THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Daniela Ludwig, Bundesdrogenbeauftragte, und Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer: „Die ärztliche Tätigkeit fällt auf fruchtbaren Boden“


Die Substitutionsbehandlung ebnet schwer opiatabhängigen Menschen einen Weg zurück in die Normalität. In den nächsten Jahren gehen viele substituierende Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand. Daniela Ludwig und Klaus Reinhardt werben gemeinsam für mehr Ärzte, die sich in der Substitutionsbehandlung engagieren.
Die Drogentodesfälle nehmen seit 2015 wieder zu. Die Suchtkranken sterben durch Opioide, infolge von Langzeitschädigungen sowie durch Crack und Amphetamine und Kokain. Die Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen kann Leben retten. Frau Ludwig, Sie setzen sich seit Ihrem Amtseintritt dafür ein, mehr Ärztinnen und Ärzte hierfür zu gewinnen, jetzt auch zusammen mit der Bundesärztekammer.
Daniela Ludwig: Ich hatte das große Glück, bei Dr. Reinhardt offene Türen einzulaufen bei diesem Thema. Ärzte, die Heroinabhängige substituieren, werden von Jahr zu Jahr weniger. Auf der anderen Seite spüren wir vor allem seit dem ersten Lockdown in der Coronapandemie eine deutlich stärkere Nachfrage nach Substitutionsbehandlung, auch ausgelöst durch die Eilverordnung des Bundesgesundheitsministeriums, mit der wir den Zugang deutlich erleichtert haben. Viele Abhängige sind dadurch erst auf die Idee gekommen, dass Substitution für sie der richtige Weg wäre. Auch viele Änderungen aus der BtMVV Novellierung Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) von 2017 scheinen nun verstärkt Anwendung zu finden. Wir dringen deutlich stärker mit der Botschaft durch, dass Substitution Leben rettet. Jetzt müssen wir die Substitution aber auch in die Ärzteschaft hineinbringen.
Die Zahl substituierender Ärzte ist in den letzten zehn Jahren von 2 700 in 2011 auf 2 545 in 2020 gesunken. Das Durchschnittsalter liegt bei 58,5 Jahren. Warum ist die Substitutionsbehandlung anscheinend nicht so attraktiv?
Klaus Reinhardt: Es ist eine Frage der Sichtweise. Ja, wir haben in den letzten zehn Jahren circa sechs Prozent an substituierenden Ärzten verloren, die wir bei einer steigenden Zahl an Patientinnen und Patienten dringend weiterhin bräuchten. Allerdings kann diese Entwicklung nicht völlig losgelöst von der hausärztlichen Versorgung insgesamt gesehen werden. Da hatten wir im gleichen Zeitraum einen etwa doppelt so starken Rückgang, nämlich von etwa 13 Prozent. Auch muss man berücksichtigen, dass das Durchschnittsalter hier zwangsläufig über dem der Hausärzte liegt, da Zusatzweiterbildungen meist erst im weiteren Verlauf des Berufslebens erworben werden. Und wir hören von vielen Landesärztekammern, dass ihre Kurse zum Erwerb der suchtmedizinischen Zusatzweiterbildung gut nachgefragt werden – leider steigt nur ein geringer Teil der Absolventen danach auch in die Versorgung Opiatabhängiger ein.
Warum ist das so?
Reinhardt: Es ist schon eine bewusste Entscheidung, sich diesen Patienten zu widmen, die nicht so einfach in den hausärztlichen Alltag einzubinden sind. Heroinabhängigen läuft oftmals das Image des Kriminellen voraus. Dabei wird verkannt, dass gerade durch die Behandlung ja der Suchtdruck und die Beschaffungskriminalität erfolgreich gemindert werden können. Die Patienten können dann wieder in ein stabiles und normales Leben zurückfinden.
Häufig wird gesagt, Heroinabhängige seien nicht wartezimmertauglich …
Ludwig: Es gibt dieses Vorurteil, dass diese Patienten nicht wartezimmertauglich sind, aber es geht auch um die Entstigmatisierung von Suchtkranken. Ärzte, die Substitution anbieten, sagen mir, dass man mit zunehmender Therapie, die Substituierten kaum mehr von anderen Patienten unterscheiden kann. Ich glaube, ein Arzt, der feststellt, wie dankbar diese Patienten sind, wenn sich ihr Zustand verbessert, der wird Mittel und Wege finden, die Behandlung in seinen Praxisalltag zu integrieren.
Es bewähren sich Modelle, wo mehrere Ärzte sich ausschließlich um suchtkranke Menschen kümmern, also Schwerpunktpraxen oder auch Modelle mit Schwerpunktsprechstunden. Auf dem flachen Land, wo wir die größten weißen Flecken haben, geht eine Schwerpunktpraxis aufgrund der längeren Wege oft nicht. Da muss man versuchen, über Netzwerkbildung zwischen den Ärzten, die substituieren, sich den Rücken zu stärken und Tipps zu geben.
In welchen Gebieten Deutschlands ist die Versorgung besonders optimierungsbedürftig?
Reinhardt: Probleme haben wir vor allem in verschiedenen ländlichen Gebieten Bayerns und Baden-Württembergs und in den grenznahen Gebieten des Saarlands und Rheinland-Pfalz. Viele weiße Flecken gibt es in den östlichen Bundesländern, aber dort ist das Problem als solches Gott sei Dank noch nicht so ausgeprägt.
Solche Versorgungslücken bewirken zum Teil, dass es einen Sog Opiatabhängiger in die großen Städte gibt. Viele Brandenburger zieht es dann zum Beispiel nach Berlin, wo das Problem zwar durch Großpraxen aufgefangen werden kann – was aber einer guten Reintegration in die Herkunftsregion zugegen läuft und zu einer Verfestigung in der Szene führen kann. Ein Viertel der Substitutionspraxen versorgt über 50 Patienten und 14 Prozent der substituierenden Ärzte versorgen die Hälfte aller Substitutionspatienten.
Obwohl die positiven Auswirkungen der Substitutionsbehandlung auf die Gesundheit und Lebensqualität von Opiatabhängigen erwiesen sind, werden nur rund 50 Prozent (81 300 von 166 000) entsprechend versorgt. Woran liegt das?
Reinhardt: Mit einer Substitutionsquote von 50 Prozent liegt Deutschland im europäischen Vergleich in einem guten Mittelfeld, und während die Zahl Opiatabhängiger seit Jahren relativ stabil ist, konnte der Anteil Substituierter in den letzten zehn Jahren weiter gesteigert werden. Viele derjenigen, die derzeit nicht substituiert werden, haben aber irgendwann einmal in ihrem Leben eine Behandlung erhalten und diese wieder abgebrochen.
Dabei wird klar, dass Opiatabhängigkeit eine sehr komplexe chronische Erkrankung ist, die oftmals von weiteren psychischen und somatischen Erkrankungen begleitet wird. Deshalb ist ein Behandlungsziel der Substitution, Patienten möglichst lange möglichst stabil in der Behandlung zu halten, denn jeder Behandlungsabbruch ist mit einem hohen Mortalitätsrisiko verbunden.
Welche zusätzlichen Versorgungsmöglichkeiten oder auch Kooperationsmodelle sehen Sie, um die substituierenden Ärzte zu entlasten und weiße Flecken in Deutschland aufzulösen?
Reinhardt: Aus unserer Sicht gibt es Kooperationsspielraum mit den Drogenberatungsstellen, die in der Regel auch die psychosoziale Beratung der Substituierten durchführen. Indem andere Räumlichkeiten genutzt werden, könnte die Versorgung Opiatabhängiger vom normalen Praxisbetrieb ein wenig abgetrennt werden. Aber wir sollten darüber hinaus auch versuchen, weitere Versorgungsbereiche zu aktivieren, zum Beispiel durch die Ermächtigung von Krankenhausambulanzen oder auch den Einbezug von Gesundheitsämtern.
Denkbar wäre eine stärkere Einbindung psychiatrischer Versorgungsstrukturen, seien es nun niedergelassene Psychiater oder auch Psychiatrische Institutsambulanzen – denn schließlich erwerben Psychiater mit ihrem Facharzttitel bereits auch die suchtmedizinische Qualifikation.
Sicherlich müsste auch über eine stärkere Einbindung von Apotheken in die Vergabe des Substituts nachgedacht werden, was natürlich eines Netzes behandelnder Ärzte drumherum voraussetzt und entsprechender Regelungen mit den Apotheken bedürfte.
Würde es nutzen, die Suchtmedizin und die Substitutionsbehandlung im Speziellen verstärkt in die medizinische Ausbildung und in die Weiterbildung zu integrieren?
Ludwig: Die Suchtmedizin braucht einen prominenteren Platz in der Ausbildung und Weiterbildung – so früh es geht. Ich weiß aus Gesprächen, dass die Ärzte, die in die Suchtmedizin wechseln, dies eher zufällig oder ungeplant tun. Mein Wunsch wäre, dass Nachwuchsmediziner nicht erst nach dem Studium mit dem Thema Sucht und Drogen in Berührung kommen, sondern bereits verpflichtend während des Studiums. Das würde die Sensibilisierung deutlich erhöhen und in jedem Jahrgang wären sicher Ärzte dabei, die sich dieses Themas annehmen wollen.
Sehen Sie das auch so, Herr Dr. Reinhardt?
Reinhardt: Das Thema Sucht als solches wird in den entsprechenden Fächern während des Studiums behandelt. Ich glaube aber, dass man das noch ausbauen oder differenzierter angehen kann. Die Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen indes ist eine besondere Form der Form, die im Studium durchaus thematisiert, aber im Wesentlichen in der Weiterbildungszeit vermittelt werden sollte, zumindest in den Fächern, in denen das relevant ist: Psychiatrie, Neurologie, Innere und Allgemeinmedizin.
Die Bundesärztekammer hat mit der neuen Substitutionsrichtlinie 2017 nach der geänderten BtMVV deutlich mehr Regelungskonsistenz und Rechtssicherheit für die Ärzte geschaffen. Sehen Sie Erfolge der neuen Regelungen?
Reinhardt: Ganz unbedingt sehe ich Erfolge. Die Änderungen wurden seinerzeit auch durch massive Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden – gerade auch in Bayern – befördert. Substituierenden Ärzten wurde zum Vorwurf gemacht, dass sie Patienten nicht abdosiert und in Abstinenz überführt hätten – oder den Beikonsum weiterer psychoaktiver Substanzen geduldet hätten. Da haben die novellierte BtMVV und die BÄK-Richtlinie endlich Klarheit geschaffen und die Regelungen an den wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst – nämlich dass man durch ein Abdosieren Gefahr läuft, Patienten wieder zu verlieren – viel zu viele auf Dauer, weil sie sich auf der Straße überdosieren und versterben. Wir haben nun klar geregelt, dass die Stabilisierung des Patienten und die Behandlung seiner Begleiterkrankungen und die Verringerung des Infektionsrisikos zunächst im Vordergrund stehen müssen und man mit dem Abstinenzziel sehr behutsam verfahren muss – weniger als zehn Prozent schaffen dieses dauerhaft. Sucht ist eben eine chronische Erkrankung, die leider oftmals auch einer dauerhaften Behandlung bedarf – wie bei einem Diabetiker auch.
Ließe sich die Substitutionsbehandlung noch attraktiver gestalten, etwa mit besserer Vergütung oder weniger Dokumentation, wie es mit der Eilverordnung schon geschehen ist?
Reinhardt: Grundsätzlich ist die Substitutionsbehandlung nicht unterfinanziert. Sie hat sogar den Vorteil, dass sie außerhalb der Gesamtvergütung erfolgt. Eine erst kürzlich durchgeführte Befragung von substituierenden Ärztinnen und Ärzten durch das Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat gezeigt, dass die meisten von ihnen mit der Vergütung zufrieden sind, wenngleich es bei einzelnen Leistungen der Substitutionsbehandlung noch eine Schieflage gibt, zum Beispiel für die Abrechnung der Gesprächsziffern. Hier gibt es noch Diskrepanzen zwischen den Anforderungen der Richtlinie und dem, was dann auch abgerechnet werden kann. Oder es werden falsche Anreize gesetzt, dass etwa die tägliche Vergabe lukrativer ist als eine Take-home-Verordnung, die aber möglicherweise aus therapeutischer Sicht durchaus indiziert sein kann.
Machen wir einen kleinen Schlenker: Um das Überleben von Opiatabhängigen zu sichern, gab es in Bayern ein erfolgreiches Modellprojekt zur Anwendung des Nasensprays Naloxon durch Laien bei Überdosierung. Wie geht es weiter?
Ludwig: Naloxon ist extrem wichtig in Notfällen. Das bayerische Projekt war sehr erfolgreich und hat gezeigt, dass auch Laien Leben retten können, nicht nur Sanitäter. Wenn jemand geschult wurde, kann er durch die Gabe von Naloxon in Notfällen Leben retten. Mein Ziel ist es, dieses Projekt bundesweit anzubieten. Die Ausschreibung ist gerade beendet. Im Sommer wird das Ganze bundesweit ausgerollt.
Frau Ludwig, mit der Eilverordnung hat das BMG von Beginn der Coronapandemie an für Erleichterungen bei der Versorgung mit Substitutionsmitteln für opiatabhängige Menschen gesorgt. Hat das gut funktioniert?
Ludwig: Die Eilverordnung, die ja nach wie vor gilt, hat gezeigt, dass etwas weniger Bürokratie nicht dazu führt, dass Sodom und Gomorrha ausbrechen. Es funktioniert sehr gut, ohne dass der Patient gleich rucksackweise das Substitutionsmittel aus der Praxis trägt. Es gab ja immer die Sorge, dass mit diesen Mitteln gedealt werden könnte. Die Erfahrungen mit der Eilverordnung bestärken uns, dass wir bei der Substitution etwas mutiger sein müssen.
Wie würden Sie bei Ärztinnen und Ärzten für die Substitutionsbehandlung werben?
Ludwig: Man sieht als Arzt sehr schnell, dass es den Patientinnen und Patienten schnell besser geht. Man ebnet ihnen den Weg zurück in so etwas wie Normalität. Das sei das unglaublich Beseelende an dieser Therapie, sagen mir die Ärzte, mit denen ich gesprochen habe.
Reinhardt: Das kann ich nur bestätigen. Sie stehen mit ihrem Patienten im engen Kontakt und begleiten ihn durch schwere Zeiten. Das kann sehr fordernd sein, gar keine Frage. Die Kolleginnen und Kollegen berichten aber auch, wie bereichernd es ist, wenn sich ihr Patient stabilisiert und sein Leben wieder in den Griff bekommt, Familienkontakte sich normalisieren und einer Arbeit nachgegangen wird. In vielen Fällen fällt ihre Behandlung auf fruchtbaren Boden und es entwickeln sich sehr tragende Arzt-Patienten-Beziehungen.
Das Interview führte Petra Bühring.
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