ArchivDeutsches Ärzteblatt21/2021Todeswünsche am Ende des Lebens: Häufig ambivalent

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Todeswünsche am Ende des Lebens: Häufig ambivalent

Lindner, Reinhard; Goldblatt, Mark; Briggs, Stephen; Teising, Martin

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Vor dem Hintergrund immer besserer technischer Möglichkeiten der Lebensverlängerung wächst bei einigen Menschen die Angst vor dem Sterben. Der Wunsch nach einem beschleunigten Tod ist aber oft ambivalent. Ärzte sollten in dieser Situation eine therapeutische Beziehung anbieten.

Die Befürchtung, am Lebensende von Maschinen abhängig zu sein, führt häufig zu dem Wunsch, das Sterben selbst zu bestimmen. Foto: epd-bild/Werner Krüper
Die Befürchtung, am Lebensende von Maschinen abhängig zu sein, führt häufig zu dem Wunsch, das Sterben selbst zu bestimmen. Foto: epd-bild/Werner Krüper

Der assistierte Suizid ist derzeit in Deutschland erlaubt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat am 26. Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt. Er hat festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst und die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen, unabhängig vom Lebensalter und vom Gesundheitszustand.

In Regionen der Welt, in denen der ärztlich assistierte Suizid und Tötung auf Verlangen erlaubt sind, sterben bis zu fünf Prozent der Menschen mit diesen Verfahren (1, 2). Das höchste deutsche Gericht betont die Autonomie des Individuums. „Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“

Angst vor dem Sterben

Dieses Urteil ist vor dem Hintergrund entstanden, dass mit technischen Möglichkeiten immer stärker in den Sterbeprozess eingegriffen wird und die Angst vor dem Sterben zugenommen hat, weil es nicht mehr nur von der Natur, sondern ganz wesentlich auch von anderen Menschen, ihren Entscheidungen und Handlungen mithilfe einer als unmenschlich erlebten Medizintechnik abhängt, ob und wie gestorben wird. Die Befürchtung, am Lebensende von Maschinen abhängig zu sein, die das Leben künstlich verlängern, führt zu dem Wunsch, nicht mehr „gestorben zu werden“, sondern das Sterben genau festzulegen und seinen Ablauf selbst in der Hand zu halten. Durch eigene Hand zu sterben verbindet sich beim assistierten Suizid mit dem Wunsch, begleitet, in vertrauter Umgebung zu sterben.

Der Wunsch nach einem beschleunigten Tod hat mehrere Determinanten. In den meisten Fällen liegt ihm eine psychische Erkrankung zugrunde. Reale oder imaginäre Befürchtungen von Verlassenheit und Leiden spielen aber auch bei psychisch gesunden Suizidenten meist eine zentrale Rolle. Viele Patienten mit schweren körperlichen Erkrankungen wünschen sich, mit ihren Ärzten über die belastenden Aspekte ihrer Krankheit sprechen zu können, so auch über den Wunsch nach Hilfe beim Sterben (3). Wenn sie sich dann mit dem Wunsch, ihr Leiden abzukürzen, von ihren Ärzten alleingelassen fühlen, kann dies dazu beitragen, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Um dem zu begegnen, sollten Ärzte eine ärztlich-therapeutische Beziehung anbieten, die psychische Stärkung und zugleich eine Lösung konflikthaften Erlebens inmitten des Leidens ermöglicht. Hilfreiche Beziehungen sind am Ende des Lebens in unserer, das Individuum und seine Rechte betonenden und Gebunden-Sein und Abhängigkeit ablehnenden Gesellschaft zunehmend von Bedeutung.

Innere Konflikte sind häufig

Es ist dabei wichtig, das gesamte Spektrum der vom Patienten ausgehenden Kommunikation zu erkennen. Dies erfordert eine Haltung der Anerkennung und des einfühlsamen Verstehens. Diese Aufnahme einer empathischen Beziehung bedarf sodann eines zweiten Schritts: Der Wunsch nach einer direkten, zum beschleunigten Tode führenden Unterstützung sollte weiter untersucht und möglichst verstanden werden. Er sollte nicht a priori als ultimative Wahrheit und Handlungsanweisung begriffen werden, sondern vielleicht auch als Ausdruck quälender innerer Konflikte. Ungelöste Erfahrungen aus der Vergangenheit, insbesondere schmerzliche Verlusterlebnisse, können zu einem sehr akuten, auf das „Jetzt und Hier“ gerichteten Druck führen, dem Wunsch nach einem beschleunigten Tod nachzukommen. Die wesentliche Determinante scheint dabei der Wunsch zu sein, das Leiden zu beenden, um die Hilflosigkeit eines leidvollen, einsamen Lebensendes zu vermeiden.

Die Wünsche nach Hilfe zum schnelleren Sterben sind auch bei todkranken Menschen meist ambivalent. Sie können der Rettung aus unerträglichen innerseelischen Gefühlszuständen oder der scheinbaren Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten dienen. Oft geht es dabei um Fragen der Kontrolle und um die Angst vor Abhängigkeit, die mit dem drohenden Verlust von geliebten Menschen, von Funktionsfähigkeit oder wichtigen Eigenschaften verbunden ist. Der Wunsch nach einem ärztlich unterstützten Sterben kann in den eigenen Fantasien zu einem Weg werden, unerträgliche Gefühlszustände zu vermeiden. Der todkranke Patient könnte sagen: „So kann ich nicht leben. Ich muss die Kontrolle über meinen Körper haben. Ich möchte mir das Leben nehmen können, wenn ich den Zeitpunkt dafür für richtig halte“, was die unterschwellige Angst widerspiegelt: „Niemand wird mir helfen, wenn die Krankheit unerträglich wird. Ich werde alleingelassen werden und ohne Fürsorge leiden.“

Sehr oft dient der Wunsch nach Suizidbeihilfe, mit dem das Leiden abgekürzt werden soll, zugleich auch einer Kontaktaufnahme. Ein empathisches Engagement des Arztes kann dem Patienten eine Perspektive ermöglichen, die die Selbstbeobachtung fördert und trotz der erschreckenden Realitäten, die sich am Lebensende zeigen, neue Erfahrungsoptionen ermöglicht. Die Beziehung zu jemandem, der sich in dieser fremden und bedrohlichen Situation auskennt, fördert das Erleben eines Verbundenseins, das hilft, die katastrophale Erfahrung des Verlustes in einer Zeit der größten Verletzlichkeit zu überwinden. Die Verbindung entsteht durch eine therapeutisch wirksame Beziehung, die auf empathischer Aufmerksamkeit für die Anliegen des Patienten basiert und seine Bedürfnisse, Ängste und Wünsche berücksichtigt. Die klinische Erfahrung lehrt, dass Patienten, die Beweg- und Hintergründe für den Wunsch nach einem assistierten Tod klären, sich oft von der unmittelbaren Notwendigkeit todbringender Handlungen befreit fühlen.

Die Patienten können dann in Kenntnis der Sachlage entscheiden, welchen Problemen sie sich stellen und welche sie vermeiden, wenn das Ende des Lebens vorweggenommen würde. Selbst im Angesicht des unvermeidlichen Todes kann dieses ärztliche Engagement die Lösung von inneren Konflikten erleichtern, Beziehungen stärken und dadurch zu einer Verbesserung der Lebensqualität entscheidend beitragen (4).

Empathisch aufklären

Depressive und resignative Zustände am Lebensende fördern oft den Wunsch nach einem beschleunigten Tod. Selbst in der Endphase des Lebens kann die Bildung einer therapeutischen Beziehung aber auch verzweifelten Patienten helfen, diese verheerenden affektiven Zustände zu ertragen. Der Druck zum sofortigen Handeln lässt oft in der Gegenwart eines tröstenden, unterstützenden Zuhörers nach, der in der Lage ist, einen Patienten mit der Beschreibung vergangener Erfahrungen und aktueller Ängste zugewandt zu konfrontieren. Durch einfühlsame Aufklärung über vorhandene Behandlungsmöglichkeiten der zu erwartenden Leiden kann der selbstzerstörerische Druck entscheidend reduziert werden. Patienten, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, werden so bei der Bewältigung der angstmachenden Realitäten gestärkt. Empathisches Engagement, selbst bei denjenigen, die dem Tod am nächsten sind, fördert die Verbundenheit und die Erforschung von widersprüchlichen Todeswünschen. Dazu gehören auch solche, die unter erheblichem Stress durch eine schwere medizinische Erkrankung ausgelöst werden. Gute Beziehungen binden an das Leben und verhindern die Notwendigkeit destruktiver Handlungen.

Prof. Dr. med. Reinhard Lindner; Prof. Mark Goldblatt, MD; Prof. Stephen Briggs, PhD; Prof. Dr. phil. Martin Teising

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2121
oder über QR-Code.

1.
Steck N, et al.: Suicide assisted by right-to-die associations: a population-based cohort study. Int J Epidemiol. 2014; 43: 614–22 CrossRef MEDLINE
2.
van der Heide A, et al.: End-of-life practices in the Netherlands under the Euthanasia Act. The New England journal of medicine. 2007; 356: 1957–65 CrossRef MEDLINE
3.
Golla H, et al.: Patients Feeling Severely Affected by Multiple Sclerosis: Addressing Death and Dying. OMEGA – Journal of Death and Dying 2016 CrossRef
4.
Fulton JJ, Newins AR, Porter LS, Ramos K; Psychotherapy Targeting Depression and Anxiety for Use in Palliative Care: A Meta-Analysis. J Palliat Med 2018; 21 (7): 1024–37 CrossRef MEDLINE
1.Steck N, et al.: Suicide assisted by right-to-die associations: a population-based cohort study. Int J Epidemiol. 2014; 43: 614–22 CrossRef MEDLINE
2.van der Heide A, et al.: End-of-life practices in the Netherlands under the Euthanasia Act. The New England journal of medicine. 2007; 356: 1957–65 CrossRef MEDLINE
3.Golla H, et al.: Patients Feeling Severely Affected by Multiple Sclerosis: Addressing Death and Dying. OMEGA – Journal of Death and Dying 2016 CrossRef
4.Fulton JJ, Newins AR, Porter LS, Ramos K; Psychotherapy Targeting Depression and Anxiety for Use in Palliative Care: A Meta-Analysis. J Palliat Med 2018; 21 (7): 1024–37 CrossRef MEDLINE

Kommentare

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Avatar #886128
Richard_W
am Donnerstag, 27. Mai 2021, 09:04

Fromme Wünsche

„In den meisten Fällen liegt ihm eine psychische Erkrankung zugrunde.”

Das ist irrelevant, solange der betreffende Mensch entscheidungsfähig ist. Gerade Psychiater sollten mit solchen Aussagen sehr vorsichtig sein, weil sie stigmatisierend wirken könnten. Auch kann hinterfragt werden, ob Depressive nicht möglicherweise in gewisser Hinsicht einen klareren Blick auf die Realität haben (vgl. Diskussion um „depressive realism”). Für den Psychiater ist es natürlich bequem, jegliche Unsicherheit bei der Feststellung der Entscheidungsfähigkeit zulasten der Freiheit des Patienten gehen zu lassen.

„[Der Todeswunsch] sollte nicht a priori als ultimative Wahrheit und Handlungsanweisung begriffen werden, sondern vielleicht auch als Ausdruck quälender innerer Konflikte.”

Der Todeswunsch sollte genauso wenig a priori als Krankheitssymptom (Vorsicht logischer Zirkelschluss!) oder irrational verworfen werden. Diese Haltung ist aber bei Ärzten - nicht zuletzt aus Eigeninteresse - weit verbreitet.

Aus dem Artikel geht nicht hervor, was so erstrebenswert daran sein soll, Menschen - durch eine pauschale Verhinderung von assistiertem Suizid - an „erschreckende Realitäten, die sich am Lebensende zeigen,” eine „fremden und bedrohlichen Situation”, eine „katastrophale Erfahrung des Verlustes in einer Zeit der größten Verletzlichkeit” und „verheerende affektiven Zustände” zu binden. Dass eine „therapeutische Beziehung“ das Leid erheblich verringert, kann nicht für den Einzelfall garantiert werden.

„Die klinische Erfahrung lehrt, dass Patienten, die Beweg- und Hintergründe für den Wunsch nach einem assistierten Tod klären, sich oft von der unmittelbaren Notwendigkeit todbringender Handlungen befreit fühlen.”

Für manche Patienten wird es auch die ernüchternde Einsicht sein, dass sie die ersehnte Hilfe nicht bekommen und im Alleingang vermutlich scheitern würden. So werden sie gezwungen sein, sich mit ihrer Situation zu arrangieren, was immer kommen wird.

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