

Rommel et al. (1) suggerieren, dass an COVID-19 Verstorbenen 9,6 Lebensjahre verloren gehen. Da der Altersmedian der COVID-19-Todesfälle bei 84 Jahren liegt, müssten diese bei Verhinderung der Erkrankung 94 Jahre alt werden. Erstaunlich wäre, wenn ausgerechnet an COVID-19 Erkrankte eine solch überdurchschnittliche Lebenserwartung hätten. Wo liegt der Fehler?
Die Autoren verwenden die Methodik der „Global Burden of Disease“(GBD)-Studie (2), jedoch ohne Bezugsgröße. Die GBD-Studie berechnet für 359 Erkrankungen, wie viele Lebensjahre durch Versterben verloren gehen. Hierfür wird das Sterbealter der Erkrankten von der durchschnittlichen Restlebenserwartung Gleichaltriger abgezogen. In Deutschland haben 80-jährige Männer eine Restlebenserwartung von 8,1 Jahren (3). Es ist sinnlos, diese Zahl für eine einzelne Erkrankung ohne Bezug zur Gesamtbevölkerung und zu anderen Todesursachen auszurechnen. Deshalb werden verlorene Lebensjahre in der GBD-Studie pro 100 000 Einwohner/Jahr für viele Erkrankungen vergleichend berichtet.
Untere Atemwegsinfektionen führen global zum Verlust von 1 524 Lebensjahren/100 000 Einwohner/Jahr. Werden die durch COVID-19 verlorenen 305 641 Lebensjahre auf die Bevölkerung umgelegt, so kam es in Deutschland 2020 zu 368 verlorenen Lebensjahren/100 000 Einwohner durch COVID-19. Das entspricht etwa 25 % des Gesamtverlusts durch untere respiratorische Infekte. Für alle Todesursachen ergibt sich aus der GDB-Studie ein Verlust von 32 797 Lebensjahren/100 000 Einwohner/Jahr, also fast das 100-fache des Verlusts durch COVID-19.
Auch die Komorbidität der an COVID-19 Verstorbenen wird nicht berücksichtigt. Die Lebensjahre werden aus der durchschnittlichen Restlebenserwartung ohne Einbeziehung des Gesundheitszustands berechnet. Viele an COVID-19 Verstorbene haben durch Komorbiditäten eine reduzierte Lebenserwartung. Es kann daher nicht vom Durchschnittswert der Altersgruppe ausgegangen werden. Auch der Sozialstatus fehlt: Ein niedriger Sozialstatus ist mit einem erhöhten Risiko, an COVID-19 zu versterben, und mit einer generell niedrigeren Lebenserwartung verbunden.
Die Autoren relativieren zuletzt selbst, dass „die COVID-19-Pandemie [. . .] das Niveau schwerer Influenzawellen erreicht hat.“
DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0243
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen
Allgemeinmedizin, Medizinische Universität Wien
andreas.soennichsen@meduniwien.ac.at
Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser (i. R.)
Gesundheitswissenschaft, Universität Hamburg
Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer
Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
1. | Rommel A, von der Lippe E, Plaß D, et al.: The COVID-19 disease burden in Germany in 2020—years of life lost to death and disease over the course of the pandemic. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 145–51 VOLLTEXT |
2. | Kyu HH, Abate D, Abate KH, et al.: Global, regional, and national disability-adjusted life-years (DALYs) for 359 diseases and injuries and healthy life expectancy (HALE) for 195 countries and territories, 1990–2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet 2018; 392 (10159): 1859–922 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
3. | Statistisches Bundesamt: Durchschnittliche Lebenserwartung (Periodensterbetafel): Deutschland, Jahre, Geschlecht, vollendetes Alter. 2021; www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=previous&levelindex=1&step=1&titel=Ergebnis&levelid=1615720227946&acceptscookies=false#abreadcrumb (last accessed on 22 June 2021). |
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