ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2021Analyse der Versorgungsstruktur angeborener Fehlbildungen in Deutschland
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Die Säuglingssterblichkeit aufgrund von angeborenen Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien beträgt etwa 700/100 000 Lebendgeborene in Deutschland. Daneben gehen angeborene Fehlbildungen oft mit einer hohen Morbidität oder sogar lebenslangen Behinderung einher. Sie führen häufig zu einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität und haben große Auswirkungen auf die betroffenen Familien und das Gesundheitssystem. Wenige angeborene Fehlbildungen können durch Präventionsmaßnahmen, so zum Beispiel die ausreichende Aufnahme von Folsäure zur Vermeidung von Neuralrohrdefekten, oder durch Schwangerschaftsvorsorge verhindert werden. Treten Fehlbildungen jedoch auf, ist eine bestmögliche Therapie notwendig, um den Schaden zu begrenzen. Mit dem Ziel, die Versorgungsqualität seltener angeborener Fehlbildungen zu erhöhen, wird oftmals eine Zentralisierung der Versorgung gefordert. Ziel dieser Arbeit war, die Struktur der Versorgung von kinderchirurgischen, urologischen, neurochirurgischen und kardiochirurgischen kongenitalen Anomalien in Deutschland zu analysieren und darzustellen.

Methode

Die Fallzahlermittlung erfolgte mittels einer Abfrage der bundesweiten DRG-Datenbank beim Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamtes. Anhand der entsprechenden ICD-10- und OPS-Codes (OPS, Operationen- und Prozedurenschlüssel) konnten die stationären Fälle von operativ korrigierten angeborenen Fehlbildungen der Jahre 2015–2018 identifiziert werden und die Fallzahlen der jeweiligen behandelnden Zentren ermittelt werden. Aus Datenschutzgründen konnte die Datenabfrage nicht jahrgangsweise, sondern nur für den gesamten Zeitraum der Jahre 2015–2018 durchgeführt werden. Die exemplarisch ausgewählten Erkrankungen lassen sich den vier Fachdisziplinen Kinderchirurgie, Kinderurologie, Kinderneurochirurgie und Kinderherzchirurgie zuordnen, die Blasenekstrophie wurde aufgrund ihres interdisziplinären Managements separat abgebildet. Es erfolgte eine Aufteilung der behandelnden Zentren nach Fallzahlen in drei Kategorien: kleine Zentren (< 4 Fälle/Jahr), mittlere Zentren: (4–9 Fälle/Jahr) und große Zentren (≥ 10 Fälle/Jahr). Die deskriptive statistische Auswertung erfolgte mit SPSS 26 (IBM, USA).

Ergebnisse

Insgesamt wurden die Fallzahlen zu 16 verschiedenen angeborenen Fehlbildungen analysiert. Die Zentralisierung scheint in den behandelnden Fachdisziplinen unterschiedlich weit vorangeschritten zu sein. In der Kinderchirurgie werden bei den analysierten Fehlbildungen 49,87 % der Kinder in einem kleinen Zentrum mit < 4 Fällen pro Jahr versorgt. In der Kinderurologie liegt der Wert mit 10,65 % und in der Kinderherzchirurgie mit 2,49 % deutlich niedriger. Von allen abgefragten Erkrankungen erfolgte eine Behandlung in kleinen Zentren anteilsmäßig am häufigsten bei Morbus Hirschsprung (68,86 %) und Spina bifida (66,15 %), wohingegen kardiologische Fehlbildungen wie zum Beispiel der Ventrikelseptumdefekt zu 91,31 % oder der Vorhofseptumdefekt zu 85,48 % in großen Zentren versorgt werden (Tabelle).

Durchschnittliche Fallzahl angeborener Fehlbildungen pro Jahr (2015–2018) und die Zuordnung zu Zentren mit kleiner, mittlerer oder großer Fallzahl
Tabelle
Durchschnittliche Fallzahl angeborener Fehlbildungen pro Jahr (2015–2018) und die Zuordnung zu Zentren mit kleiner, mittlerer oder großer Fallzahl

Diskussion

Die Zentralisierung wird seit einigen Jahren zur Verbesserung der Patientenversorgung insbesondere bei komplexen angeborenen Erkrankungen gefordert. In einigen europäischen Ländern wie den Niederlanden (1) oder den skandinavischen Ländern (2) ist der Prozess der Zentralisierung bereits initiiert. Um den Erfolg dieser Prozesse zu messen, hat sich die Evaluation des Outcomes im Bezug zur Fallzahl eines Zentrums bewährt. Als Indikator dient meist die Mortalität, alternativ auch die Inzidenz von Komplikationen, die Länge des stationären Aufenthalts oder das Risiko einer erneuten Einweisung. Für einige angeborene Fehlbildungen konnte in europäischen Studien wiederholt eine Korrelation zwischen Fallzahl und Outcome gezeigt werden, beispielsweise mit Blick auf die zentralisierte Behandlung der Gallengangsatresie in Finnland (3) oder die Kinderherzchirurgie in Schweden (4). Ähnliche positive Korrelationen konnten in wesentlich größeren Kohorten bei einigen Krankheitsbildern in der Chirurgie gezeigt werden (5). Weil groß angelegte randomisierte Outcome-Studien zur chirurgischen Behandlung angeborener Fehlbildungen fehlen, kann dieser Zusammenhang dort nur postuliert, jedoch nicht belegt werden.

In Deutschland ist bisher eine Zentralisierung bei der Behandlung angeborener Fehlbildungen nicht in allen Bereichen erfolgt. Die aktuelle Untersuchung zeigt, dass die Zentralisierung in der Kinderherzchirurgie bereits sehr weit fortgeschritten ist. Dahingegen werden in der Urologie, der Neurochirurgie und insbesondere in der Kinderchirurgie nach wie vor komplexe Operationen angeborener Fehlbildungen auch in sehr kleinen Kliniken durchgeführt. Dabei haben die Behandlungsergebnisse bei teils komplexen Erkrankungen, wie etwa Blasenekstrophie, Spina bifida oder Ösophagusatresie, erhebliche Konsequenzen für die Lebensqualität der Kinder und deren Familien. Überwiegend werden diese Erkrankungen in Zentren mit weniger als zehn Fällen pro Jahr operiert. Häufig angeführte Gründe gegen eine Zentralisierung sind der Anspruch auf eine heimatnahe Versorgung oder der akute Handlungsbedarf bei einigen angeborenen Fehlbildungen. Es ist jedoch naheliegend, dass gerade sehr seltene, aber hochkomplexe Krankheitsbilder, wie zum Beispiel die Blasenekstrophie (2,1/100 000) oder kloakale Fehlbildungen (2,8/100 000), von einer Behandlung in einem Zentrum mit höherer Fallzahl profitieren würden. Eine niedrige Inzidenz allein sollte kein Argument für das Ausbleiben einer Zentralisierung sein.

Die Datenanalyse lässt aufgrund der anonymisierten Datenstruktur eine klare Prüfung der postulierten Korrelation von Fallzahl und Morbidität/Mortalität nicht zu. Erschwerend für die Analyse ist, dass Mortalität, Morbidität und Langzeitlebensqualität der Patienten aufgrund der Komplexität der Fehlbildungen häufig nicht auf eine einzelne Intervention zurückgeführt werden können. Komplementär zu den hier vorgestellten Daten wäre eine systematische Erfassung von Langzeitdaten zum Outcome innerhalb der Fachgesellschaften hilfreich, auch wenn diese eine randomisierte Studie nicht ersetzen kann. Eine weitere Schwäche der Datenanalyse besteht darin, dass behandelte Fälle, nicht Patienten erfasst werden. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass möglicherweise aufgrund von Revisionseingriffen noch weniger Patienten pro Behandlungszentren versorgt werden als in der Tabelle dargestellt. Eine differenzierte Analyse, getrennt nach Ausprägung der einzelnen Fälle und entsprechender Komplexität des Korrektureingriffs, war auf Grundlage der OPS- und ICD-10-Codes nicht möglich. Nicht zuletzt erfolgte lediglich eine exemplarische Abfrage der wichtigsten, jedoch nicht aller angeborenen Fehlbildungen. Dadurch ist ein Selektionsbias nicht auszuschließen. Für eine generelle Trendanalyse zur Zentralisierung war der beim Statistischen Bundesamt abgefragte Zeitraum 2015–2018 zu kurz. Dazu müsste eine gesonderte Abfrage durchgeführt werden, um verschiedene Dekaden miteinander vergleichen zu können.

Zusammenfassend zeigt die Versorgungsstruktur in der Kinderherzchirurgie, dass eine Zentralisierung der Behandlung von komplexen angeborenen Fehlbildungen auf hochspezialisierte Kliniken in Deutschland möglich ist.

Julia Elrod, Michael Boettcher, Christoph Mohr, Konrad Reinshagen
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, k.reinshagen@uke.de

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 27. 1. 2021, revidierte Fassung angenommen: 14. 4. 2021

Zitierweise
Elrod J, Boettcher M, Mohr C, Reinshagen K: An analysis of the care structure for congenital malformations in Germany. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 601–2. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0213

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
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Durchschnittliche Fallzahl angeborener Fehlbildungen pro Jahr (2015–2018) und die Zuordnung zu Zentren mit kleiner, mittlerer oder großer Fallzahl
Tabelle
Durchschnittliche Fallzahl angeborener Fehlbildungen pro Jahr (2015–2018) und die Zuordnung zu Zentren mit kleiner, mittlerer oder großer Fallzahl
1.Wijnen MH: Centralization of pediatric surgery in the Netherlands. Eur J Pediatr Surg 2017; 27: 407–9 CrossRef
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