SUPPLEMENT: Perspektiven der Diabetologie
Diabetestherapie im Alter (2): Erfahrungen aus der Praxis


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Altersbedingte Einschränkungen und Komorbiditäten erfordern individuelle Anpassungen an die Diabetestherapie. Ein Gespräch mit Dr. med. Markus Klett, Diabetologe in Stuttgart.
Welchen Einfluss hat das Alter auf die Therapieziele?
Klett: Grundsätzlich sollten die Therapieziele im Alter an die stark ausgeprägten Bedürfnisse nach Lebensqualität, Einfachheit und Sicherheit angepasst werden. Bevor ich gemeinsam mit meinen älteren Patienten ihre individuellen Therapieziele festlege, kläre ich deshalb ab, welche Einschränkungen Hürden darstellen könnten.
Ein gut eingestellter Blutzucker bleibt zwar auch im Alter wichtig, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. Doch von einer zu strengen Blutzuckereinstellung sehe ich bei älteren Patienten ab, weil absolute HbA1c-Grenzen zu Hypoglykämien führen können, die in höherem Lebensalter besonders gefährlich sind.
Warum sind Hypoglykämien im Alter gefährlicher?
Klett: Aus meiner Erfahrung sind Hypoglykämien im Alter besonders heikel, weil die Betroffenen die Symptome häufig zu spät erkennen. Das hat mehrere Gründe: Zum einen leiden ältere Diabetespatienten häufig an Herzerkrankungen und werden mit Medikamenten behandelt, die zu einer eingeschränkten Wahrnehmung von Hypoglykämien führen können. Dies ist eine ernste Gefahr, da beispielsweise eine dauerhafte Schädigung des Gehirns oder eine Demenz die Folge sein können. Noch problematischer wird es, wenn eine akute Hypoglykämie nur mit Fremdhilfe bewältigt werden kann: In diesem Extremfall kann es zu lebensbedrohlichen Komplikationen im Gefäßbereich bis hin zum Schlaganfall oder Herzinfarkt kommen.
Beobachten Sie weitere Besonderheiten bei Senioren?
Klett: Mir fällt immer wieder auf, dass viele ältere Patienten schnell Überforderung und Stress im Umgang mit ihrem Diabetes empfinden und deshalb in Situationen geraten, die ihre Werte negativ beeinflussen. Neben den bereits erwähnten üblichen Alterserscheinungen leiden ältere Patienten darüber hinaus häufig an schwerwiegenden Komorbiditäten. Dazu können Depressionen, Nierenerkrankungen oder eine fortgeschrittene Herzinsuffizienz zählen. Diese Begleiterkrankungen führen dazu, dass sie ihre Therapieziele nicht genügend fokussieren oder akkurat umsetzen können. Deshalb ist eine regelmäßige Kontrolle der Blutzuckerwerte so wichtig.
Wie kommen Ältere mit der Kontrolle ihrer Werte zurecht?
Klett: Bei vielen meiner Patienten wurde der Typ-2-Diabetes erst in einem späten Lebensabschnitt festgestellt. Manche haben deshalb Probleme, ihre Therapie umzusetzen; sie leben ihr bisheriges Leben einfach weiter oder überschätzen ihren physischen Zustand. Besonders gefährlich wird es, wenn sie bei sportlichen Aktivitäten Kalorien verbrennen, aber im Anschluss keinen schnell verwertbaren Zucker zur Verfügung haben. Auch Leichtsinnsfehler stelle ich bei älteren Patienten immer wieder fest. So wird zwar in den meisten Fällen vor dem Essen gemessen und der Korrekturbedarf angepasst, wichtige Folgemessungen werden jedoch oft ausgelassen.
Warum ist bei Senioren die Messgenauigkeit so wichtig?
Klett: Die komplexe Medikation, die multimorbide Patienten häufig benötigen, erhöht das Risiko verfälschter Messwerte. Ich werde immer wieder von extremen Varianzen einiger Messgeräte überrascht, die mit Medikamenten interferieren. Denn ein Patient hat bei seiner Medikation keinen Spielraum, er muss sie wie vorgeschrieben einnehmen. Und auch ich als Arzt bin auf die Messgenauigkeit des Geräts angewiesen, da ich Therapieentscheidungen auf Basis der Blutzuckerwerte treffe.
Wie gehen Sie im Praxisalltag auf die besonderen Bedürfnisse älterer Patienten ein?
Klett: Wir bieten zum Beispiel spezielle Altersschulungen an. Das Praxisteam wurde hierfür extra ausgebildet und investiert viel Zeit und Geduld, um ältere Patienten umfassend über ihre Therapie zu informieren und diese an ihre individuellen Bedürfnisse anzupassen. Besonders wichtig ist die Dokumentation der Schulung: Die Patienten erhalten nach jeder Einweisung eine schriftliche Zusammenfassung, um Amnesien vorzubeugen. Natürlich ist es dabei wünschenswert, die Selbstständigkeit eines älteren Patienten soweit wie möglich zu bewahren. Um hier allerdings kein Risiko einzugehen, halte ich es für essenziell, dass neben dem Patienten auch eine Bezugsperson geschult wird. Das kann ein enges Familienmitglied oder eine Pflegekraft sein – wichtig ist nur, dass die Person den Therapieplan ebenfalls im Blick hat, damit im Alltag alles glatt geht.
DOI: 10.3238/PersDia.2021.11.05.09 zyl