ArchivDeutsches Ärzteblatt42/2021Bedarfe der Gesundheitsversorgung: Biografische und kulturelle Vielfalt beachten

THEMEN DER ZEIT

Bedarfe der Gesundheitsversorgung: Biografische und kulturelle Vielfalt beachten

Bröckerhoff, Peter; Evers-Wölk, Michaela; Sonk, Matthias; Pein, Katja; Weinberger, Nora; Krings, Bettina-Johanna; Woopen, Christiane

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Das Gesundheitssystem bedarf im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Versorgung eines Normwandels, der ein vorrangig biogenetisches Gesundheitsverständnis überwindet und sich an einem biografie- und kultursensiblen Verständnis orientiert.

Foto: LiaRey/ stock.adobe.com
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Unsere Gesellschaft durchläuft auf vielen unterschiedlichen Ebenen einen tiefgreifenden Wandel: Steigende Lebenserwartung, eine zunehmende Vielfalt an Lebensentwürfen und kulturelle Diversität treffen aufeinander und verändern in hohem Maße die Sozialstruktur. So hat beispielsweise die steigende Lebenserwartung dazu geführt, dass circa 4,8 Millionen Menschen in Deutschland über 80 Jahre alt sind. Zugleich wächst diese Bevölkerungsgruppe am schnellsten (1). Dieser Umstand geht auch mit normativen Veränderungen einher, denn mit steigender Lebenserwartung wandeln sich auch die Erwartungen der Menschen an ein langes Leben. Selbst mit der Zunahme altersbedingter Funktionseinschränkungen bei gleichzeitiger Abnahme der Selbstständigkeit und Mobilität, die oftmals mit dem Verlust an sozialer Teilhabe verbunden sind, eröffnen sich neue Lebensmöglichkeiten und -entwürfe, die ältere Menschen individuell gestalten wollen. Durch diese biografische Vielfalt und die diversen komplexen Alterungsprozesse ändern und differenzieren sich auch die Alter(n)s- und Versorgungserwartungen an das Gesundheitssystem (2). Darüber hinaus wirken biografische Brüche wie zum Beispiel Migrationserfahrungen, die die Gesundheit in erheblichem Maße beeinträchtigen können, zunehmend in diese Alterungsprozesse hinein (3). Auch werden gesellschaftliche Prozesse wie die Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen und Wertvorstellungen durch die fortschreitende Globalisierung beeinflusst, mit weitreichenden Auswirkungen auf die kulturellen Identitäten in der Gesellschaft. Diese Veränderungen führen zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Versorgungserwartungen (4).

Mit der über den Lebensverlauf hinweg kulminierenden Heterogenität der Menschen ändern sich also nicht nur die medizinischen Bedarfe, sondern auch die persönlichen Bedürfnisse, Erwartungen und Ansprüche an die öffentliche Gesundheitsversorgung, wodurch das Gesundheitssystem vor neue inhaltliche und strukturelle Herausforderungen gestellt wird. Bisher ist ungeklärt, welche Auswirkungen die zunehmende biografische und kulturelle Vielfalt auf eine bedarfsgerechte Versorgung haben, die am medizinischen Standard ausgerichtet ist. Wie lassen sich objektiv-medizinische Bedarfe und subjektive Bedürfnisse in Einklang bringen? Wie lässt sich überhaupt Bedarfsgerechtigkeit angemessen für eine alternde Gesellschaft denken? Und welche Folgen ergeben sich daraus im Hinblick auf die Normen und Erwartungen einer guten institutionell abgesicherten Versorgung? (5)

Diese Fragen wurden in dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten und am CERES, Universität zu Köln, koordinierten Forschungsprojekt „Normen im demografischen Wandel – Gesundheit und Krankheit, Solidarität und Gerechtigkeit (NoWa)“ theoretisch und empirisch untersucht.

Handlungsbedarfe für den Wandlungsprozess feststellen

So sind mit den Partnern des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) sowie dem IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung leitfadengestützte Interviews mit Experten und Expertinnen (n = 17) sowie in mehreren deutschen Städten (Karlsruhe, Köln, Hamburg, Berlin, Dresden) fünf Workshops („Foren der Zukunft“) mit Stakeholdern aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems (n = 63) durchgeführt worden, um Erkenntnisse über das Wertgefüge beziehungsweise die Entwicklung von Normen im Zusammenhang mit der Alterung, aber auch Vielfalt der Bevölkerung zu gewinnen und etwaige Konflikte in der sozialen Praxis zu identifizieren. Diese Zwischenergebnisse bildeten die Grundlage einer Onlinebefragung von Stakeholdern aus Gesellschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Gesundheit und Recht (n = 1 682). Die Befragung zielte darauf ab, die Erkenntnisse der theoretisch-empirischen Vorarbeit auf eine breite inter- und transdisziplinäre Basis zu stellen. In einem letzten Schritt wurden die Handlungsbedarfe in Einzelinterviews mit Experten und Expertinnen (n = 20) vertiefend diskutiert. Als Ergebnis dieses mehrstufigen Prozesses wurden drei Leitprinzipien formuliert, mit deren Hilfe ethische Orientierung für die Gestaltung der Wandlungsprozesse gegeben werden soll.

Die alternde Gesellschaft stellt nicht nur die Finanzierung der Gesundheitsversorgung im Solidarsystem vor große Herausforderungen. Auch das Altern in zunehmender Pluralität und kultureller Diversität hält Herausforderungen für fundamentale gesellschaftliche Normen, Werte und Prinzipien bereit, so auch für die Bedarfsgerechtigkeit. Bedarfsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung ist ethisch deshalb so bedeutsam, da Gesundheit ein hohes Gut ist, das die Verwirklichung weiterer zentraler Güter und Chancen in hohem Maße beeinflusst (7). Gesundheit stellt vor dem Hintergrund dieser Prämissen nicht das „ultimative Gut“ dar. Sie ist aber Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung weiterer Ziele wie Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichheit.

Im deutschen Gesundheitssystem wird Bedarfsgerechtigkeit in den Grundzügen durch das SGB V konkretisiert. „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“, heißt es dort in § 12 (8). Die Medizin bestimmt, wann eine Indikation zur Behandlung besteht. Orientierung hierfür liefert der sogenannte medizinische Standard, der zur Wirtschaftlichkeit in ein Spannungsverhältnis geraten kann (9). Zugleich haben Individuen gemäß dem Sachleistungsprinzip unabhängig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit Anspruch auf bestimmte Versorgungsleistungen (10). Die Finanzierung ist durch das Solidarprinzip geregelt (11). Dieses Prinzip gewährleistet, dass jeder Mensch unabhängig von seiner sozioökonomischen Situation die gleiche Behandlung, zumindest die gleiche als notwendig erachtete Versorgung erfährt. Vor dem Hintergrund einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung wäre es nicht gerechtfertigt, auf Kosten der Allgemeinheit einem einzelnen Menschen unnötige Maßnahmen zukommen zu lassen. Daraus wird ersichtlich, warum ein evidenzbasiertes Verfahren zur Bedarfsermittlung essenziell ist.

In der alternden, zunehmend diverser werdenden Gesellschaft zeigt sich aber, dass ein entscheidender Aspekt zur Bedarfsgerechtigkeit unberücksichtigt bleibt: die persönliche Situation der Patientinnen und Patienten. Zwar kann jeder Mensch, der das Bedürfnis hat, einen Arzt aufsuchen und seinen Zustand untersuchen lassen. Der freie Arztbesuch ist garantiert. Weniger garantiert ist der Raum für Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten, in dem die Mediziner auf die individuellen Vorstellungen und Bedürfnisse der Patienten eingehen. In der eigenen, persönlichen Situation wahrgenommen zu werden ist ein menschliches Grundbedürfnis, das in besonderen Lebenslagen zunehmen kann. So ist es besonders herausfordernd bei beginnender Demenz, aber auch in Transitionsphasen wie beispielsweise dem Umzug ins Pflegeheim und/oder wenn ein Migrationshintergrund besteht. Eine bedarfsgerechte Versorgung würde dementsprechend berücksichtigen, dass sie dem einzelnen Menschen vor dem Hintergrund seiner unterschiedlichen biografischen Lage, Lebenssituation und Präferenzen gerecht wird.

Standardisierte Verfahren weiterentwickeln

Diese Form der Bedarfsgerechtigkeit für die Planung und Umsetzung der Gesundheitsversorgung zu leisten, gestaltet sich vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Wandels umso schwieriger, je diverser die Lebenswirklichkeiten der Menschen werden. Erschwerend wirkt, dass sich die sozialen Lebensbedingungen durch die individuellen Biografien noch weiter ausdifferenzieren und die Lebensentwürfe der Gruppe alter und hochaltriger Menschen immer heterogener werden (12). Damit einhergehend verändern sich auch normative Vorstellungen und Werte, die unterschiedliche Versorgungserwartungen hervorbringen. Im Zuge dessen ist die Gesundheitsversorgung, die auf standardisierten Verfahren zur Bedarfsermittlung und -bemessung basiert, noch nicht in der Lage, diesen zunehmenden Veränderungen und heterogenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Zwar fließen zusätzlich zu einem objektiven Bedarf stets subjektive Kriterien in die Bedarfsermittlung mit ein, zum Beispiel unterschiedliche Bedürfnisse und Präferenzen von Patientinnen und Patienten, die zu einer unterschiedlich hohen Nachfrage nach Gesundheitsleistungen führen. Diese sind aber immer in soziale und kulturelle Kontexte eingebunden. Zugleich ist das Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie von Alter und Altern abhängig von Normen und Wertvorstellungen, die auch vom kulturellen Kontext geprägt sind. Das Bedürfnis, zum Beispiel bei einer Depression psychiatrische Hilfe zu suchen, ist an das individuelle und kulturelle Krankheitsverständnis sowie das Wissen um institutionelle Hilfestellungen geknüpft, die vertrauensvoll in Anspruch genommen werden können. Ein gerechtigkeitsrelevantes Problem kann dann entstehen, wenn ein medizinischer Bedarf bei einer Person besteht, diese aber aus verschiedenen Gründen wie zum Beispiel sprachlichen Barrieren medizinische Leistungen nicht nachfragt.

Wenn Patientinnen und Patienten nicht erreicht werden

Beispielhaft können hierfür die zu Anfang der COVID-19-Pandemie nicht in ausreichend verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellten relevanten Gesundheitsinformationen angeführt werden. Zudem werden bestimmte Patienten oder Patientengruppen mit manchen Angeboten öffentlicher Gesundheitsämter kaum oder gar nicht erreicht. Dies ist der Fall, wenn es ihnen an Systemkenntnis der Gesundheitsversorgung und demzufolge Informationen mangelt. Die Erreichbarkeit ist auch gefährdet, wenn Ärzte beispielsweise kein ausreichendes Verständnis für Patienten haben, die aus anderen Kulturkreisen stammen, oder diese die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung nicht vehement einfordern. Allerdings kann nicht zuletzt die Unkenntnis über Versorgungsleistungen auch zu überzogenen Erwartungen hinsichtlich ihrer räumlichen und zeitlichen Verfügbarkeit führen (13). Mit Blick auf Menschen aus unterschiedlichen Kulturen können auch unterschiedliche Werte und Verständnisse von Gesundheit und Krankheit die Ursache dafür sein, dass bestimmte Gesundheitsleistungen nicht nachgefragt werden. Eine mangelnde Nachfrage kann in der Folge dazu führen, dass bestimmte Angebote gar nicht erst oder nicht in ausreichender Menge im Gesundheitssystem bereitgestellt werden. In der Folge können Versorgungsdefizite entstehen, welche wiederum die Chancengleichheit schwächen.

Durch Defizite in der bedarfsgerechten Versorgung können auch Gesundheitschancen ungleich verteilt sein. Wie bereits erwähnt, beeinflusst Gesundheit auch eine Vielzahl weiterer hochrangiger Güter und die Möglichkeit, eigene Lebenspläne zu verwirklichen. Chancengleichheit im Gesundheitssystem ist damit auch für andere Sektoren wie zum Beispiel den Arbeitsmarkt oder die soziale Teilhabe relevant. Um Chancengleichheit unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Alter, Lebenslagen et cetera in der Gesellschaft zu erreichen, sollte das Konzept der Bedarfsgerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung um die Dimension eines biografiesensiblen Verständnisses erweitert werden. Hierbei reicht es nicht aus, nur die gruppenspezifischen kulturellen Merkmale zu berücksichtigen. Jeder Mensch unterscheidet sich in seinen Werten und Präferenzen, jeder Mensch macht andere Erfahrungen in seinem Leben und entwickelt individuelle, persönliche Bedarfe. Daher bedarf es verstärkt der Beachtung biografischer Aspekte schon in der Bedarfsermittlung, einschließlich individueller Wertvorstellungen unter anderem bezüglich Alter und Altern sowie von einem guten Leben in verschiedenen Lebensphasen. Die Notwendigkeit einer biografie- und kultursensiblen Ausgestaltung des zukünftigen Gesundheitssystems für mehr Bedarfsgerechtigkeit hat sich in den empirischen Untersuchungen bestätigt.

In der Onlinebefragung gesellschaftlicher Stakeholder aus ganz Deutschland (n = 1682) wurden – aufbauend auf den Ergebnissen der einleitenden Interviews mit Experten sowie des moderierten Workshopdialogs – ausgewählte Hypothesen zum Normwandel eines biografie- und kultursensiblen Verständnisses von Gesundheit mit Bezug zum Gesundheitswesen abgefragt. Besonders große Zustimmung (93 Prozent) äußern die befragten Stakeholder dazu, dass ein gleichberechtigter und niedrigschwelliger Zugang zur Gesundheitsversorgung auch für ältere Migranten eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Im Hinblick auf eine chancengerechte Gesundheitsversorgung stimmen gut 76 Prozent der Teilnehmenden zu, dass gesellschaftlicher Druck zur Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit soziale Unterschiede in der Gesellschaft weiter vertiefen wird. Weiterhin sehen es 66 Prozent der befragten Personen in diesem Zusammenhang als wichtig an, dass es zu einer Stärkung gesundheitsbezogener Kompetenzen von sozial benachteiligten Menschen kommt, damit zum Beispiel fehlende Systemkenntnis nicht eine Hürde für die Inanspruchnahme adäquater ärztlicher Leistung ist und die Vertiefung von gesellschaftlichen Unterschieden abgemildert wird. 47 Prozent der befragten Stakeholder sehen ein fehlendes biographie- und kultursensibles Verständnis von Ärzten gegenüber ihren Patienten als gerechtigkeitsrelevantes Problem an. Wenn Teilnehmende hauptamtlich in der Gesundheitsversorgung oder Pflege tätig sind, dann stimmen sie dieser Aussage sogar stärker zu als Teilnehmende aus anderen Berufsfeldern.

Aus den Ergebnissen der Onlinebefragung wurden Leitfragen für ergänzende Experteninterviews entwickelt, um fachliche Einschätzungen und Handlungsbereiche aufzuzeigen. Die Auswertungen der Interviews zeigen, dass die Potenziale differenzierter Versorgung gegenwärtig mit Blick auf die Abdeckung persönlicher Bedürfnisse und medizinischer Bedarfe nicht ausgenutzt werden. So besteht aus Sicht der Experten seitens der medizinischen und pflegerischen Akteure wenig Sensibilität für die individuellen Voraussetzungen sowie die individuellen Lebenserfahrungen und Biografien der zu versorgenden Menschen. Existierende Angebote beispielsweise für Personen aus der LGBTQI+Community (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen) sowie Migranten weisen in eine Richtung, die als positives Modell die Angebotsbreite des Gesundheits- und Pflegesystems bestimmen sollte. Des Weiteren ist nach Auffassung der Experten die Kommunikation zwischen medizinischen Fachkräften und pflegebedürftigen Menschen bislang zu wenig auf die Perspektive der zu versorgenden Menschen ausgerichtet. Sie merkten an, dass nicht nur die unterschiedlichen Bedürfnisse, sondern auch vorhandene Wissensbestände zu biografie- und kultursensiblen Gesundheitsfragen in der alltäglichen Arbeit zu wenig berücksichtigt werden.

Die befragten Experten sehen allerdings durchaus Ansätze, um in diesen Handlungsbereichen Fortschritte zu machen. So sollte eine differenzierte Sichtweise auf die zu versorgenden Menschen im Gesundheits- und Pflegesektor entwickelt und durchgesetzt werden, in deren Rahmen Biografie und Kultur systematisch und institutionell berücksichtigt sind. Chancengerechtigkeit könnte beispielsweise bei der Kommunikation beginnen. „Kultur- und Sprachmittler“ könnten zur Schaffung eines gerechten Zugangs zu gesundheitsbezogenem Wissen beziehungsweise medizinisch-pflegerischen Angeboten in der Versorgung eingesetzt werden. In diesem Sinne ist es aus der Perspektive der Befragten angezeigt, einen Bestand von biografie- und kultursensiblem Wissen auch unter Berücksichtigung von subjektivem Wissen aufzubauen sowie die entsprechenden Angebote in Aus-, Fort- und Weiterbildung für medizinisch-pflegerisches Fachpersonal zu erweitern.

Drei Leitprinzipien als Impulse für das Gesundheitssystem

Das Gesundheitssystem bedarf im Hinblick auf eine bedarfsgerechte Versorgung eines Normwandels, der ein vorrangig biogenetisches Gesundheitsverständnis überwindet und sich an einem biografie- und kultursensiblen Verständnis orientiert. Für ein zukünftiges Gesundheitssystem personalisierter medizinischer Versorgung wurden vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnisse im Projekt drei Leitprinzipien als Impulse für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems formuliert:

  • Allgemeines Wissen über biografische und kulturelle Unterschiede schaffen und nutzen: Um Gesundheitsversorgung gerechter zu gestalten, sollte systematisches Wissen darüber gewonnen und gestärkt werden, wie sich biografische Unterschiede auf die Gesundheit auswirken. Dieses Wissen sollte in Aus-, Fort- und Weiterbildung der öffentlichen Gesundheitsversorgung vermittelt werden, um alle Beschäftigten mit biografie- und kultursensiblem Wissen auszustatten und dieses in die breite Anwendung zu bringen.
  • Wissen über individuell unterschiedliche Werte und Verständnisse von Patientinnen und Patienten anwenden: Um unterschiedliche Werte und Verständnisse in der Versorgungssituation zur Geltung zu bringen, sollte die Methodologie zur Eruierung und Entwicklung kultursensiblen Wissens in der konkreten Versorgungssituation erweitert und vertieft werden. Hierbei sollten Ansätze systematisch validiert und verstärkt in die Versorgungspraxis integriert werden, die auch das Wissen und die Präferenzen der zu Versorgenden über ihre jeweils biografiespezifischen Gesundheitsziele und -vorstellungen berücksichtigen (zum Beispiel biografieorientierte Kommunikationsangebote).
  • Biografie- und kultursensible Angebote verbessern und den Zugang erleichtern: Es sollten verstärkt niedrigschwellige, offene und zugehende Angebote, wie beispielsweise mobile Versorgungszentren, entwickelt und gefördert werden, um eine bedarfsgerechte Versorgung auch für Menschen mit erschwertem Zugang zum Gesundheitssystem zu ermöglichen. Hierbei wird der Akzent auf eine Strategie der Ermächtigung der Menschen gelegt, diese Versorgungsleistungen für sich effizient zu nutzen.
  • Zitierweise dieses Beitrags:
    Dtsch Arztebl 2021; 118(42): A 1924–9

Anschrift der Verfassser:

Peter Bröckerhoff, M.A.

Universität zu Köln

Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health

Universitätsstraße 91

50931 Köln

peter.broeckerhoff@uni-koeln.de

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4221
oder über QR-Code.

Projekt NoWa

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Diversifizierung, Pluralisierung und Alterung der Gesellschaft verändern sich auch normative Versorgungserwartungen und Bedarfe im Gesundheitssystem. Ziel des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts „Normen im Demographischen Wandel – Gesundheit und Krankheit, Solidarität und Gerechtigkeit (NoWa)” war es, zu klären, wie eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung vor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse aussehen sollte und wie Bedarfsgerechtigkeit für die alternde Gesellschaft konzeptuell neu gefasst werden muss. Zur Beantwortung dieser Frage wurde ein mehrstufiger theoretisch-empirischer Forschungsprozess genutzt. Auf der Grundlage einer Literaturrecherche wurde der Wandel theoretisch beschrieben. Um die potenziellen Spannungsfelder des Wandels in der Praxis zu überprüfen, wurden leitfadengestützte Experteninterviews und fünf Workshops in mehreren deutschen Städten mit Stakeholdern aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems durchgeführt. Um die Zwischenergebnisse auf eine breite inter- und transdisziplinäre Basis zu stellen, wurden zusätzlich Stakeholder aus Gesellschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Gesundheit und Recht online befragt. Diese Ergebnisse wurden mit Expertinnen und Experten in weiteren Einzelinterviews diskutiert. Als Ergebnis des Prozesses wurde der Wandel hin zu einer biografiesensiblen Gesundheitsversorgung beschrieben und drei Leitprinzipien formuliert, mit deren Hilfe ethische Orientierung für die Gestaltung der Wandlungsprozesse gegeben werden soll.

1.
Literatur
2.
Destatis (2020) Ältere Menschen. Die Bevölkerungsgruppe der älteren Menschen ab 65 Jahren. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aeltere-Menschen/bevoelkerung-ab-65-j.html. Zugegriffen: 13. Nov. 2020.
3.
Stadlbacher S, Schneider M (Hrsg.) (2020) Lebenswirklichkeiten des Alter(n)s. Vielfalt, Heterogenität, Ungleichheit. Springer VS, Wiesbaden.
4.
RKI (2008) Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes Migration und Gesundheit.
5.
Kirkcaldy et al. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 9 2006
6.
Versorgungserwartungen von Menschen mit Migrationshintergrund in der medizinischen Rehabilitation – Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittbefragung, Langbrandtner et al. DRV 2018
7.
Frahm et. al. (2018) Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven. MedR (2018) 36: 447–45 CrossRef
8.
Kersting W (2000) Gerechtigkeitsethische Überlegungen zur Gesundheitsversorgung. In: Schöffski O., v.d. Schulenburg JM.G. (eds) Gesundheitsökonomische Evaluationen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-11871-9_3
9.
Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) § 12 Wirtschaftlichkeitsgebot
10.
Frahm et al. (2018) Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven. MedR (2018) 36: 447–457
11.
Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 247
12.
Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477
13.
Bolze M. (2020) Alter(n)s- und Lebensstilforschung – Entwicklung und Perspektiven. In: Lebensführung im Alter(n)swandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29616-2_2 ; Horn V., Schröer W., Schweppe C. (2020) Alte Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrungen. In: Aner K., Karl U. (eds) Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_39
14.
https://www.kbv.de/media/sp/4.20_Kultursensibilitaet_in_der_Patientenversorgung.pdf
Universität zu Köln, Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres): Peter Bröckerhoff, M.A.
IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung: Michaela Evers-Wölk, M.A., Matthias Sonk, M.A., Katja Pein, M.A.
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Technikfolgenabschätzungen und Systemanalysen (ITAS): Dr. Bettina-Johanna Krings, Nora Weinberger, M.A.
Universität zu Köln, Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) und Universität zu Köln, Medizinische Fakultät, Uniklinik Köln, Forschungsstelle Ethik: Univ.-Prof. Dr. med. Christiane Woopen
1.Literatur
2. Destatis (2020) Ältere Menschen. Die Bevölkerungsgruppe der älteren Menschen ab 65 Jahren. https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aeltere-Menschen/bevoelkerung-ab-65-j.html. Zugegriffen: 13. Nov. 2020.
3.Stadlbacher S, Schneider M (Hrsg.) (2020) Lebenswirklichkeiten des Alter(n)s. Vielfalt, Heterogenität, Ungleichheit. Springer VS, Wiesbaden.
4. RKI (2008) Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes Migration und Gesundheit.
5. Kirkcaldy et al. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 9 2006
6.Versorgungserwartungen von Menschen mit Migrationshintergrund in der medizinischen Rehabilitation – Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittbefragung, Langbrandtner et al. DRV 2018
7. Frahm et. al. (2018) Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven. MedR (2018) 36: 447–45 CrossRef
8. Kersting W (2000) Gerechtigkeitsethische Überlegungen zur Gesundheitsversorgung. In: Schöffski O., v.d. Schulenburg JM.G. (eds) Gesundheitsökonomische Evaluationen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-11871-9_3
9.Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) § 12 Wirtschaftlichkeitsgebot
10.Frahm et al. (2018) Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven. MedR (2018) 36: 447–457
11.Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 247
12.Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477
13.Bolze M. (2020) Alter(n)s- und Lebensstilforschung – Entwicklung und Perspektiven. In: Lebensführung im Alter(n)swandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29616-2_2 ; Horn V., Schröer W., Schweppe C. (2020) Alte Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrungen. In: Aner K., Karl U. (eds) Handbuch Soziale Arbeit und Alter. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26624-0_39
14.https://www.kbv.de/media/sp/4.20_Kultursensibilitaet_in_der_Patientenversorgung.pdf

Kommentare

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Avatar #615036
co_ed
am Montag, 29. November 2021, 21:41

Gefahr durch gesellschaftlichen Mikro-Klimawandel im Gesundheitswesen Deutschland

Die Bundesärztekammer fällt nicht in den gesetzlichen Geltungsbereich der Deutschen Rechtschreibung, wurde mir gesagt, da die Bundesärztekammer keine Körperschaft ist, sondern lediglich eine Vereinigung von Körperschaften.

Auch andere Gesetze wie etwa das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) gelten nicht für die Bundesärztekammer. Eine demokratische Selbstverpflichtung wie etwa ein Client-Relation-Management (transparentes Ärztekammer-Mitglied-Verhältnis zur Patienten- und Ärztebeteiligung) hat die BÄK niemals niedergeschrieben.

Wer einen Klimawandel in Arztpraxen und Kliniken möchte, muss die Verwaltung und die Funktionäre der BÄK und KBV fordern. Es gibt zu viele Mängel im Gesundheitswesen für Patienten und Akteure.

Für einen globalen Klimawandel kann einE jedeR mit seinem engagierten Einsatz im Gesundheitswesen Deutschland demokratisch Erfahrungen sammeln. Noch bei einem globalen Klimawandel versagt das Gesundheitswesen Deutschland schon längst als Detail vom Ganzen.

Stoppt die eigennützigen Trittbrettfahrer der verluderten geschichtlichen Entwicklung.
Avatar #615036
co_ed
am Montag, 15. November 2021, 12:03

Endpunkt der Gesundheitsversorgung ist die Lebenserwartung

Diversity ist in!

Doch – «Biografische und kulturelle Vielfalt» ist nur ein Surrogatparameter. Das Gesundheitsministerium hat Geld ausgeben, damit das Land an der Nase herumgeführt wird und von politischen Versäumnissen abgelenkt wird.

Bei aller Diversity und Vielfalt zählt als Endpunkt der Gesundheitsversorgung letztlich die Lebenserwartung. Und die ist seit Jahrzehnten in manchen Regionen miserabel. Beim einem der Schlusslichter wie Duisburg sind es fünf Jahre weniger als in bevorzugten Regionen (DOI: 10.3238/arztebl.2020.0493); bei dieser besonderen Form der biografischen und kulturellen Vielfalt hapert es zu Zeiten des Bergbaus seit einem Jahrhundert und immer noch.
Avatar #615036
co_ed
am Donnerstag, 11. November 2021, 21:30

Poser-Trend zur ultimativen Freiheitsentgrenzung

Einst war Herr MedDir a. D. Dr. Müsch dem gesetzlichen Geltungsbereich der Deutschen Rechtschreibung unterworfen. «Bedarfe» hätte er nicht formulieren dürfen.

Es gibt ja einen Poser-Trend zur ultimativen Freiheitsentgrenzung. Wird das Deutsche Ärzteblatt (als Organ einer Körperschaft) geschützt, indem es in den gesetzlichen Geltungsbereich der Deutschen Rechtschreibung fällt, so meine Frage an die DÄ-Redaktion.
Avatar #654929
*1044#002051042682000#2712*
am Mittwoch, 10. November 2021, 11:42

"Bedarfe" bedarf einer Erklärung

Wenn es von abstrakten Begriffen keinen Plural gibt, dann gibt es auch keine "Bedarfe" - oder?
MedDir a. D. Dr. Müsch

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