SUPPLEMENT: Perspektiven der Neurologie
Kopfschmerz: Migräne wird häufig übersehen


Die Ergebnisse einer Umfrage weisen darauf hin, dass in vielen Fällen eine Migräne mit einem zervikogenen Kopfschmerz verwechselt wird.
Die Hausarztpraxen spielen als Erstversorger eine wichtige Rolle bei der Versorgung von Patienten mit Kopfschmerzen. Nach einer Umfrage auf Initiative der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) wird die Diagnose Kopfschmerz wesentlich häufiger gestellt als die der Migräne – obwohl Letztere weiter verbreitet ist. In Deutschland sind ungefähr 20 % der Frauen und 8 % der Männer von Migräne betroffen.
Von November 2020 bis Januar 2021 wurden online Hausärzte (n = 150,65 % Allgemeinmedizin, 35 % Innere Medizin) (1) und Kopfschmerzspezialisten (n = 81) befragt. Unter den Kopfschmerzspezialisten waren knapp die Hälfte Neurologen, die zweite Hälfte setzte sich aus Anästhesiologen, Psychiatern und weiteren Fachgruppen zusammen. Auf Kopfschmerzen spezialisierte Orthopäden nahmen an der Umfrage nicht teil. 41 % der befragten Spezialisten und 14 % der befragten Hausärzte hatten die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“.
Kernbefund der Befragung unter Hausärzten: 69 % diagnostizieren häufig zervikogenen Kopfschmerz und schicken ihre Patienten daher am zweithäufigsten zu Orthopäden. „Dieses Ergebnis passt nicht zur epidemiologischen Datenlage. Migräne tritt deutlich häufiger auf als ein zervikogener Kopfschmerz“, so Privatdozentin Dr. med. Stefanie Förderreuther, Vizepräsidentin der DMKG.
Wurden Hausärzte nach den häufigsten Kopfschmerzarten ihrer Patienten befragt, nimmt im Ranking die Diagnose zervikogener Kopfschmerz nach dem Spannungskopfschmerz den zweiten Platz ein. Danach folgen sekundäre Kopfschmerzen, episodische und chronische Migräne, Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch und Cluster-Kopfschmerz (Grafik). „Dieses Ergebnis ist für uns alarmierend“, so Förderreuther. „Wir wissen, dass die Migräne der häufigste schwere Kopfschmerz ist, der Patienten zum Arzt führt.“
Spannungskopfschmerzen sind zwar der häufigste Kopfschmerz, doch weniger intensiv und meist erst dann ein Grund zum Arzt zu gehen, wenn sie sehr häufig auftreten. Die Prävalenz zervikogener Kopfschmerzen wird auf etwa 0,4‒2,5 % geschätzt und liegt damit deutlich unter der Prävalenz der Migräne, die im Mittel bei ca. 10 % liegt (2). Man müsse davon ausgehen, dass Migränekopfschmerzen noch immer bei vielen Patienten nicht erkannt werden, so Förderreuther.
Das häufige Vorkommen von Nackenschmerzen bei mehr als zwei Drittel der Migränepatienten ist wissenschaftlich belegt. Die Nackenschmerzen sind allerdings die Folge der Migräne, nicht deren Ursache (3). „Möglicherweise nehmen Hausärzte hier zu häufig einen zervikogenen Kopfschmerz an und überweisen an den Orthopäden“, schlussfolgert Förderreuther.
Von der Politik unterschätzt
Migräne ist weltweit bei Berufstätigen unter 50 Jahren (vor allem bei Frauen) die führende Ursache für Arbeitsausfälle/Krankschreibungen und somit von wirtschaftlichen Schäden. Am häufigsten betroffen sind 25- bis 35-Jährige, wobei in den meisten Studien keine Assoziation der Migräneprävalenz und dem sozioökonomischen Status besteht.
Trotz des zunehmenden Wissens über die Krankheit und deren Therapie ist das Bewusstsein dafür beziehungsweise das Management sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Politik unzulänglich, wie eine aktuelle Publikation in „The Lancet“ (4) betont. Nur durch gemeinsame Bemühungen der Gesundheitsdienstleister, das heißt durch integrierte koordinierte Versorgungssysteme, in denen sowohl Hausärzte als auch Spezialisten komplementär zusammenarbeiten, werde sich die Versorgung von Migränepatienten verbessern lassen, betonen die Autoren. Für Patienten mit Therapieresistenz, atypischen Verläufen oder bestimmten Komorbiditäten (wie Depressionen, Angststörungen, zusätzlicher Schmerzproblematik) ist die Zusammenarbeit beziehungsweise Überweisungsmöglichkeit flächendeckend sicherzustellen. Besonders in der Prävention scheine die Zukunft in einer personalisierten, zielgerichteten Therapie anhand individueller Faktoren zu liegen.
DOI: 10.3238/PersNeuro.2021.07.12.05
Dustin Grunert
1. | DMKG/Initiative „Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen“: Kopfschmerzspezialistenumfrage 2021, Online-Befragung November 2020–Februar 2021. |
2. | Straube A, Ruscheweyh R: „Epidemiologie von Kopfschmerzen über die Lebensspanne.“ Nervenheilkunde 2019; 38: 735–9 CrossRef |
3. | Calhoun AH, Ford S, Millen C, Finkel AG, Truong Y, Nie Y: „The prevalence of neck pain in migraine.“ Headache 2010; 50 (8): 1273–7 CrossRef MEDLINE |
4. | Ashina M, Katsarava Z, Do TP et al.: Migraine: epidemiology and systems of care. Lancet 17 April 2021; 397 (10283): 1485–95 CrossRef |