MEDIZINREPORT
RSV und respiratorische Infekte: Der Virenwinter beginnt schon im Sommer


Atemwegsinfekte durch andere als SARS-CoV-2-Viren sind infolge des Lockdowns im letzten Winter fast vollständig ausgeblieben. Da nun bei Kindern gehäuft die im Sommer gänzlich untypischen RSV-Infektionen beobachtet werden, könnte dies ein Omen für einen Rebound zur Unzeit sein.
Das humane Respiratory-Syncytial-Virus (RSV) verursacht weltweit jährlich mehr als 30 Millionen Atemwegsinfekte, ist für 3 Millionen stationäre Einweisungen und mehr als 50 000 Todesfälle bei Kindern im Alter unter 5 Jahren verantwortlich (1). Pädiater auf der Nordhalbkugel sehen diese Patienten üblicherweise nur von November bis April in ihren Praxen und Kliniken.
Zahlreiche Länder haben inzwischen dokumentiert, dass die RSV-Saison des Winters 2020/2021 nahezu komplett ausgefallen ist. Dies wird auf das Paket der Lockdownmaßnahmen zurückgeführt, darunter unter anderem die Kita- und Schulschließungen; Letztere könnten zu einer geringeren Übertragung von Viren durch Geschwister auf Kleinkinder beigetragen haben. Hinzu kommen das konsequentere Einhalten der Hygieneregeln wie Händewaschen und die in vielen Ländern fast dauerhaft während der Pandemie geltenden Maskenpflichten, was insgesamt die Übertragung von respiratorischen Viren reduziert haben soll.
Eines der ersten Signale für präventive Effekte in puncto Atemwegsinfekte gab es in Finnland, wo bereits im Frühjahr 2020 die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung ein abruptes Ende der Influenzasaison herbeiführten und schon damals weniger respiratorische Infekte bei Kindern registriert worden sind (2). Weltweit sei die RSV-Inzidenz während der COVID-Pandemie um 98 % zurückgegangen, rechnen Experten vor (3, 4). Das wurde – zumindest punktuell – auch für hiesige Verhältnisse an ausgewählten Kliniken gut dokumentiert (5).
Völlig untypische Infektionslage
Dafür zeigen sich nun RSV-Infekte zur Unzeit. „Normalerweise sehen wir praktisch keine RSV-Infektionen im Sommer, das ist völlig untypisch“, erläutert Prof. Dr. med. Johannes Liese, der an der Universitätsklinik Würzburg den Bereich pädiatrische Infektiologie und Immunologie leitet und bei der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) für Aus- und Fortbildung zuständig ist. „Ich habe in den vergangenen Wochen bei rund einem Dutzend Kollegen in Kliniken nachgefragt“, erläutert der Pädiater. „Dies geschah zwar unsystematisch, aber es zeichnet sich ab, dass zunehmend RSV-Infektionen bei Kindern beobachtet werden.“
Prof. Dr. med. Ortwin Adams, Leiter der virologischen Diagnostik an der Universität Düsseldorf, kann dies anhand der Rückmeldungen von gut 30 Universitätslaboren bestätigen. Etliche Labore haben mehrere, eines sogar über 10 RSV-Verdachtsfälle diagnostisch bestätigen können.
Als erste haben diesen Reboundeffekt die Kinderärzte in Israel gemeldet. Dort begannen die Impfkampagnien bereits im Dezember 2020. Entsprechend wurde auch früher gelockert. Israel hat zum Beispiel im Februar 2021 die Schulen wieder geöffnet. In der Universitätsklinik in Ashdod, einem Krankenhaus der Maximalversorgung mit Kinderintensivbetten, ließ sich prompt im Mai/Juni 2021 ein Anstieg der stationären und bedrohlichen RSV-Fälle nachweisen (6).
Die israelischen Forscher beobachteten nicht allein ein Aufflammen der RSV-Fälle zu einem unerwarteten Zeitpunkt. Sie zählten auch quantitativ mehr Fälle, als üblicherweise in einer RSV-Wintersaison auftreten. Qualitativ waren die Verläufe zudem schwerwiegender. Das führen die Autoren auf eine geringere Immunität der Kinder zurück, denen sozusagen der natürliche Boostereffekt mit RSV-Viruskontakten fehlten. Zudem seien die meisten der im Studienzeitraum mit RSV hospitalisierten Kinder (75 %) im März 2021 geboren worden. Daher hätten deren Mütter in der Schwangerschaft keinen RSV-Kontakt gehabt, folglich keine schützenden Antikörper entwickeln und an ihre Kinder weitergeben können.
Rebound von vielen Infekten
Offenbar betreffen diese „Rebound“-Effekte nicht nur das RSV-Virus. „Die niedergelassenen Kinderärzte beobachten in ihren Praxen eine für die Jahreszeit ungewöhnlich hohe Zahl an Erkältungserkrankungen“, bestätigt Dr. med. Stefan Trapp, niedergelassener Pädiater in Bremen und als Vertreter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) kooptiertes Mitglied im Vorstand der DGPI.
Da in den Praxen in aller Regel keine spezifischen Virustestungen zur Verfügung stehen, lässt sich das Erregerspektrum nur in den Kliniken ermitteln. „Bei den Kindern, die stationär aufgenommen werden, sehen wir vor allem Parainfluenzaviren, aber auch andere Atemwegserreger, die ebenfalls alle untypisch sind für diese Monate“, erklärt Liese.
Aus China ist ebenfalls ein hoher Anstieg der Parainfluenzainfektionen bei hospitalisierten Kindern beobachtet worden, nach dem Maßnahmen zum social distancing zurückgenommen und die Schulen wieder geöffnet worden waren (7). Diese Arbeit legt die Daten von 7 107 Kindern der Fudan-Universitätsklinik im Minhang-Distrikt in Shanghai zugrunde und belegt außerdem den Rückgang der Infektionen durch RSV, Influenza-A- und B-Viren, Adenoviren und durch das Metapneumonie-Virus. Interessant war, dass die Rhinoviren (RV) als typische Schnupfenviren nicht zurückgegangen waren und sogar zum häufigsten Auslöser von Erkrankungen der oberen Atemwege avancierten.
Es könnte, so vermuten die Autoren, daran gelegen haben, dass diesen Viren mit üblichen Desinfektionsmaßnahmen nicht so gut beizukommen ist und Masken nicht so verlässlich vor deren Übertragung schützen. Aber – und dies verweist auf das komplexe Zusammenspiel der Viruslandschaft – offenbar profitierten die Rhinoviren zudem vom Rückgang anderer Erreger im Atemtrakt, speziell von dem der Influenza-A-Viren. Gehen diese zurück, füllen die RV die Lücke.
Eine Publikation aus dem Hospital for Sick Children in Toronto bestätigt dies indirekt (8). Die kanadischen Forscher weisen auf jüngste Erkenntnisse aus Genexpressionsanalysen hin, wonach auch umgekehrt eine Infektion mit Rhinoviren nachfolgende Erkrankungen durch Influenza-A-Viren hemmt. Vereinfacht spekuliert hieße dies, dass die eine virale Atemwegserkrankung – RV – Abwehrmechanismen in Gang setzt, die verhindern, dass sich die nächste – Influenza A – entwickelt.
Auf alles gefasst sein
Wichtig sei dies auch deshalb, betonen die kanadischen Autoren, weil sich RV- und COVID-19-Symptomatik überschneiden, mithin aufgrund des ersten Anscheins keine eindeutige Verdachtsdiagnose gestellt werden könnte.
Für die deutschen Experten gilt es vor allem, das Geschehen aufmerksam zu beobachten. „Womöglich kann es notwendig werden, früher als sonst mit der RSV-Prophylaxe zu beginnen“, mahnt Liese. Die DGPI hat über die Situation bereits in einer Stellungnahme informiert (9). Auf den Seiten des Robert Koch-Institutes finden sich dazu derzeit noch keine Informationen, der RSV-Eintrag stammt noch aus dem Jahr 2011 (10).
Jene Kinder, denen schwere Verläufe einer RSV-Infektion drohen, erhalten normalerweise ab November eine passive Immunisierung mit dem Antikörper Palivizumab (5 Gaben über 5 Monate). Gefährdet sind insbesondere Frühgeborene, die ein 2-fach höheres Risiko für eine RSV-Hospitalisierung aufweisen als am Termin geborene Kinder. Dazu zählen aber beispielsweise auch Kleinkinder unter zwei Jahren mit angeborenen Herzfehlern, chronischen Lungenerkrankungen oder Immunschwächen.
Des Weiteren gilt es, gewappnet zu sein, falls deutlich mehr Kinder als bisher erkranken – und diese dann schwerer. Denn die Pneumonien, die sich aufgrund einer SARS-CoV-2-Infektion bei pädiatrischen Patienten entwickeln, verlaufen erkennbar milder als jene, die aufgrund vieler anderer respiratorischer Viren entstehen (11).
Für Länder, in denen ein ganzes Jahr die herkömmlichen Infekte durch Viren wie RSV und Influenzaviren ausgeblieben sind, prognostizieren manche wissenschaftlichen Hochrechnungen einen „harten Rebound“ (12). Das ist nicht zuletzt aufgrund der chronisch schlechten Versorgungssituation in deutschen Kinderkliniken zu bedenken.
Und schließlich: Zwar gelten gemeinhin Säuglinge und Kinder mit den genannten Erkrankungen als RSV-Risikokollektiv. Allerdings sind auch ältere Menschen über 65 Jahre und Erwachsene mit kardio-respiratorischer Vorbelastung gefährdet (13). Ob sich diese Beobachtungen ausgewirkt haben, als der Hersteller Moderna seine RSV-Vakzine (mRNA-1345) bei der US-amerikanischen Behörde FDA zur Zulassung für über 60-jährige eingereicht hat, ist schwer zu beurteilen. Allerdings hat die FDA entschieden, in einem beschleunigten, sogenannten Fast-Track-Verfahren, darüber zu entscheiden (14).
Dr. med. Martina Lenzen-Schulte
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3521
oder über QR-Code.
1. | REspiratory Syncytial virus Consortium in EUrope – Sofia ref.: 116019 THE UNIVERSITY OF EDINBURGH letzte Aktualisierung 31 Januar 2021: https://cordis.europa.eu/article/id/413356-pan-european-study-on-rsv-infection-fuels-future-research-and-surveillance/de (last accessed on 19 Aug 2021). |
2. | Van Brusselen D, De Troeyer K, Ter Haar E,et al.: Bronchiolitis in COVID-19 times: a nearly absent disease? Eur J Pediatr 2021;180(6):1969–1973 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
3. | Yeoh DK, Foley DA, Minney-Smith CA, et al.: Impact of Coronavirus Disease 2019 Public Health Measures on Detections of Influenza and Respiratory Syncytial Virus in Children During the 2020 Australian Winter. Clin Infect Dis 2021;72(12):2199–2202 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
4. | Kelloniemi S, Heikkilä P, Palmu S. COVID-19 restrictions probably brought the 2019–2020 Finnish influenza season to an early end and led to fewer respiratory viruses among infants. Acta Paediatr. 2021 Aug 7. doi: 10.1111/apa.16061. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef MEDLINE |
5. | Lange M, Happle C, Hamel J, et al.: Non-appearance of the RSV season 2020/21 during the COVID-19 pandemic—prospective, multicenter data on the incidence of respiratory syncytial virus (RSV) infection. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 561–2 VOLLTEXT |
6. | Weinberger Opek M, Yeshayahu Y, Glatman-Freedman A, et al.: Delayed respiratory syncytial virus epidemic in children after relaxation of COVID-19 physical distancing measures, Ashdod, Israel, 2021. Euro Surveill. 2021 Jul;26(29):2100706. doi: 10.2807/1560–7917.ES.2021.26.29.2100706. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef MEDLINE PubMed Central |
7. | Liu P, Xu M, Cao L, et al.: Impact of COVID-19 pandemic on the prevalence of respiratory viruses in children with lower respiratory tract infections in China. Virol J. 2021 Aug 3;18(1):159. doi: 10.1186/s12985–021–01627–8. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Groves HE, Piché-Renaud PP, Peci A, et al.: The impact of the COVID-19 pandemic on influenza, respiratory syncytial virus, and other seasonal respiratory virus circulation in Canada: A population-based study. Lancet Reg Health Am. 2021 Jul 17:100015. doi: 10.1016/j.lana.2021.100015. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef MEDLINE PubMed Central |
9. | https://dgpi.de/atemwegsinfektionen-nachweis-rsv-27-07-2021/ (last accessed on 19 Aug 2021). |
10. | https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_RSV.html (last accessed on 19 Aug 2021). |
11. | Jia Z, Yan X, Gao L,et al.: Comparison of Clinical Characteristics Among COVID-19 and Non-COVID-19 Pediatric Pneumonias: A Multicenter Cross-Sectional Study. Front Cell Infect Microbiol. 2021 Jul 1;11:663884. doi: 10.3389/fcimb.2021.663884. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef MEDLINE PubMed Central |
12. | Williams TC, Sinha I, Barr IG, Zambon M: Transmission of paediatric respiratory syncytial virus and influenza in the wake of the COVID-19 pandemic. Euro Surveill. 2021 Jul;26(29):2100186. doi: 10.2807/1560–7917.ES.2021.26.29.2100186. (last accessed on 19 Aug 2021) CrossRef |
13. | Falsey AR, Hennessey PA, Formica MA, et al.: Respiratory syncytial virus infection in elderly and high-risk adults. N Engl J Med. 2005;352(17):1749–59 CrossRef MEDLINE |
14. | https://www.europeanpharmaceuticalreview.com/news/159636/fda-fast-track-designation-given-to-mrna-rsv-vaccine/ (last accessed on 19 Aug 2021). |
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