ArchivDeutsches Ärzteblatt PP4/2021Coronapandemie: „Die Situation der Kinder spitzt sich jetzt dramatisch zu“

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Coronapandemie: „Die Situation der Kinder spitzt sich jetzt dramatisch zu“

Bühring, Petra

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Die fehlenden sozialen Kontakte durch Schulschließungen und den Shutdown von Sport- und Kulturangeboten in der Pandemie belasten Kinder und Jugendliche schwer. Kinderpsychotherapeuten und -ärzte fordern von der Politik, sofort ein breites Maßnahmenpaket aufzulegen.

Kinder und Jugendliche sind für unsere Gesellschaft sehr systemrelevant“, sagte Benedikt Waldherr, Vorsitzender des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten (bvvp). Schließungen von Kitas, Schulen sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen „finden in der Coronakrise inzwischen reflexartig statt, obwohl sich das zur Eindämmung des Pandemiegeschehens als ‚totes Pferd‘ erwiesen hat“. Dem aus der Einsamkeit, dem Mangel an sozialen Kontakten, der Bewegungsarmut und den großen Defiziten in der Bildung erwachsenen „massiven Leid“ der Kinder und Jugendlichen müsse die Politik sofort mit einem Maßnahmenpaket entgegenwirken.

Der bvvp hat deshalb ein breites Bündnis von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiatern sowie Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten initiiert, die alle ein entschlossenes Handeln der Politik fordern. In einer Online-Diskussionsveranstaltung am 24. März stellten der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e.V. (BKJPP), der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj), die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), die Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (VAKJP) und der bvvp mit Unterstützung von weiteren 20 psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbänden ihre Forderungen vor.

„Die Situation von Kindern und Jugendlichen hat sich bereits während der 2. Coronawelle massiv verschlechtert und spitzt sich jetzt dramatisch zu“, sagte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Beate Leinberger vom Vorstand des bvvp. Die aktuelle Online-Umfrage des Berufsverbands zu „Psychischen Belastungen und Lebensumständen bei Kindern und Jugendlichen in der Coronakrise“ unter 400 teilnehmenden Praxen habe die großen psychischen Belastungen gezeigt: Die Kinder leiden demzufolge sehr häufig an Leistungs- und Versagensängsten, depressiven Verstimmungen, Angst- und Schlafstörungen, Suizidalität, Neigung zu Selbstverletzungen und Substanzstörungen. Betroffen sind vor allem die 12- bis 17-Jährigen. Bestätigt werden diese Aussagen durch die zweite Befragung der COPSY-Studie (Kasten). Darüber hinaus ermittelte die DPtV in einer Blitzumfrage bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Januar, dass im Vergleich zum Vorjahreszeitraum die Patientenanfragen in den Praxen um durchschnittlich 60 Prozent angestiegen sind.

„Soziale Isolation ist grundsätzlich der größte Risikofaktor für die Ausbildung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen“, berichtete Dr. med. Thomas Löw, Leiter der Abteilung für Psychosomatik am Universitätsklinikum Regensburg. Weitere Risikofaktoren seien elterlicher Stress, Veränderung der Arbeitsbedingungen der Eltern und eine geringe Resilienz der Kinder. In den Zeiten des coronabedingten Lockdowns fallen diese Faktoren häufig zusammen. Kommen dann noch Konflikte zwischen Eltern und Kindern durch Homeschooling und Homeoffice hinzu, steigt, Löw zufolge, das Risiko für familiäre Gewalt. Ein weiterer Risikofaktor sei die Konzentration auf ausschließlich innerfamiliäre Kontakte beziehungsweise kein Kontakt zu Gleichaltrigen.

Das Bündnis der Verbände fordert ein breites Maßnahmenpaket für Kinder und Jugendliche, um sofort gegenzusteuern. Stellvertretend dafür forderte Helene Timmermann, Vorsitzende des VAKJP, zunächst grundsätzlich die Kinderrechte, entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention, stärker zu berücksichtigen. „Umgesetzt werden könnte das durch die Einrichtung eines Kinder- und Jugendrates analog zum Deutschen Ethikrat“, sagte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. In diesem Rat sollten Vertreter der Kinder- und Jugendsozialarbeit, der Medizin, der Psychologie und Psychotherapie, der Eltern und der Kinder sitzen.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Gundolf Berg, Vorsitzender des BKJPP, forderte ebenfalls stellvertretend für das Bündnis: „kulturelle und sportliche Angebote für Kinder und Jugendliche, um ohne Leistungsdruck die Selbstwirksamkeit wieder zu steigern“. Hierfür könnten beispielsweise Honorarkräfte unter soloselbstständig Kunstschaffenden oder beschäftigungslos gewordene Sporttrainer angeworben werden. Notwendig seien die Einbettung in gute pädagogische Konzepte und der Kinderschutz.

In seiner Praxis sieht Kinder- und Jugendpsychiater Berg aktuell „sehr viel Demotivation bei den Kindern“. Viele Jugendliche berichten ihm zudem von Substanzmissbrauch, insbesondere der Cannabiskonsum habe stark zugenommen.

Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Ariadne Sartorius vom bvvp fordert ebenfalls Sport-, Bewegungs- und kulturelle Aktivitäten an öffentlich zugänglichen Orten wie Parks, Plätzen oder Schulhöfen. „Nach dem Motto ,komm um 3 im Park vorbei‘, sollten ab sofort, umsonst und draußen, täglich Angebote stattfinden, bei denen man die AHA-Regeln einhalten kann.“ Das könnten zum Beispiel Angebote für Sport, Yoga, Tanzen, Singen, Trommeln sein. „Die Kinder brauchen ganz dringend wieder Erfolgserlebnisse“, sagte Sartorius.

Sie sieht als eines der größten Probleme an, dass den Kindern und Jugendlichen keine Perspektive gegeben werden kann, weil unbekannt ist, wie lange die Pandemie noch andauert. Kritisch sei auch, dass der Austausch mit der Jugendhilfe nicht mehr funktioniere, „die Jugendämter sind zum Teil immer noch dicht“. Sie habe schon lange an keinem runden Tisch mehr teilnehmen können.

„Die Perspektivlosigkeit ist schlimm“, sagt auch Thomas Fischbach, Präsident des BVKJ. „Die Familien waren und sind immer noch nicht im Blick der Politik – Homeoffice und Homeschooling gehen nicht zusammen.“ Auch der Kinder- und Jugendarzt bestätigt, dass die Jugendhilfe „kaum verfügbar“ sei.

In den Kinderarztpraxen mehren sich Fischbach zufolge, junge Patienten mit Angst- und Zwangsstörungen, depressiven Verhalten, Motivationsverlust, dyfunktionalem Medienkonsum und übermäßiger Gewichtszunahme.

Der Kinderarzt fordert deshalb von der Politik, ein bundesweites Hilfetelefon für Kinder und Jugendliche in Not einzurichten. Unter dieser Leitung sollte fachkompetente Beratung stattfinden, und sie sollte intensiv beworben werden, um die Kinder zu erreichen.

„Die Coronapandemie wird bei den Kindern Spuren hinterlassen“, betonte Michaela Willhauck-Fojkar von der DPtV und Vorstandsmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer. Der Fokus dürfe deshalb nicht allein auf den schulischen Leistungen liegen, sondern notwendig sei ein großes Angebot an Freizeitaktivitäten, kostenlos und leicht zugänglich.

In ihrer Praxis sieht die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin vermehrt Jugendliche, die sich selbst vorstellen, weil sie Hilfe brauchen. „Die Jugendlichen suchen dann den persönlichen Kontakt, sie wollen ausdrücklich keine Videobehandlung“, betonte Willhauck-Fojkar. Petra Bühring

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