ArchivDeutsches Ärzteblatt29-30/2021Internationaler Runder Tisch: Impfskepsis richtig begegnen

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Internationaler Runder Tisch: Impfskepsis richtig begegnen

Reichardt, Alina

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Misstrauen gegenüber Impfstoffen gilt nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation als eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit. Ärztinnen und Ärzte wollen sich gemeinsam mit der katholischen Kirche für mehr und bessere Aufklärung einsetzen.

Foto: picture alliance/Geisler-Fotopresss – Christoph Hardt
Foto: picture alliance/Geisler-Fotopresss – Christoph Hardt

Die Impfkampagne gerät in vielen wohlhabenden Ländern allmählich ins Stocken. Nahezu alle, die gegen SARS-CoV-2 geimpft werden wollen, haben mittlerweile einen Termin vereinbaren können oder sind bereits geimpft. Übrig bleiben jene, die den im Rekordtempo entwickelten Vakzinen oder auch Impfungen generell skeptisch gegenüberstehen. Wie kann man diese Menschen erreichen und überzeugen und ab wann kann ein Staat es rechtfertigen, einen Impfschutz gesetzlich vorzuschreiben? Über diese Themen diskutierten jetzt Forschende, Ärztinnen und Ärzte bei einem internationalen Runden Tisch, den der Weltärztebund (WMA), die Pontifikale Akademie für das Leben (PAL) und die Bundesärztekammer (BÄK) gemeinsam organisiert hatten.

Medizinerinnen und Medizinern komme als Vertrauenspersonen eine besondere Bedeutung dabei zu, Falschinformation über Impfungen und deren Folgen zu beseitigen, erklärte BÄK-Präsident Dr. med. (I) Klaus Reinhardt. Auch die Kirche genieße in Teilen der Bevölkerung großes Vertrauen. „Die BÄK hat sich daher entschlossen, hier gemeinsam zu arbeiten. Wir hoffen, unsere Nachricht so in eine breitere Öffentlichkeit tragen zu können“, so Reinhardt – und das auch über die Pandemie hinaus.

Denn Impfskepsis, aber auch mangelnde Gerechtigkeit bei der Verteilung von Impfstoffen seien schon vor COVID-19 ein Problem gewesen, erklärte Erzbischof Monsignore Vincenzo Paglia, Präsident der PAL. „Auch der Papst hat sich schon bei vielen Gelegenheiten dazu geäußert. Impfungen sind nicht nur für die eigene Gesundheit wichtig, sondern auch für die Allgemeinheit.“

Bedrohung für die globale Gesundheit

Bereits 2019, als die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Liste der zehn größten Bedrohungen für die Globale Gesundheit erstellt hatte, lag Impfskepsis auf Rang acht, noch vor Dengue Fieber und HIV. Auf Platz drei der damaligen Top Ten lag eine globale Influenzapandemie. „Impfskepsis war schon immer ein großes Problem“, sagte Dr. med. Andrea Ammon, Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) mit Blick auf die WHO-Daten. Die Medizinerin stellte bei der Diskussionsrunde Untersuchungsergebnisse und Konzepte des ECDC zum Thema Impfskepsis vor.

Fünf Prozent sind kategorische Impfverweigerer

Diese Problematik habe schon mit der Pockenimpfung begonnen, der ältesten bekannten Impfung, deren erste Aufzeichnungen bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.

Heute sehen die Experten vor allem drei Probleme, die auf Englisch alle mit dem Buchstaben C beginnen: Confidence, also mangelndes Vertrauen in Impfstoffe; Complacency, grob übersetzt der Glaube, Risiken selbst besser einschätzen zu können als andere, etwa indem Risiken und Folgen von COVID-19 mit denen der Grippe gleichgesetzt werden; und Convenience, die Bequemlichkeit, denn je schwieriger der Zugang zu Impfungen, desto geringer die Impfmotivation in manchen Gruppen.

„Darüber hinaus lehnen etwa fünf Prozent der Menschen Impfungen kategorisch ab, sie anzusprechen ist nicht vielversprechend“, so Ammon. Auf die anderen Punkte ließe sich jedoch reagieren. „Den Menschen ist in dieser Pandemie besonders bewusst, dass es unterschiedliche Impfstoffe gibt, die unterschiedlich funktionieren. Es ist daher besonders wichtig, herauszufinden, woher das Misstrauen kommt und darauf entsprechend zu reagieren“, sagte Ammon.

Hier spielte das Gesundheitspersonal eine zentrale Rolle. „Voraussetzung dafür ist, dass auch das Gesundheitspersonal Zugang zu allen relevanten Informationen hat, denn auch hier sind die Arbeitnehmer nicht immun gegen Impfskepsis“, so die ECDC-Direktorin.

Die wichtigsten Punkte, auf die es aktuell einzugehen gelte, seien Falschinformationen, die sich vor allem über Social Media verbreiten, Sprachbarrieren bei Migranten, mangelnde Aufklärung über die Wichtigkeit einer zweiten Impfdosis sowie produktspezifische Sorgen. „Umfragen zeigen beispielsweise, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung der Europäischen Union Vorbehalte gegen den Impfstoff von AstraZeneca hat“, so Ammon. Bedenken wie diese müssten nachvollzogen und dann gezielt adressiert werden.

PAL-Präsident Paglia warnte zugleich davor, das westliche Gesundheitsverständnis anderen Gesellschaften überzustülpen. Vertrauen basiere auf fairen internationalen Beziehungen. Auch variierten die Prioritäten weltweit. So seien etwa in Afrika die Todeszahlen infolge einer Malaria- oder Tuberkulose-Infektion deutlich höher als die Zahl der COVID-19-Opfer. Und der Mangel an sanitären Anlagen und sauberem Trinkwasser sei für viele Menschen eine größere Bedrohung. Maßnahmen gegen die Pandemie sollten diese strukturellen Probleme berücksichtigen, forderte Paglia.

Zudem müsse den Menschen stärker veranschaulicht werden, dass weder ihre individuelle Impfentscheidung noch die Entscheidungen, die eine Kommune oder ein Land treffe, nur Einfluss auf sie selbst, sondern immer auf die gesamte Gesellschaft habe, erläuterte Stefano Semplici, Professor für Sozialethik an der Tor Vergata Universität von Rom, der ebenfalls an der Runde teilnahm.

Pressekonferenz zum internationalen Runden Tisch – oben rechts: Erzbischof Msgr. Vincenzo Paglia, Präsident der Pontifikalen Akademie für das Leben; unten links: Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes; unten rechts: Ramin Parsa-Parsi, Leiter des Dezernats Internationale Angelegenheiten bei der BÄK.
Pressekonferenz zum internationalen Runden Tisch – oben rechts: Erzbischof Msgr. Vincenzo Paglia, Präsident der Pontifikalen Akademie für das Leben; unten links: Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes; unten rechts: Ramin Parsa-Parsi, Leiter des Dezernats Internationale Angelegenheiten bei der BÄK.

Zwischen persönlicher Freiheit und öffentlichem Wohl

Es gelte immer zwischen der persönlichen Freiheit und dem gesellschaftlichen Wohlergehen abzuwägen und vor diesem Hintergrund zu entscheiden, welche Folgen die Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren, wenn sich ein Teil der Bevölkerung nicht impfen lassen will, und welche nicht. Die Menschen hätten das Recht, sich nicht impfen zu lassen, immer wieder werde aber auch diskutiert, Impfungen beispielsweise für Gesundheitsberufe verpflichtend vorzuschreiben. „Es muss darüber diskutiert werden, wie man entscheidet, wann die Zeit für eine Impfpflicht gekommen ist. Vielleicht nicht in dieser Pandemie, aber grundsätzlich“, so Semplici. Bei einer tödlicheren Krankheit wie beispielsweise Ebola wäre diese Diskussion womöglich bereits geführt worden. „Denn das Minimalkonzept von einem öffentlichen Wohl, auf das sich wohl alle einigen können, ist die Minimierung von Todesfällen“, so der Ethiker.

Um dieses Ziel zu erreichen, gelte es aber nicht nur, die Impfskepsis in reichen Ländern abzubauen, so BÄK-Präsident Reinhardt. In ärmeren Ländern sei bisher kaum Impfstoff angekommen. „Wir müssen die höchstmögliche Impfrate weltweit erreichen, das sollte nicht am ökonomischen Einfluss einzelner Länder scheitern“, erklärte Reinhardt.

Lockerung von Patentrechten darf kein Tabu sein

Die Politik müsse nun die entsprechenden Schritte unternehmen, damit auch wirtschaftlich schlechter gestellte Nationen die Möglichkeit bekommen, ihre Bevölkerung zu impfen. Auf dem 124. Deutschen Ärztetag hatten die Teilnehmenden mehrheitlich für eine Resolution gestimmt, die das zeitlich begrenzte Aussetzen der Rechte am geistigen Eigentum im Hinblick auf Impfstoffpatente befürwortet – bei entsprechender Entlohnung der Entwickler. Südafrika und Indien hatten im Oktober einen entsprechenden Antrag bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht, um die mehrheitlich in westlichen Industrienationen entwickelten Vakzine selbst produzieren zu können, ohne rechtliche Folgen fürchten zu müssen. „Die Europäische Union und Deutschland präferieren derzeit andere Lösungen“, so Reinhardt, „wir hoffen, dass sie mit steigendem Druck doch noch ihrer Verantwortung nachkommen.“

Die Lockerung von Patentrechten dürfe kein Tabu sein, betonte auch Paglia. Impfungen müssten für jeden und überall verfügbar sein, unabhängig von den finanziellen Mitteln. Patente allein freizugeben, sei aber noch nicht ausreichend, es brauche auch einen Wissenstransfer, um Produktionsinfrastruktur dort zu schaffen, wo sie jetzt noch fehle, so Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des WMA, der die anschließende Diskussionsrunde moderierte.

Die WHO, die den Antrag von Indien und Südafrika ebenfalls unterstützt, habe bereits entsprechende Initiativen gestartet, um die Selbstversorgung ärmerer Regionen mit wichtigen Gesundheitsgütern langfristig sicherzustellen, wie die indische Kinderärztin und leitende Wissenschaftlerin bei der WHO, Dr. Soumya Swaminathan, erklärte. Bereits im April habe die WHO einen Aufruf gestartet, um einen freiwilligen Technologieaustausch zwischen reichen und armen Ländern zu initiieren. Dabei soll es speziell um mRNA-Technologien gehen.

Ziel sei der Aufbau von Wissenszentren, sogenannten Technology Transfer Hubs, denen Entwickler, Hersteller und WHO-Mitglieder Wissen, finanzielle Mittel und auch Rechte zur Verfügung stellen können. Dort sollen etwa Mitarbeitende für die Herstellung und Qualitätskontrolle geschult werden.

Die Zentren sollen nach Plänen der WHO vor allem in Ländern im mittlerem bis niedrigen Einkommensbereich entstehen, die bereits über eine Basisinfrastruktur verfügen. Diese werde perspektivisch mithilfe der Hubs ausgebaut. Das in den Zentren gesammelte Wissen könne im Anschluss an benachbarte Länder weitergegeben werden, erklärte Swaminathan. So könne sich ein Netzwerk zur Schaffung lokaler Infrastruktur für die Impfstoff- und Therapeutikaproduktion entwickeln. Gehe die Strategie auf, könnten die neu geschaffenen Produktionsstätten auch in Nichtpandemiezeiten rentabel arbeiten und die Versorgung in strukturschwachen Regionen dauerhaft sichern.

Keine Technologiespenden aus der EU

Bis Ende Mai hätten sich China, die USA und Großbritannien als potenzielle Technologiespender bei der WHO gemeldet, so Swaminathan. Als Standort für ein Zentrum, von dem aus Wissen weitergegeben werden könnte, meldete sich den Angaben zufolge als einziges EU-Mitglied Belgien sowie Südafrika und Indien.

Als Standorte für Zentren, die mit dem eingespeisten Wissen eine eigene Infrastruktur aufbauen wollen, meldeten sich besonders viele südamerikanische Mitglieder, darunter Argentinien, Chile, Paraguay, Venezuela und Peru sowie Singapur, Bangladesh, Südkorea, Nigeria und der Senegal. Mehr als 25 Länder und Hersteller hätten bereits Interesse angemeldet, auf die Hilfe der Zentren zugreifen zu wollen, um eine lokale Produktion aufbauen zu können. Alina Reichardt

Stand der globalen Impfkampagne

Nach Angaben der WHO liegt die Impfrate in Ländern mit hohem Einkommen mittlerweile um 62 Mal höher als in Niedriglohnländern – obwohl dort teils nur einen Monat später mit den Impfkampagnen begonnen wurde. In reichen Ländern sind demnach aktuell im Schnitt 74 von 100 Menschen geimpft, in Niedriglohnländern 1,2 von 100. Fünf Länder haben als einzige der 194 WHO-Mitglieder aufgrund von Impfstoffknappheit noch gar nicht mit dem Impfen begonnen: Nordkorea, Burundi, Eritrea, Haiti und Tansania.

Von den sechs WHO-Weltregionen hat die afrikanische bisher am wenigsten Menschen geimpft. Nur zwei der 47 Länder (4,3 Prozent) haben bisher 20 Prozent oder mehr der eigenen Bevölkerung eine Impfung anbieten können. Die europäische WHO-Region, zu der neben allen europäischen Ländern etwa auch Russland, die Türkei und Israel zählen, hat weltweit die meisten Menschen geimpft. In 36 von 53 der Länder (86 Prozent) sind laut WHO 20 Prozent oder mehr der eigenen Bevölkerung geimpft.

Der derzeit in den meisten Ländern genutzte Impfstoff stammt von AstraZeneca. 178 Länder setzen ihn ein, etwa die Hälfte davon den mit Lizenz in Indien hergestellten Ableger Covishield. Auf Platz zwei folgt das Herstellerteam BioNTech/Pfizer deren Impfstoff derzeit in 119 Ländern zum Einsatz kommt.

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