POLITIK
Akademisierung der Pflege: Mangelnde Wertschätzung


Während die Politik eigentlich die Akademisierungsquote in der Pflege erhöhen will, wird die einzige pflegewissenschaftliche Fakultät Deutschlands von seinem privaten Träger geschlossen. Die Bundesländer stehen nun in der Kritik, die Pflegewissenschaft nicht ernst genug zu nehmen.
Die Ankündigung war für viele in der Branche ein Schock. Die Fakultät für Pflegewissenschaft an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) in Rheinland-Pfalz werde aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegt, erklärte der Träger der PTHV, die Pallottiner, Ende März in einer Pressemitteilung. Als Gründe nannte die religiöse Gemeinschaft zum einen den Ausstieg der Marienhaus Holding aus der PTHV GmbH zum Jahresende 2020, nach dem die Pallottiner die alleinige finanzielle Verantwortung für die Hochschule trügen. Zum anderen gebe es zu wenig Interesse. Die derzeit eingeschriebenen etwa 250 Studierenden reichten nicht aus, um den Studiengang zu finanzieren. Ohnehin hätten es private Träger schwerer, da die staatlichen Mitbewerber keine Studiengebühren erhöben.
Schwerer Schlag
„Das ist ein schwerer Schlag für den Ausbau der Akademisierung der Pflege in Deutschland“, kommentierte Franz Wagner, Mitglied des Präsidiums der Bundespflegekammer (BPK), gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „An der PTHV arbeiten derzeit mehr als 80 Pflegefachpersonen an ihrer Promotion. Das zeigt, welchen Stellenwert diese Hochschule hat.“
Mittlerweile ist in Politik und Gesellschaft Konsens, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessert werden müssen, um eine gute Pflege der Bürger in einer älter werdenden Gesellschaft zu ermöglichen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nannte die Pflege „die soziale Frage der 20er-Jahre“. Konsens besteht ebenfalls darin, dass der bestehende Pflegemangel nur durch mehr Ausbildungsplätze behoben werden kann. Im ersten Bericht zur Konzertierten Aktion Pflege (KAP) sind die Maßnahmen zusammengefasst, mit denen Politik und Verbände die Arbeitsbedingungen attraktiver gestalten wollen. Gleich im ersten Kapitel ist dabei die Ausbildungsoffensive genannt, mit der zwischen 2019 und 2023 zehn Prozent mehr Ausbildungsplätze an den circa 1 500 Pflegeschulen in Deutschland geschaffen werden sollen. Auch der Ausbau der Akademisierung ist ein erklärtes Ziel der KAP. International wird eine Akademisierungsquote von etwa 15 bis 20 Prozent innerhalb der Pflege angestrebt. In Deutschland liegt diese Quote bei etwa einem Prozent.
Mehr Auszubildende
Die Zahl der Auszubildenden in der Pflege ist in den vergangenen Jahren hingegen kontinuierlich gestiegen. Dem Statistischen Bundesamt zufolge begannen im Jahr 2009 noch 51 400 Menschen eine Ausbildung in der Kranken-, Alten- oder Kinderkrankenpflege. Im Jahr 2019 waren es 71 300. Im Vergleich zu 2018 lag der Anstieg bei 8,2 Prozent (plus 5 400 Auszubildende).
Auch in der größten Pflegeschule Deutschlands steigt die Zahl der Ausbildungsplätze: am Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe (BBG), der von der Charité und Vivantes getragen wird. „Vivantes erhöht die Zahl der Ausbildungsplätze von 760 im Jahr 2018 auf 1 415 im Jahr 2024“, sagt die Geschäftsführerin des Campus’, Christine Vogler, dem DÄ. „Bei der Charité steigt die Zahl von 350 auf 450.“ Nicht enthalten ist in den Zahlen allerdings der Anteil derjenigen, die ihre Ausbildung abbrechen. Und der liegt 2020 höher als in den Vorjahren. „Valide Daten haben wir dazu in Deutschland allerdings noch nicht“, sagt Vogler, die auch stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Pflegerates ist.
Eine höhere Abbrecherquote beobachtet zurzeit auch Jochen Vennekate, Geschäftsführer der Christlichen Bildungsakademie für Gesundheitsberufe in Aachen. „Das kann mit der Pandemie zusammenhängen“, sagt er dem DÄ. „Denn die Pandemie hat die Ausbildung in jeglicher Hinsicht erschwert. Wir mussten die theoretische Ausbildung fast ausschließlich auf Online-Formate umstellen. Außerdem wurde die Praxisanleitung durch die Belastung der Pflegekräfte in den Einrichtungen massiv beeinträchtigt. Die Praxisbegleitung durch die Bildungseinrichtungen war teilweise gar nicht möglich, da wir in einige Einrichtungen gar nicht mehr hineinkamen.“
Der Beginn der Coronapandemie fiel genau auf den Beginn der neuen generalistischen Ausbildung, zu der die drei bisherigen Ausbildungen in der Pflege zusammengeführt wurden. „Die Generalistik stellt höhere Anforderungen an Auszubildende und Bildungseinrichtungen“, sagt Vennekate. „Aufgrund der Pandemie mit den sich weiter verschlechternden Rahmenbedingungen in Theorie und Praxis grenzt die Umsetzung derzeit an die Quadratur des Kreises. Das führt zu vermehrten Ausbildungsabbrüchen.“
Auch Wagner von der BPK erzählt von „anekdotischen Berichten“, die eine „deutlich höhere“ Abbrecherquote zeigten. Zeitgleich vermeldeten andere Schulen das Gegenteil. Verlässliche Zahlen lägen nicht vor. „Leider ist Deutschland in Sachen Gesundheitspersonalstatistik immer noch nicht gut aufgestellt“, so Wagner. Die Bundespflegekammer erhofft sich positive Auswirkungen durch die neue Ausbildung. „Wir setzen sehr darauf, dass die Generalistik, genauso wie die hochschulische Ausbildung, das Ausbildungsinteresse fördern wird“, sagt Wagner. Mit der hochschulischen Ausbildung würden zusätzliche Ausbildungsinteressierte angesprochen, insbesondere Abiturienten. Zudem sei zu erwarten, dass sich die Rahmenbedingungen – wie die Bezahlung oder die Stellenausstattung – künftig verbessern würden.
Vennekate verweist in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Problem. „In Deutschland gibt es einen Mangel an Lehrenden und Studienplätzen für Lehrende in der Pflege“, sagt er. Das habe auch Auswirkungen auf die Qualität der Pflegeausbildung. „Im Pflegeberufegesetz, mit dem die Generalistik eingeführt wurde, ist ein bestimmtes Lehrer-Schüler-Verhältnis vorgeschrieben“, sagt Vennekate, der auch Mitglied im Vorstand des Berufsverbands Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS) ist. „Wegen des Mangels an Lehrenden kann das vielerorts nicht eingehalten werden.“ Weil es zu wenig Lehrende gebe, seien in manchen Pflegeschulen sogar die bestehenden Ausbildungsplätze gefährdet. Neue Plätze aufzubauen, wie es die KAP vorsieht, sei unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Praxisanleitung vergüten
Vogler sieht die Bundesländer in Pflicht. „Die PTHV war die einzige Universität in Deutschland, die eine Pflegefakultät vorweisen konnte“, sagt sie. „An den staatlichen Universitäten und Hochschulen gibt es keine pflegewissenschaftliche Fakultät. Das ist doch peinlich.“ Alle Pflegestudien seien an andere Fakultäten angehängt. Das zeige auch die Wertschätzung, die der Pflegewissenschaft in Deutschland entgegengebracht werde. Um mehr Menschen für ein Pflegestudium zu gewinnen, müssten die praktischen Ausbildungszeiten bei den Pflegestudiengängen vergütet, die Praxisanleitung in allen pflegerischen Settings finanziert und die Qualifikation der Praxisanleitenden vergütet werden.
In manchen Hochschulen würden Lehrende im Fach Pflege ausgebildet, ohne dass es eine Professur für ein Hauptfach Pflegewissenschaften gibt, kritisiert Vennekate. Und in nur acht Bundesländern gebe es Studiengänge, die Qualitätsstandards wie eine ausreichende Personalausstattung vorsähen.
„Die Entwicklung an der PTHV wirft ein grelles Schlaglicht auf die Gesamtsituation der Akademisierung“, meint Wagner. „Der Staat hält sich in vielen Bundesländern sehr bei Investitionen in diesem Bereich zurück. Man verlässt sich auf private – und gerade zu Beginn der Entwicklung – fast ausschließlich auf kirchliche Hochschulen. Das muss sich dringend ändern.“ Falk Osterloh