SUPPLEMENT: Perspektiven der Diabetologie
Diabetestherapie im Alter (1): Eine besondere Herausforderung


Komorbiditäten, Lebenserwartung sowie die individuellen Fähigkeiten und Wünsche des Patienten spielen bei der gemeinschaftlichen Festlegung der Therapieziele zwischen behandelndem Arzt/Ärztin und älteren Menschen mit Diabetes eine große Rolle.
Diabetes mellitus ist im höheren Lebensalter eine der häufigsten chronischen Erkrankungen. Meist ist es ein Typ-2-Diabetes (T2DM), seltener sind es ältere Menschen mit Typ-1-Diabetes (T1DM) oder später Manifestation (LADA oder SAID). Konservative Erhebungen kommen auf eine Prävalenz von 5,8 Millionen Menschen mit diagnostiziertem Diabetes. Die Prävalenz ist zwischen dem 80. und 89. Lebensjahr am höchsten, jeder 4. dieser Altersgruppe leidet unter Diabetes; auch die Inzidenz ist mit 29 pro 1 000 Personenjahren bei Männern und 24 bei Frauen am höchsten (1). Rund 3 Millionen über 65-Jährige haben einen Diabetes. Zusätzlich gibt es noch eine hohe Dunkelziffer bisher nicht diagnostizierter Diabetesfälle im hohen Lebensalter.
Trotz dieser enormen Zahl älterer Menschen mit Diabetes gab es viele Jahre nur wenig spezifische Empfehlungen zur Diabetesbehandlung in den Leitlinien. Bisher wurden die Therapieziele und -vorgehensweisen nicht explizit auf den Bedarf, die Möglichkeiten und Bedürfnisse Älterer ausgerichtet.
Mit der S2k-Leitlinie „Diabetes im Alter“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft von 2018 (2) fanden Begriffe wie Gebrechlichkeit, Mangelernährung oder Assessment Eingang in die Leitlinienarbeit der Fachgesellschaft. Konsequenterweise wurden auch in der nationalen Versorgungsleitlinie „NVL Typ-2-Diabetes“ viele Inhalte, Ziele und Vorgehensweisen personalisiert auf die Bedarfe älterer Diabetespatienten beschrieben (3).
Die Therapieziele verändern sich
Im jüngeren Lebensalter ist die Diabetestherapie häufig glukozentrisch auf eine gute Blutzuckereinstellung (-senkung) ausgerichtet. Dabei ist die Behandlung auf die mittlere und ferne Zukunft ausgerichtet. Das Ziel eines HbA1c-Wertes in Richtung 6,5 % birgt im Alter (zumindest bei Insulin- oder Sulfonylharnstoff-basierter Therapie) deutlich mehr Risiken als Vorteile. Unter diesen Behandlungsregimes beträgt die geringste Mortalität 7,8 % beziehungsweise 7,5 % (4).
Im höheren Alter spielt das HbA1c generell eine geringere Rolle. In erster Linie gilt es, Hypoglykämien zu vermeiden und die Therapie im Hinblick auf die alterstypische Multimorbidität auszurichten.
In Anbetracht der vielfältigen Folge- und Begleiterkrankungen des T2DM können neue Therapieformen synergistisch wirken: So induzieren SGLT-2-Hemmer eine Glukosesenkung bei gleichzeitiger Kardio- und Nephroprotektion.
Eine gute Diabetestherapie im Alter muss zudem die körperlichen und geistigen Fähigkeiten/Grenzen der Betroffenen berücksichtigen. Denn Ältere mit Einschränkungen der Hirnleistung (Demenz) oder der Beweglichkeit können nicht mehr die üblichen Therapiemaßnahmen umsetzen. Spezielle Funktionsuntersuchungen („geriatrisches Assessment“) sollten daher fester Bestandteil der Diagnostik sein. Wir brauchen zudem die Bereitschaft, sich zusammen mit den Betroffenen über individuelle Therapieziele und Behandlungsmöglichkeiten auszutauschen. Natürlich ist auch im Alter die Basistherapie des Typ-2-Diabetes sinnvoll, doch es gibt folgende Besonderheiten:
- Schulungsmaßnahmen für geriatrische Patienten müssen sich an deren besonderen Bedürfnissen, physischen und kognitiven Fähigkeiten sowie individualisierten Zielen ausrichten (5).
- Bewegungstherapie ist für geriatrische Patienten äußerst wichtig und individualisiert zu planen. Bereits moderate Bewegung ist nicht nur bezüglich Stoffwechselwirkung, sondern auch im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Knochendichte, aber auch Sturzneigung und Demenzrisiko von Nutzen (6).
- Ernährungsempfehlungen müssen den Zustand des Kauapparates, aber vor allem das häufige Vorliegen von Fehl- und Mangelernährung berücksichtigen. Hochkalorische, proteinreiche Supplemente sind zusammen mit körperlichem Training bei Gebrechlichkeit (Frailty) sinnvoll (7).
Nationale Versorgungsleitlinie
Seit März steht die Nationale Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes zur Verfügung (3). Diese sieht eine gemeinsame Zielfindung zwischen Arzt und Patienten vor. Das Kapitel „Partizipative Entscheidungsfindung und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen“ ist neu aufgenommen worden und im Hinblick auf Ältere sehr wichtig. Ziele wie Erhalt der Autonomie, Vermeidung von Demenz und Gebrechlichkeit rücken erstmalig ins den Fokus der Diabetestherapie. Die gemeinsame Festlegung der individuellen Therapieziele eröffnet neue Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die Erweiterung des „HbA1c-Korridors“ zwischen 6,5 % und 8,5 % (Grafik 1).
Diabetestherapie für Ältere
Explizit berücksichtigt wird in der NVL das kardiovaskuläre Risiko bei der Therapieauswahl: Demnach kommt für Menschen mit Typ-2-Diabetes und hohem kardiovaskulärem Risiko oder einer klinisch relevanten Herz-Kreislauf-Erkrankung von Anfang an eine Kombination aus Metformin und SGLT-2-Inhibitoren oder GLP-1-Analoga infrage (Grafik 2) (3).
Vorteile für Ältere sind insbesondere die geringe bis fehlende Hypoglykämiegefahr beim Einsatz von Gliptinen, SGLT-2-Hemmern oder GLP-1-Analoga. Mit Insulin Degludec ist nun ein Insulin verfügbar, das infolge langer Halbwertzeit einen stabilen Verlauf der Glucosekurve über Tag und Nacht zeigt (8).
Die in den Zulassungsstudien beobachteten positiven Nebeneffekte der SGLT-2-Hemmer (seltenere Herzinsuffizienz-Dekompensation, Erhalt der Nierenfunktion) sind für ältere Patienten besonders wichtig. Leider ist ihr Einsatz derzeit an eine Altersgrenze gebunden (9).
Kombinationspräparate fördern auch bei Senioren die Therapietreue (Adherence). Des Weiteren kann die Verabreichungsform eine wichtige Rolle spielen: Fertigspritzen von GLP-1-Analoga, die nur einmal pro Woche gegeben werden müssen, sind bei Älteren mit Steatosis hepatis und Insulinresistenz häufig sehr gut wirksam und ohne Hypoglykämierisiko; sie sollten aber bei ungewolltem Gewichtsverlust abgesetzt werden (10).
Generell sind katabole Medikamente wie Metformin, SGLT-2-Hemmer oder GLP-1-Analoga dann kritisch zu sehen und abzusetzen, wenn sich bei älteren Personen eine Situation entwickelt, bei der ungewollte Gewichtsabnahme auftritt. Bevor eine Malnutrition oder Gebrechlichkeit (Frailty) entsteht, sollte eher eine anabole Therapie (z. B. Insulin) überdacht werden. Auch sind Patienten über Risiken wie Infektionen bei den SGLT-2-Hemmern individuell aufzuklären und zu schulen, des Weitern sind Empfehlungen zum Pausieren der Medikation in besonderen Fällen („sick days“) zu geben (7).
Rein glukoseorientierte Stoffwechselziele treten zwar in den Hintergrund, dennoch ist die Vermeidung von hyperglykämen Entgleisungen sowie die Vermeidung von Hypoglykämien bei T2DM, aber auch bei T1DM enorm wichtig, um das Demenzrisiko zu senken. Für Menschen mit T2DM ist dieses Risiko ja schon länger bekannt (11, 12), für T1DM konnte es bisher nur vermutet werden.
Eine aktuelle Arbeit (13) zeigt dies auch für Menschen mit T1DM sehr eindrücklich. Das Risiko einer Demenzentwicklung steigt durch das Auftreten schwerer Hypoglykämien im mittleren Lebensalter bei T1DM um das 1,7-fache, bei schweren Hyperglykämien sogar um das Doppelte. Auch Menschen mit Typ-1-Diabetes sollten deshalb im Alter umdenken. Geriatrische Syndrome wie Demenz oder eingeschränkte Feinmotorik schränken viele Fertigkeiten zum Selbstmanagement, welches Menschen mit Typ-1-Diabetes immer benötigen, dauerhaft ein. Da sehr viele Menschen mit Typ-1-Diabetes mit intensivierter Insulintherapie oder auch Pumpentherapie im jüngeren und mittleren Lebensalter behandelt werden, stellt sich bei geriatrischen Patienten oft die Frage, ob eine solche Therapie weiterhin sinnvoll und möglich ist.
Zu bedenken ist dabei der Vorteil von einfacheren Therapieformen für die sichere selbständige Durchführung. Mit einem einfachen Verfahren des geriatrischen Assessments wie dem Geldzähltest können kombiniert Fähigkeiten wie der Umgang mit Zahlen, die Feinmotorik, der Visus und die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit überprüft werden; ein Verfahren, welches sich deshalb auch zur Überprüfung der Fähigkeit zu einer selbstständigen, sicheren Insulintherapie eignet (14).
Frailty und Sarkopenie
Frailty und Sarkopenie sind zwei geriatrische Syndrome, denen große Bedeutung für den Erhalt von Funktionalität, Selbstständigkeit und Lebensqualität des älteren Menschen zukommt.
Frailty (Gebrechlichkeit) ist ein multidimensionales Syndrom, das durch verminderte funktionelle Reserven, eine reduzierte Widerstandskraft gegenüber Stressoren und eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber negativen gesundheitlichen Ereignissen wie Stürzen, Heimunterbringung und Mortalität gekennzeichnet ist. Frailty wird anhand von 5 Kriterien (Praxistool) diagnostiziert, die einen physischen Phänotyp beschreiben.
Unter einer Sarkopenie versteht man den altersassoziierten Verlust von Muskelmasse und Muskelfunktion, der oft mit Schwäche und Sturzgefahr einhergeht. Beide treten bei älteren Menschen mit Diabetes häufiger auf als in der Bevölkerung ohne Diabetes (15).
Der Erhalt von Autonomie ist ein wichtiges Therapieziel. Die Fremdgabe von Insulin, zum Beispiel durch einen Pflegedienst, kann eine deutliche Reduktion der Lebensqualität bewirken. Dagegenhalten muss man natürlich die Inkaufnahme von größeren Blutzuckerschwankungen und – bei starren Insulinmengen – den Verlust von Flexibilität wie relativ freier Nahrungsaufnahme. Beim betagten Patienten ist daher auch wichtig, den richtigen Punkt zu finden, an welchem eine Insulintherapie verändert werden muss – oder auch wieder beendet werden kann.
Downgrading der Insulintherapie
Manchmal müssen langjährige Therapieverfahren wie zum Beispiel eine funktionelle Insulintherapie oder eine Pumpentherapie vereinfacht werden, um den Betroffenen mit T1DM eine sicherere Diabetestherapieoption zu bieten. In anderen Fällen ist wiederum mit der Zunahme der Funktionsprobleme, zum Beispiel Ess- und Schluckstörungen, eine sehr viel komplexere Insulintherapie erforderlich. Hier spielt die individuelle Vorgehensweise, aber auch die individuelle Schulung der Pflegenden (z. B. in der Altenpflege) eine sehr wichtige Rolle (16).
Einen idealen Zeitpunkt für eine Übernahme einer Insulintherapie bei T1- und T2DM durch Familie oder einen Pflegedienst gibt es nicht. Zukünftig könnte möglicherweise auch durch den Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Apps, intelligenten Blutzuckermessgeräten oder Insulinpens eine Erfassung der tatsächlich durchgeführten Insulintherapie ermöglicht werden. Aus ethischer Sicht ist natürlich zu beachten, dass dies nicht in eine Kontrolle umschlagen darf. Es gilt zu bedenken, dass die Autonomie im Alter einen sehr hohen Stellenwert hat – insbesondere beim Selbstmanagement des Diabetes. Auch das Absetzen einer langjährig durchgeführten, aber im Alter nicht mehr zielführenden Insulintherapie kann die Lebensqualität deutlich verbessern.
DOI: 10.3238/PersDia.2021.11.05.08
Priv.-Doz. Dr. med. Andrej Zeyfang
medius Klinik Ostfildern-Ruit, Klinik für Innere Medizin, Altersmedizin, Diabetologie und Palliativmedizin
Interessenkonflikt: Autor Zeyfang besitzt Aktien des Unternehmens AstraZeneca. Er hat Beraterhonorare von Sanofi-Aventis und Lilly erhalten; Kongress- und Reisekosten von Boehringer Ingelheim; Vortragshonorare von Sanofi-Aventis, Lilly und Boehringer Ingelheim.
Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit4421
1. | Tamayo T, Brinks R, Hoyer A, et al.: Prävalenz und Inzidenz von Diabetes mellitus in Deutschland. Dtsch Ärzteblatt 2016; 113 (11): 177–82 VOLLTEXT |
2. | Bahrmann A, et al.: AWMF S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter. Diabetologie und Stoffwechsel 2018; 13 (05): 423–89, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/057-017.html. |
3. | Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes – Teilpublikation der Langfassung, 2. Auflage. Version 1. 2021. |
4. | Currie CJ, Peters JR, Tynan A, et al.: Survival as a function of HbA1c in people with type 2 diabetes: a retrospective cohort study. The Lancet 2010; 375: 481–9 CrossRef CrossRef |
5. | Braun AK, Kubiak T, Kuntsche J, et al.: SGS: a structured treatment and teaching programme for older patients with diabetes mellitus – a prospective randomised controlled multicentre trial. Age Ageing 2009; 38 (4): 390–6 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
6. | Rodriguez-Mañas L, Laosa O, Vellas B, et al.: European MID-Frail Consortium. Effectiveness of a multimodal intervention in functionally impaired older people with type 2 diabetes mellitus. J Cachexia Sarcopenia Muscle 2019; 10 (4): 721–33 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
7. | Zeyfang A, Zeeh J, Bahrmann A, Kugler JN, et al.: Diabetes mellitus im Alter. Z Gerontol Geriatr 2021; 54 (1): 61–71 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Sorli C, Warren M, Oyer D, et al.: Elderly patients with diabetes experience a lower rate of nocturnal hypoglycaemia with insulin degludec than with insulin glargine: a meta-analysis of phase IIIa trials. Drugs Aging 2013; 30 (12):1009–18 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
9. | Kambara T, Shibata R, Osanai H, et al.: Use of sodium-glucose cotransporter 2 inhibitors in older patients with type 2 diabetes mellitus. Geriatr Gerontol Int 2018; 18 (1): 108–14 CrossRef MEDLINE |
10. | Zeyfang A, Bahrmann A, Wernecke J: Praxisempfehlung der Deutschen Diabetesgesellschaft: Diabetes mellitus im Alter. Diabetologie 2020; 15: S112–S119. DO: I10.1055/a-1193–3879 CrossRef |
11. | Yaffe K, Falvey CM, Hamilton N: Health ABC Study. Association between hypoglycemia and dementia in a biracial cohort of older adults with diabetes mellitus. JAMA Intern Med 2013; 173 (14): 1300–6 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
12. | Whitmer RA, Karter AJ, Yaffe K: Hypoglycemic episodes and risk of dementia in older patients with type 2 diabetes mellitus. JAMA. 2009; 301 (15): 1565–72 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
13. | Whitmer RA, Gilsanz P, Quesenberry CP, et al.: Association of Type 1 Diabetes and Hypoglycemic and Hyperglycemic Events and Risk of Dementia. Neurology 2021; 97 (3): e275–83 CrossRef MEDLINE |
14. | Zeyfang A, Berndt S, Aurnhammer G, et al.: A short easy test can detect ability for autonomous insulin injection by the elderly with diabetes mellitus. J Am Med Dir Assoc 2012; 13 (1): 81 CrossRef MEDLINE |
15. | Rodríguez-Mañas L, Bayer AJ, Kelly M: MID-Frail Consortium. An evaluation of the effectiveness of a multi-modal intervention in frail and pre-frail older people with type 2 diabetes – the MID-Frail study: study protocol for a randomised controlled trial. Trials 2014; 15: 34 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
16. | Wernecke J, Zeyfang A (eds.): Diabetes im Alter, 2019 De Gruyter Verlag, 978–3–11–044118–5 CrossRef |
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