erster wesentlicher Schritt bei anstehenden Entscheidungen gelten.

„Was wir aktuell beobachten ist, dass reiche Länder eine Verschleppungstaktik zu fahren scheinen, obwohl in der Pandemie Eile geboten wäre. Es wird argumentiert, dass auch wenn der Waiver morgen käme, es nicht sofort mehr Impfstoffe geben würde“, sagt Elisabeth Massute von Ärzte ohne Grenzen.

„Doch tatsächlich bremst ja jetzt vor allem die Politik. Ein Technologietransfer dauert im Schnitt sechs Monate. Wenn die Entscheidung weiter verschleppt wird, bleibt es dabei, dass geistige Eigentumsrechte erhebliche Barrieren kreieren, Preise in die Höhe treiben und eine künstliche Verknappung erzeugen“, so Massute. „Aber diese Pandemie wird erst vorbei sein, wenn sie für alle Menschen vorbei ist.“

Auch Vertreter der Blockadestaaten betonen dieses Argument immer wieder. Ein TRIPS-Waiver sei dafür jedoch keine Lösung. Es gebe keine Belege, dass dieser tatsächlich zusätzliche Kapazitäten schaffen und dabei helfen würde, die Impfstoffknappheit schnell beizulegen, heißt es in einigen Begründungen, die der WTO zugingen. Auch das deutsche Bundesjustizministerium hält den Waiver für „nicht zielführend“, wie aus einer Kleinen Anfrage der Linken-Fraktion zu der Thematik hervorgeht.

Ähnlich lauten die Argumente der Pharmaunternehmen. „Die Pharmaindustrie braucht – wie andere wissensgetriebene Branchen auch – Patente. Natürlich kann man das infrage stellen. Aber wenn man es tut, sollte man doch belegen können, wo die Funktionskrise des Patentsystems liegen soll? Ich kann eine solche nicht erkennen“, kommentierte Han Steutel, Präsident des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, eine Bundestagsanhörung im Februar, bei der es unter anderem um Patente auf Coronaimpfstoffe ging.

Schutz von Innovationen

In der Pandemie hätten Pharmaunternehmen in Rekordzeit wirksame Impfstoffe entwickelt und diese zu moderaten Preisen angeboten. Forscherinnen und Forscher erwarteten vom Rechtssystem, dass Innovationen erfolgreich geschützt würden. „Der angemessene Schutz geistiger Eigentumsrechte bietet einen wichtigen marktbasierten Anreiz für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen durch private Unternehmen“, betont auch das Bundesjustizministerium. Eine Sprecherin der Europäischen Kommission erklärt auf Anfrage: „Unsere größte Sorge sind die Auswirkungen, die diese Ausnahmeregelung auf die laufenden öffentlich-privaten Partnerschaften haben könnte.“

Aus Elisabeth Massutes Sicht unbegründet: Es gehe nicht darum, dass Pharmaunternehmen für ihre Arbeit nicht bezahlt werden sollten, sondern um den Unterschied zwischen Gewinnmaximierung in einer globalen Pandemie und den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen. Bereits vor der Pandemie sei die Entwicklung von Arzneimitteln und Impfungen massiv aus Steuergeldern mitfinanziert worden. „Das hat sich in der Pandemie noch einmal verstärkt“, erklärt die Vertreterin von Ärzte ohne Grenzen. Rechte an geistigem Eigentum sowie Patente schützten jedoch lediglich die wirtschaftlichen Gewinne des einzelnen Pharmaunternehmens. „Regierungen müssen konkrete Bedingungen an ihre Subventionen und Förderungen knüpfen, die für alle bezahlbare Preise, Transparenz und die Möglichkeit für Technologietransfer, und damit eine Ausweitung der globalen Impfstoffproduktion, sicherstellen“, fordert Massute. Bislang geschieht dies nach Ansicht von Menschenrechtsexpertinnen nicht in ausreichendem Maße.

Stattdessen verweisen etwa die Bundesrepublik sowie auch die EU-Kommission stellvertretend für alle Mitglieder auf drei andere Maßnahmen, die einen TRIPS-Waiver aus ihrer Sicht überflüssig machen: freiwillige Lizenzverträge von Impfstoffentwicklern mit anderen Herstellern, nationale Zwangslizenzen sowie die globale Impfstoffinitiative COVAX, für die sowohl die EU als auch Deutschland bereits Milliardensummen zur Verfügung gestellt haben. Befürworter des Waivers lassen keine der Maßnahmen gelten.

„Nationale Zwangslizenzen, die das TRIPS-Abkommen in Notsituationen wie einer Pandemie zulässt, konnten von Ländern des Globalen Südens bisher de facto noch nie umgesetzt werden, da ihnen die Impfstoffhersteller oder die Länder, in denen diese ansässig sind, mit Sanktionen gedroht oder den Prozess kompliziert haben“, sagt Linken-Politikerin Vogler. Bestes Beispiel sei die Aids-Pandemie, in der die Patente trotz vieler Toter und zahlreicher Versuche afrikanischer Länder, eine Zwangslizenz zu erwirken, geschützt wurden. Erst nach dem Auslaufen der Patente habe man die Krise in den Griff bekommen.

Unterstützung für Zwangslizenz

Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt, man sei bereit, mit den Antragstellern Indien und Südafrika zusammenzuarbeiten, „um die Flexibilitäten für sie nutzbar zu machen, wenn dies ihre Absicht ist, und die freiwillige Zusammenarbeit gescheitert ist.“ Doch auch ohne zusätzliche Stolpersteine sei der Prozess langwierig und kompliziert und müsse für jedes einzelne Produkt neu gestartet werden, erklärt Elisabeth Massute. Ähnliche Bedenken äußern auch die Antragsteller selbst in ihrem Schreiben an die WTO.

Ohnehin bevorzugen die EU und andere Blockadestaaten freiwillige Lösungen. „Wir glauben, dass dies der richtige Weg ist, da Zusammenarbeit und freiwillige Lizenzierung das effektivste Instrument ist, um die Produktion kurzfristig anzukurbeln“, so die Sprecherin. Es gebe bereits zahlreiche Beispiele für Lizenzierung und Produktion zwischen verschiedenen Unternehmen in der EU, etwa Sanofi und Pfizer/BioNTech oder GlaxoSmithKlein und CureVac. Auch mit Herstellern in Entwicklungsländern gebe es Kooperationen. Etwa von AstraZeneca mit dem Serum Institute of India sowie Johnson & Johnson mit Aspen Pharmacare in Südafrika.

Doch auch hier sehen Hilfsorganisationen Probleme. Im Gegensatz zu einer Patentfreigabe entscheiden die Unternehmen hier selbst, zu welchen Konditionen sie mit anderen kooperieren. Oft seien die Lizenzvereinbarungen restriktiv und intransparent. Die Produzenten könnten meist nicht selbst darüber entscheiden, wen sie mit wie großen Mengen und zu welchem Preis beliefern, schreibt Ärzte ohne Grenzen in einem Positionspapier.

So habe sich das in Südafrika ansässige Pharmaunternehmen Aspen Pharmacare mit dem US-Hersteller Johnson & Johnson darauf verständigt, 300 Millionen Dosen herzustellen, erklärte Aspen-Vorstandschef Stephen Saad gegenüber dem Nachrichtendienst Reuters – Kapazitäten gebe es für 600 Millionen Dosen. Ob diese genutzt würden, sei ganz von Johnson&Johnson abhängig. Auch sei unklar, wie viele der Dosen zur Versorgung des stark betroffenen afrikanischen Kontinents vorgesehen seien.

Für Südafrika selbst, das aufgrund einer aggressiven Variante des Coronavirus derzeit in seiner Impfstoffauswahl limitiert ist, seien elf Millionen Dosen fest zugesagt worden, erklärte Gesundheitsminister Zweli Mkhize. Ob diese aus der Produktion im eigenen Land stammen werden, was sich aufgrund der Dringlichkeit und kurzer Lieferketten anbieten würde, habe Johnson & Johnson bisher aber nicht entschieden.

In Indien wiederum kommt es derzeit zu massiven rechtlichen Problemen mit AstraZeneca. Der britische Hersteller schickte dem Serum Institut vergangene Woche eine juristische Warnung. Der Produzent, der vor der Pandemie 60 Prozent des weltweiten Impfstoffs herstellte, hält offenbar große Mengen des lizenzierten Impfstoffs zurück. Indische Medien berichten, dass die Pandemie in dem Land derzeit so massiv um sich greife und zugleich so wenig Impfstoff für die eigene Bevölkerung vorhanden sei, dass die für den Export bestimmten Dosen nun widerrechtlich im eigenen Land eingesetzt würden.

Markt leer gekauft

Große Teile dieser Lieferungen waren für die Impfinitiative COVAX bestimmt, an der alle Blockadestaaten beteiligt sind. „COVAX sollte eigentlich als weltweiter Impfstoffverteilungsmechanismus dienen, der aber durch reiche Länder unterminiert wurde“, sagt Massute.

Eigentlich sollte das von der WHO mit organisierte Programm ähnlich funktionieren wie die Impfstoffbeschaffung der EU: Jedes Teilnehmerland meldet einen Bedarf an, COVAX verhandelt für alle, die reichen Länder nehmen die Dosen zum Kaufpreis ab, ärmere Länder erhalten sie subventioniert. Doch die wohlhabenden Staaten schlossen von Beginn an parallel bilaterale Verträge mit den Herstellern, spendeten zwar darüber hinaus teils großzügig an COVAX, konnten damit die Beträge, die sie ansonsten für die Impfstoffdosen gezahlt hätten, aber bei Weitem nicht ausgleichen.

Über ihre eigenen Verträge hätten die reichen Staaten der Initiative nicht nur Verhandlungsgewicht entzogen, sondern auch den Impfstoff selbst, so Massute. „Der Markt ist derzeit leer gekauft, sodass fast gar nichts für ärmere Länder übrig bleibt.“ Alina Reichardt

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