ArchivDeutsches Ärzteblatt33-34/2021Coronalagebewertung: Komplexere Kriterien gefordert

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Coronalagebewertung: Komplexere Kriterien gefordert

Haserück, André

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Foto: Victor/stock.adobe.com
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Bund und Länder beschlossen jüngst Anpassungen bei Coronatests und die Verlängerung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Die vielfach eingeforderte Neuregelung bei den Coronaindikatoren erfolgte aber nicht.

Nachdem in Deutschland die SARS-CoV-2-Infektionszahlen im Frühjahr gesunken waren und sich im Sommer auf einem niedrigem Niveau befunden haben, stiegen sie in den letzten Wochen wieder an. In der Bund-Länder-Runde am 10. August reagierten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder: Um auch weiterhin die entsprechenden Rechtsgrundlagen für bestimmte Eindämmungsmaßnahmen zu gewährleisten, wurde der Deutsche Bundestag gebeten, die andernfalls Ende September auslaufende epidemische Notlage nochmals zu verlängern.

Für den 7. September ist eine Sondersitzung geplant, da reguläre Bundestagssitzungswochen erst wieder im November stattfinden. Von einem Auslaufen der Notlage wären unter anderem die Coronavirus-Testverordnung, die Impfverordnung und die Einreiseverordnung betroffen. Nach dem Spitzengespräch von Bund und Ländern mehren sich allerdings jene Stimmen, welche zeitnahe Anpassungen bei den Coronaindikatoren einfordern. Im Beschluss heißt es dazu, man werde alle Indikatoren, insbesondere die Inzidenz, die Impfquote und die Zahl der schweren Krankheitsverläufe sowie die resultierende Belastung des Gesundheitswesens berücksichtigen, um das weitere Infektionsgeschehen zu kontrollieren – eine konkrete Einigung in diesem Punkt gab es jedoch nicht.

Bereits Vorschläge vorhanden

Dabei gäbe es durchaus Vorarbeiten, auf welche man zurückgreifen könnte. So legte beispielsweise das Robert Koch-Institut (RKI) bereits im Februar ein Papier vor, in welchem für die Einbeziehung drei weiterer Indikatoren neben der Inzidenz plädiert wird: Der Anteil intensivmedizinisch behandelter Coronafälle an der Gesamtzahl der betreibbaren Intensivbetten, die wöchentliche Inzidenz hospitalisierter Fälle unter den über 60-Jährigen sowie der Anteil der Kontaktpersonen, die nachverfolgt werden können. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sprach sich bereits für einen Indikatorenmix aus Hospitalisierungsrate, altersstratifizierter Impfquote, Belegung von Intensivkapazitäten, Positivrate an Tests sowie Steigerungsquoten, sowohl der Inzidenz als auch der Hospitalisierungsraten, aus.

Der ärztliche Pandemierat der Bundesärztekammer legte im März ebenfalls Vorschläge für belastbarere Kennzahlen vor. Die Fokussierung der Politik auf den Inzidenzwert stelle ein sehr grobes Maß dar, um als Basis für politische Entscheidungen mit erheblichen Konsequenzen für alle Bürgerinnen und Bürger herangezogen zu werden. Das Modell des Pandemierates sieht eine Prognose bezüglich der täglich neu zugehenden COVID-19-Intensivpatienten, die beatmungspflichtig sein werden, für zwei bis drei Wochen im Voraus vor.

Im Vorfeld des Bund-Länder-Treffens bekräftigte Bundesärztekammer-Präsident Dr. med. (I) Klaus Reinhardt die Forderung, die Infektionszahlen nicht mehr als alleinigen Indikator zur Einschätzung der Pandemielage zugrunde zu legen. Erfahrungen aus anderen Ländern mit hoher Impfquote hätten gezeigt, dass zunehmende Infektionszahlen nicht zwangsläufig zu einem Anstieg von schweren Verläufen führen. „Notwendig ist ein deutlich komplexerer Bewertungs- und Prognoseindex, in dem neben der Zahl der Neuinfektionen vor allem die Hospitalisierungsrate, die Impfquote und die Altersstruktur der Infizierten einfließen müssen“, mahnte Reinhardt. Der Pandemierat der Bundesärztekammer habe der Politik hierzu bereits Vorschläge unterbreitet, man müsse sie nur aufgreifen.

Der Bund sei gefordert, eigene Pläne vorzulegen – diesen Anspruch formulierte der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU), im Nachgang des Spitzentreffens. Er forderte beim Thema Inzidenz und weitere Faktoren „klarere Parameter“. Dafür sprach sich auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund aus. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg bedauerte, dass es vorerst noch immer keine einheitlichen Regelungen zur Umsetzung unterschiedlicher Parameter wie Inzidenz, Impfquote oder Krankenhausbelastung gibt. Dies könnten nun die Länder und Kommunen zwar in eigener Verantwortung regeln, die Überschaubarkeit für die Menschen, was wann wie wo gilt, werde damit aber noch schwieriger. Niedersachsens CDU-Chef und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann erklärte, er halte es „absolut für notwendig, dass man sich mit einer Weiterentwicklung der Inzidenzwerte“ befasse. Niedersachsen hatte in einer gesonderten Protokollnotiz zum Bund-Länder-Beschluss darauf hingewiesen, dass man „einen neuen Maßstab zur Einschätzung des Pandemiegeschehens anstelle der alleinigen Inzidenzbetrachtung“ für geboten halte.

Erstes Abrücken von Inzidenz

Baden-Württemberg preschte diesbezüglich kurz nach dem Bund-Länder-Treffen vor: Die Coronaverordnung des Landes verabschiedet sich von der bisher zum alleinigen Maßstab für Eindämmungsmaßnahmen erklärten Inzidenz. In der neuen Verordnung des Landes spielt die 3G-Regel eine zentrale Rolle: Für Geimpfte, Genesene oder Getestete gibt es keine Einschränkungen mehr – unabhängig von der Coronainzidenz im jeweiligen Landkreis. Das bisherige Stufenkonzept des Landes mit bestimmten Einschränkungen ab einer Inzidenz von 10, 35 oder 50 gilt nicht mehr – allerdings sollen neue Kriterien zur Beurteilung der Coronalage greifen. Die Landesregierung kündigte an, die Auslastung der Intensivbetten, die Sieben-Tage-Inzidenz, die Impfquote und die Anzahl schwerer Krankheitsverläufe fortlaufend zu beobachten.

Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Hausärzteverbands, plädierte im Nachgang des Spitzentreffens von Bund und Ländern nachdrücklich für ein bundeseinheitliches, umfassendes Bewertungssystem des Pandemiegeschehens auf Basis unterschiedlicher Faktoren. Für die Erarbeitung solcher neuen Maßstäbe sei in den letzten Monaten genug Zeit vorhanden gewesen.

Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Prof. Dr. med. Gernot Marx, äußerte Zustimmung zur Verabredung von Bund und Ländern, neben der Zahl der Neuinfektionen künftig auch weitere Faktoren in die Lagebeurteilung einzubeziehen. Zugleich begrüßte er, dass mögliche neue Indikatoren nicht per „Schnellschussverfahren“ festgelegt wurden, da die Thematik relativ komplex sei. Sicher würden dann die Neuaufnahmen von Coronapatienten in die Krankenhäuser und die Belegungsquote der Intensivbetten durch COVID-19-Fälle einbezogen. Gemeinsam mit Experten des RKI arbeite die DIVI bereits an entsprechenden Modellen.

Eine Einigung von Bundesregierung und den Ländern gab es bezüglich der kostenfreien „Bürgertests“ für alle – diese sollen am 10. Oktober enden. Zwar hätten die kostenlosen Coronatests einen wichtigen Beitrag in der Pandemiebekämpfung geleistet und den Bürgerinnen und Bürgern zusätzliche Sicherheit im Alltag gegeben, allerdings sei eine dauerhafte Kostenübernahme durch den Bund und damit den Steuerzahler nicht angezeigt. Kanzlerin Merkel verwies hierzu darauf, dass mittlerweile allen ein umfassendes Impfangebot gemacht werden könne. Gratis sollen Schnelltests nur noch für jene sein, die sich nicht impfen lassen können oder für die es keine allgemeine Impfempfehlung gibt.

Neuregelungen bei Coronatests

Um dem Infektionsgeschehen nachhaltig zu begegnen, sollen für Nichtgeimpfte und Nichtgenesene negative Coronatests noch im August zur Voraussetzung für viele Aktivitäten in Innenräumen werden. Ab dem 23. August muss, wer nicht vollständig geimpft ist oder nicht als genesen gilt, für Veranstaltungen in Innenräumen entweder einen höchstens 24 Stunden alten Antigen-Schnelltest oder einen höchstens 48 Stunden alten PCR-Test vorlegen. Ausnahmen sind für regelmäßig getestete Schüler und Regionen mit niedrigen Inzidenzen unter 35 vorgesehen.

Die Kopplung einer umfassenden Testpflicht für Nichtgeimpfte mit dem folgenden Ende der Gratis-„Bürgertests“ verknüpft der Beschluss mit dem Appell an die Bevölkerung, soweit noch nicht geschehen, schnellstmöglich die bestehenden Impfangebote gegen SARS-CoV-2 wahrzunehmen. Merkel betonte, die Impfungen böten Schutz für den Einzelnen, aber würden zugleich auch einen „Beitrag für die Gemeinschaft“ darstellen. Sie verwies auf die vergleichsweise hohen Impfquoten in den höheren Altersgruppen – zugleich habe das generelle Impftempo trotz ausreichender Impfstoffkapazitäten aber nachgelassen. Es liege nun in der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern, für das Impfen zu werben.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), verteidigte in diesem Zusammenhang den Beschluss, Coronaschnelltests ab Oktober kostenpflichtig zu machen. „Es ist richtig, diesen Schritt zu gehen“, sagte er. Die Tests ließen sich leicht durch Impfen umgehen. Wer das Angebot nicht annehme, könne nicht erwarten, dass die Solidargemeinschaft die Kosten trage. André Haserück

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