THEMEN DER ZEIT: Aufsätze
Evidenzbasierte Medizin: Umsetzbarkeit und Umsetzung in die deutsche Praxis
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Die Hoffnung, dass die in großer Menge publizierten Ergebnisse der klinischen Forschung allein durch ihre
Existenz die Patientenversorgung verbessern werden, hat sich nicht erfüllt. Um den Transfer wissenschaftlicher
Erkenntnis in die medizinische Praxis zu erleichtern und zu beschleunigen, wurde auf der Basis von
epidemiologischen, statistischen und entscheidungstheoretischen Prinzipien die Methodik der evidenzbasierten
Medizin (EBM) entwickelt. EBM stellt sowohl Qualitätskriterien als auch Techniken für die patientenbezogene
Anwendung klinischer Forschungsergebnisse zur Verfügung und hat in wenigen Jahren eine rasante Verbreitung
erfahren. Während das Interesse weiterhin stetig zunimmt, findet der Aspekt der Umsetzung in die Praxis wenig
Beachtung. Im Jahr 1999 wurde mit mehr als 1 000 Veröffentlichungen zum Schlagwort "Evidence Based
Medicine" der Rekord des Vorjahres übertroffen. Der Anteil an Literaturhinweisen, die auch das Wort
"Umsetzung" (Implementation) enthalten, lag dabei jedoch wie zuvor unter fünf Prozent. Aus deutscher Sicht
besonders bemerkenswert ist der Umstand, dass keine der publizierten Untersuchungen zur Umsetzbarkeit und
Umsetzung von EBM in die Praxis aus Deutschland stammt. In Ermangelung deutscher Studien müssen so die
angelsächsischen Ergebnisse als Orientierung dienen.
Die Umsetzung der EBM-Prinzipien findet im Gesundheitswesen auf zwei Ebenen statt: Auf der System-ebene
wird die vorhandene Evidenz auf Patientenkollektive angewendet, um die nachweislich für alle Patienten dieser
Art sinnvollste Behandlung festzulegen. Der "klassische" Einsatz zur Lösung eines Problems bei einem
konkreten Patienten in der Sprechstunde oder auf der Station erfolgt lokal an der "Basis".
EBM auf der Systemebene
Auf der Systemebene ist die evidenzbasierte Leitlinie die häufigste Form der Anwendung von vorhandener
Evidenz aus der klinischen Forschung. (Der unzulässige Umkehr-schluss, eine Leitlinie sei automatisch mit
evidenzbasierter Medizin gleichzusetzen, wird durch seine Popularität nicht weniger absurd.) Auch wenn eine
Leitlinie evidenzbasiert ist, müssen trotz der Chance, eine gleichmäßig hohe Behandlungsqualität für eine
Gruppe von Patienten zu erreichen und dabei den behandelnden Ärzten mehr Sicherheit zu geben, die Gefahren
eines ärztlichen Autonomieverlustes, der Missachtung der Patientenindividualität und des Einfließens
sachfremder Erwägungen gesehen werden. Wirklich evidenzbasierte Leitlinien sind zudem in der Erstellung
aufwendig und dadurch kostenintensiv (die Angaben verschiedener Ersteller evidenzbasierter Leitlinien
schwanken zwischen 100 000 und einer Million DM je Leitlinie) (5). Diese Investition kann nur dann lohnend
sein, wenn dadurch bei einer großen Zahl von Patienten unsinnige Maßnahmen verhindert und vermehrt
Behandlungserfolge erzielt werden. Zahlreiche Studien zeigen, dass durch Leitlinien sowohl das ärztliche
Verhalten als auch die Behandlungsausgänge positiv beeinflusst werden können. Fehlendes Wissen von der
Existenz einer Leitlinie und mangelnde Kenntnis des Inhalts bekannter Leitlinien sind jedoch häufige
Hindernisse, die überwunden werden müssen (2). Allerdings kann durch eine Leitlinien-Einführung mit
geeigneten Methoden (zum Beispiel Berater, die Ärzte an ihrem Arbeitsplatz aufsuchen und informieren)
mehrheitlich eine Verhaltensänderung erreicht werden: In einer Übersicht aus 87 kontrollierten Studien erzielte
die Einführung von Leitlinien in 93 Prozent eine Veränderung der Patientenversorgung. In 71 Prozent der
Studien, die zudem die Behandlungsergebnisse erfassten, wurden auch die Krankheitsverläufe deutlich
verbessert (7). Die Hoffnung, so auch im deutschen Gesundheitssystem Verbesserungen zu erreichen, ist vor
diesem Hintergrund nachvollziehbar. Angesichts des Aufwandes bei der Erstellung evidenzbasierter Leitlinien
wäre es jedoch utopisch, in naher Zukunft für den größeren Teil medizinischer Problemstellungen
evidenzbasierte Leitlinien zu erwarten.
Die klassische Anwendung der EBM vor Ort durch den behandelnden Arzt in Praxis und Klinik auf die
individuellen Probleme seines Patienten wird angesichts des Mangels an evidenzbasierten Leitlinien vorerst
nicht an Bedeutung verlieren. Die Bedingungen, unter denen das fallbezogene Vorgehen erfolgreich ist, sind
weitaus schwieriger zu untersuchen, weil das Konzept an unterschiedlichen Einzelfällen erprobt werden muss,
bei denen sich gemeinsame gut messbare Endpunkte wesentlich schwieriger finden lassen. Dass solche
Untersuchungen dennoch möglich sind, wurde in mehreren großen Projekten bewiesen: Unter Beteiligung einer
großen Zahl an Allgemeinarztpraxen konzentrierte sich das "Framework for Appropriate Care Throughout
Sheffield" (FACTS) auf die Senkung kardiovaskulärer Risiken durch Einsatz nachweislich effektiver
Medikation. Im PACE-Programm ("Promoting Action on Clinical Effectiveness") wurden drei Jahre lang
verschiedene Methoden zur Einführung evidenzbasierter Patientenversorgung erprobt. In 14 Krankenhäusern
wurden durch das "Front-Line Evidence Based Medicine Project" Literaturdatenbanken bereitgestellt und
Schulungen in Literaturrecherche und kritischer Literaturbewertung durchgeführt. Mit diesen Projekten wurden
in unterschiedlichen Einsatzbereichen zum Teil beachtliche Veränderungen erzielt. Die Auswertungen dieser
Projekte lieferten Erkenntnisse über förderliche und hinderliche Umstände für die Umsetzung von EBM in die
Praxis.
Technische Ausstattung
Voraussetzung ist ein effektiver Zugriff auf die publizierten Forschungsergebnisse, sei es als Zugang zur
Originalliteratur oder in Form glaubwürdiger Zusammenfassungen (zum Beispiel Reviews der CochraneCollaboration). Dies erfordert zumeist eine Ausstattung mit (vernetzten) Computern. Eine Unterstützung durch
Bibliothekare beispielsweise beim Heraussuchen und Kopieren von Artikeln ist hilfreich. Eine pragmatische
Lösung stammt von Prof. Dr. med. David Sackett, einem der Väter der EBM: Sämtliche von ihm benötigten
Hilfsmittel (PC, Projektor, CD-Laufwerk mit Literaturdatenbanken) wurden auf einen "Evidenz-Karren"
montiert und stehen so auch während der Visite zur Verfügung (9).
Auch mit hervorragender Infrastruktur sind Kenntnisse in effektiver Bedienung der verschiedenen
Literaturrecherchesysteme erforderlich, um in vertretbarer Zeit die benötigte Literatur zu finden. Bei der
Erprobung des "Evidenz-Karrens" waren immerhin 90 Prozent aller patientenbezogenen Literatur-Suchen
erfolgreich (wobei die Hälfte der Suchergebnisse das ohnehin geplante Vorgehen bestätigte, aber die andere
Hälfte je zu gleichen Teilen zu Abweichungen vom geplanten Vorgehen oder zumindest zu neuen Erkenntnissen
führte) (9). Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die an dieser Untersuchung teilnehmenden Ärzte in
der Benutzung der Recherchesysteme überdurchschnittlich gut geübt waren. Eine Übersichtsarbeit zeigte für
Literaturrecherchen von Ärzten eine Erfolgsquote (Anteil definitiv relevanter Artikel am Ergebnis) zwischen 15
und 35 Prozent (3). Diese Literaturrecherche-Fähigkeiten können jedoch durch geeignete Schulungen deutlich
gesteigert werden. In einer kontrollierten Studie verbesserten sie sich bei Medizinstudenten schon durch einen
dreistündigen Kurs deutlich (8).
Ist die Literatur erfolgreich gefunden, muss sich der evidenzbasiert arbeitende Arzt von der Glaubwürdigkeit der
Studien und ihrer Anwendbarkeit auf den konkreten Patienten überzeugen. Diese kritische Bewertung der
Literatur soll, um möglichst effizient zu sein, systematisch erfolgen. Geeignete Vorgehensweisen können in
Kursen erlernt werden. Bereits 1987 wurde eine deutliche Verbesserung der Literaturbewertung bei PJ-Studenten
durch acht zweistündige Unterrichtseinheiten erreicht (1). Auch die Auswertung des britischen "Critical
appraisal skills programme" (CASP) zeigte eine Steigerung von Teilnehmerzufriedenheit und
(selbsteingeschätztem) Wissen (4). Auch bei objektiver Messung fanden sich reproduzierbare Erfolge. Norman
et al. kommen in einer systematischen Zusammenfassung entsprechender Studien zu dem Schluss, dass sich
kritische Literaturbewertung durch Schulungen bei Medizinstudenten und in geringerem Ausmaß auch bei
Assistenzärzten steigern lässt (6).
Evidenz zu Umsetzbarkeit und Umsetzung evidenzbasierter Medizin in die Praxis ist somit vorhanden.
Untersuchungsergebnisse zur Auswirkung von EBM auf patientenbezogene Endpunkte (zum Beispiel Änderung
der Krankheitsdauer) liegen bisher nur für evidenzbasierte Leitlinien vor. Die vorhandene Literatur lässt aber
bereits recht genau beschreiben, welche Umstände für die Umsetzung von EBM in die Praxis förderlich sind.
Inwieweit diese Erfahrungen auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, kann nur vermutet werden. Diese
Unsicherheit wird von Befürwortern und Gegnern der EBM unterschiedlich bewertet: Während die Befürworter
darauf vertrauen, dass Probleme und deren Lösungen in der Medizin von Land zu Land nicht grundsätzlich
unterschiedlich sind, ist für die Gegner der EBM jeder Zweifel an der Übertragbarkeit der Lösungen schon die
Bestätigung, dass EBM - zumindest hierzulande - nicht anwendbar ist. Will man es damit nicht bewenden
lassen oder es gar genauer wissen, darf man sich nicht weiter nur auf das selbstlose Engagement einer
wachsenden Zahl von Enthusiasten in Arztpraxen, Kliniken und Instituten verlassen. Eine gezielte Förderung
relevanter Forschungsprojekte muss auch in Deutschland begonnen werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-766-767
[Heft 12]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das im Internet (www.aerzteblatt.de)
einzusehen ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Lutz Fritsche
Medizinische Klinik
mit Schwerpunkt Nephrologie
Charité Campus Mitte
Schumannstraße 20/21
10117 Berlin
1. | Bennett KJ, Sackett DL, Haynes BC, Neufeld VR, Tugwell P, Roberts R. A controlled trial of teaching critical appraisal of the clinical literature to medical students. JAMA 1998; 257:2451-2454. |
2. | Cabana MD, Rand CS, Powe NR, Wu AW, Wilson MH, Abboud P-AC, et al. Why don't physicians follow clinical practice guidelines? A framework for improvement. JAMA 1999; 282:1458-1462. |
3. | Hersh WR, Hickam DH. How well do physicians use electronic information retrieval systems. JAMA 1998; 280:1347-1352. |
4. | Ibbotson T, Grimshaw J, Grant A. Evaluation of a programme of workshops for promoting the teaching of critical appraisal skills. Med Education 1998; 32:486-491. |
5. | Lauterbach KW. Chancen und Grenzen von Leitlinien in der Medizin. Z Ärztl Fortbild Qual Sich 1998; 92:99-105. |
6. | Norman GR, Shannon SI. Effectiveness of instruction in critical appraisal (evidence-based medicine) skills:a critical appraisal. Can Med Assoc J 1998; 158:177-181. |
7. | Nuffield Institute for Health, Centre for Health Economics. Implementing clinical practice guidelines: can guidelines be used to improve clinical practice? Eff Health Care 1994; 8:1-12. |
8. | Rosenberg WMC, Deeks J, Lusher A, Snowball R, Dooley G, Sackett DL. Improving searching skills and evidence retrieval. J Royal Coll Phys 1998; 32:557-563. |
9. | Sackett DL, Straus SE. Finding and applying evidence during clinical rounds. The "Evidence Cart". JAMA 1998; 280:1336-1338. |