ArchivDeutsches Ärzteblatt19-20/2021COVID-19 zeigt Möglichkeiten für bessere Schlaganfallversorgung

MEDIZIN: Kurzmitteilung

COVID-19 zeigt Möglichkeiten für bessere Schlaganfallversorgung

Aussetzung des Antragsverfahrens für Anschlussrehabilitation, stationäre Verweildauer und Behandlungsergebnis

COVID-19 reveals opportunities for better care of stroke patients—direct transfer to postacute rehabilitation, reduction in length of stay, and treatment outcomes

Studer, Bettina; Roukens, Robin; Happe, Svenja; Schmidt, Simone B.; Knecht, Stefan

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Deutschland zählt pro Jahr rund 19 Millionen Krankenhaus- und 2 Millionen stationäre Rehabilitationsbehandlungen, davon ein Fünftel als Anschlussrehabilitation nach Akutversorgung (1). Anschluss-Rehas sind besonders nach schweren Krankheitsverläufen angezeigt. Ihr Beginn verzögert sich jedoch häufig, weil Krankenkassen zunächst eine Beantragung der Reha verlangen. Wie sich dieses Genehmigungsverfahren auf die Gesamtbehandlungsdauer und -ergebnisse auswirkt, ist unbekannt.

Am 24. 3. 2020 verfügte das Bundesministerium für Gesundheit: „Während der jetzigen Corona-Pandemie ist es geboten, dass nicht zwingend erforderliche Belegungen von Krankenhausbetten vermieden werden. (...) Das Verfahren der Anschlussrehabilitation wird befristet auf ein Verfahren der Direkteinweisung durch die Krankenhäuser umgestellt. (...) Danach prüfen die Krankenhäuser die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Anschluss-Reha und organisieren die Überleitung in die Anschlussrehabilitation, ohne zunächst auf die Genehmigung der Leistung durch die zuständige Krankenkasse zu warten.“ Diese Aussetzung endete am 31. 5. 2020.

Methode

Wir nutzten dieses „natürliche“ Experiment, um zu untersuchen, wie sich das Bewilligungsverfahren auswirkt. Analysiert wurden anonymisierte Controllingdaten von schwer (Neurorehaphase C) und mäßig (Neurorehaphase D) betroffenen Patienten aus vier Neurorehabilitationskliniken (= Arbeitsstätten der Autoren) während des ausgesetzten Bewilligungsvorbehaltes (24. 3. bis 31. 5. 2020; Interventionsgruppe; n = 302) gegenüber davor (1. 1. bis 23. 3. 2020; Kontrollgruppe; n = 420). Primäre Ergebnisvariablen waren Latenz zwischen Akutereignis und Beginn der Anschluss-Reha sowie funktionelle Erholung während der Reha per Änderung des Barthel-Index (Wertebereich = 0–100). Sekundäre Ergebnisvariablen umfassten Verweildauer in stationärer Rehabilitation und schwere Komplikationen (Komplikationsdaten aus 2 Kliniken, Interventionsgruppe n = 213, Kontrollgruppe n = 340).

Die Interventionsgruppe war tendenziell etwas jünger als die Kontrollgruppe (71,96 ± 11,83 versus 73,54 ± 12,44 Jahre; t = 1,72; p = 0,087). Geschlecht (48,4 versus 45,4 % weiblich; χ2 = 0,47; p = 0,491; Angaben fehlend bei n = 172) und Diagnosen (χ2 = 8,25; p = 0,080) unterschieden sich nicht. Schlaganfall war die häufigste Hauptdiagnose (80 versus 73 %). Die Latenzdaten (log-transformiert) wurden mit einer Kovarianzanalyse (ANCOVA) ermittelt (Faktoren: Interventions- /Kontrollgruppe, Reha-Phase, Gruppe × Phase, Klinik, Diagnose, Kovariate: Alter), die funktionelle Erholung mit einer äquivalenten ANCOVA mit den zusätzlichen Kovariaten Barthel-Index bei Aufnahme und Behandlungsdauer.

Ergebnisse

Im Median setzte die stationäre Rehabilitation während der Intervention 7 (Phase C) beziehungsweise 10 Tage (Phase D) früher ein als in der Kontrollperiode (Gruppenhaupteffekt ANCOVA: F = 52,042; p < 0,001; ηp2 = 0,069) (Grafik 1). Verweildauern und Komplikationsraten in den Rehabilitationskliniken waren in den beiden Zeiträumen ähnlich (p ≥ 0,186). Während die Funktionserholungen mäßig betroffener Patienten gleich ausfiel (F = 2,6, p = 0,11), zeigten schwer Betroffene während der Intervention eine bessere funktionelle Erholung (F = 4,4, p = 0,036; ηp2 = 0,011) (Grafik 2).

Verkürzung stationärer Gesamtbehandungsdauer durch Direktverlegung
Grafik 1
Verkürzung stationärer Gesamtbehandungsdauer durch Direktverlegung
Verbesserte Erholung schwer Betroffener durch Direktverlegung
Grafik 2
Verbesserte Erholung schwer Betroffener durch Direktverlegung

In einer Klinik wurden zusätzlich Belegungskapazitäten erfasst und ein möglicher konfundierender jahreszeitlicher Effekt anhand von Daten aus 2018 und 2019 geprüft. Diese Kontrollanalysen ergaben, dass Aufnahmekapazitäten oder Jahreszeiten keine systematischen Einflüsse auf Verlegungslatenzen hatten. Ergänzende Informationen findet man unter https://osf.io/wpcfd/?view_only=e52cff91bf5a4b458b5e87507acff38e

Diskussion

Zusammenfassend zeigte sich, dass der Verzicht auf Reha-Antragsverfahren die stationäre Gesamtverweildauer verkürzt (kürzer im Krankenhaus und gleichlang in Rehabilitationsklinik). Die Komplikationsrate während der Reha war nicht erhöht; es gibt also keine so genannten blutigen Verlegungen. Stattdessen wurde bei den schwer betroffenen Patienten eine bessere Funktionserholung beobachtet. Ähnliche Effekte fanden auch Korrelationsstudien (2). Vermutlich spielen eine früh postläsionell erhöhte Gehirnplastizität und die Vermeidung immobilitätsbedingter Komplikationen hier eine Rolle. Nach aktimetrischen Daten sind Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern in 94 % ihrer Zeit immobil (3). Eine längere Immobilität führt zum Verlust von Kraft und Muskelgewebe und damit der Grundlage, im Alltag wieder selbstständig zu sein (4). Dieser immobilitätsbedingte Abbau ist vermutlich auch verantwortlich dafür, dass die Kontrollgruppe trotz längerem Zeitintervall für Spontanerholung mit einem für die Interventionsgruppe vergleichbaren mittleren Barthel-Index in die Rehabilitationskliniken aufgenommen wurde. Gerade schwer betroffene, also immobilere Patienten, könnten daher von einer schnelleren Verlegung in Rehabilitationskliniken, in denen intensiv mobilisiert wird (5), profitieren.

Wieso verlängert der Bewilligungsvorbehalt den Krankenhausaufenthalt mit 7 beziehungsweise 10 Tagen so deutlich? Das Antragsverfahren ist durch den Kooperationsbedarf zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen und Institutionen sehr verzögerungsträchtig, obwohl die Kriterien für eine Reha gesetzlich festgelegt sind. Sie könnten von Klinikärzten problemlos angewendet und von Kostenträgern im Nachgang leicht überprüft werden. Unsere Daten bestätigen die Vermutung vonseiten des Gesundheitsministeriums, dass ein Verzicht auf das Antragsverfahren „nicht zwingend erforderliche“ Belegungen von Krankenhausbetten vermeiden kann. Angesichts von circa 150 000 neurologischen Anschlussrehabilitationen in Deutschland zeigt unsere Erhebung, dass die Abschaffung des Bewilligungsverfahrens allein in der Neurologie pro Jahr bis zu 1,5 Millionen Krankenhaustage und damit über eine Milliarde Euro Kosten einsparen könnte.

Bettina Studer, Robin Roukens, Svenja Happe, Simone B. Schmidt, Stefan Knecht
St. Mauritius Therapieklinik Meerbusch, Meerbusch (Studer, Knecht)
stefan.knecht@stmtk.de

Institut für Klinische Neurowissenschaften und Medizinische Psychologie, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Studer, Knecht)

Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik, Nümbrecht (Roukens)

Klinik Maria Frieden Telgte (Happe)

Institut für neurorehabilitative Forschung, Assoziiertes Institut der Medizinischen Hochschule Hannover, BDH-Klinik Hess. Oldendorf (Schmidt)

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 28. 1. 2021, revidierte Fassung angenommen: 19. 4. 2021

Zitierweise
Studer B, Roukens R, Happe S, Schmidt SB, Knecht S: COVID-19 reveals opportunities for better care of stroke patients—direct transfer to postacute rehabilitation, reduction in length of stay, and treatment outcomes. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 346–7. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0219

Dieser Beitrag erschien online am 28. 4. 2021 (online first) auf www.aerzteblatt.de

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter: www.aerzteblatt-international.de

1.
Statistisches Bundesamt: Gesundheit, Grunddaten der Krankenhäuser. Fachserie 2016; 12.
2.
Scrutinio D, Monitillo V, Guida P, et al.: Functional gain after inpatient stroke rehabilitation: correlates and impact on long-term survival. Stroke 2015; 46: 2976–80 CrossRef MEDLINE
3.
Mattlage AE, Redlin SA, Rippee MA, Abraham MG, Rymer MM, Billinger SA: Use of accelerometers to examine sedentary time on an acute stroke unit. J Neurol Phys Ther 2015; 39: 166–71 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Gruther W, Benesch T, Zorn C, et al.: Muscle wasting in intensive care patients: ultrasound observation of the M. quadriceps femoris muscle layer. J Rehabil Med 2008; 40: 185–9 CrossRef MEDLINE
5.
Knecht S, Roßmüller J, Unrath M, Stephan KMKM, Berger K, Studer B: Old benefit as much as young patients with stroke from high-intensity neurorehabilitation: cohort analysis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87: 526–30 CrossRef MEDLINE PubMed Central
Verkürzung stationärer Gesamtbehandungsdauer durch Direktverlegung
Grafik 1
Verkürzung stationärer Gesamtbehandungsdauer durch Direktverlegung
Verbesserte Erholung schwer Betroffener durch Direktverlegung
Grafik 2
Verbesserte Erholung schwer Betroffener durch Direktverlegung
1.Statistisches Bundesamt: Gesundheit, Grunddaten der Krankenhäuser. Fachserie 2016; 12.
2.Scrutinio D, Monitillo V, Guida P, et al.: Functional gain after inpatient stroke rehabilitation: correlates and impact on long-term survival. Stroke 2015; 46: 2976–80 CrossRef MEDLINE
3.Mattlage AE, Redlin SA, Rippee MA, Abraham MG, Rymer MM, Billinger SA: Use of accelerometers to examine sedentary time on an acute stroke unit. J Neurol Phys Ther 2015; 39: 166–71 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Gruther W, Benesch T, Zorn C, et al.: Muscle wasting in intensive care patients: ultrasound observation of the M. quadriceps femoris muscle layer. J Rehabil Med 2008; 40: 185–9 CrossRef MEDLINE
5.Knecht S, Roßmüller J, Unrath M, Stephan KMKM, Berger K, Studer B: Old benefit as much as young patients with stroke from high-intensity neurorehabilitation: cohort analysis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87: 526–30 CrossRef MEDLINE PubMed Central

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