ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2021Gute Versorgung: Biografische und kulturelle Vielfalt durch gute Anamnese
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Erstaunlich und erfreulich, dass ein Beitrag zur Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Versorgung im Gesundheitswesen tatsächlich ohne das Stichwort „Digitalisierung“ auskommt. Das dürfte auch kein Zufall sein, behandelte der Text doch die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft und biografischer Brüche, etwa durch Migrationserfahrungen. Letztere dürften zukünftig auch eine zunehmende Rolle spielen, bedarf Deutschland doch allein wegen des Fachkräftemangels der Zuwanderung. Klimawandel und Ressourcenprobleme werden außerdem Flüchtlingsströme verstärken. Mehr alte Menschen, mehr Zuwanderung sowie andere Probleme im Gesundheitswesen, wie die Abhängigkeit der Gesundheit vom Einkommen oder psychische Erkrankungen – all diese Gegebenheiten werden eben nicht durch mehr Digitalisierung zu bewältigen sein, schon gar nicht durch eine Zwangsvernetzung mittels Telematikinfrastruktur und die dadurch begünstigte Callcenter-Medizin, auf die wir zusteuern. Bei ihr wird es dann, wie mit kurzen Gesprächszeiten im Praxissprechzimmer heute schon, umso mehr nur noch um das kurze Abklären von Symptomen gehen, sicher aber nicht um biografische Entwicklungen oder kulturelle Besonderheiten. Die Sensibilität dafür wird durch zunehmende Technisierung der Arzt-Patient-Interaktion sicher nicht befördert. Daher sind zu biografischer und kultureller Vielfalt gar nicht unbedingt große Studien nötig (die hier besprochene erschien auch methodisch etwas fragwürdig, indem die Zustimmung zu vorgelegten Sätzen abgefragt wurde). Die gute alte ärztliche Kunst einer in Ruhe durchgeführten ausführlichen Anamnese würde zu Biografie und Kultur schon erheblich weiterhelfen. Diese Kunst aber droht verloren zu gehen. Denn dafür aber braucht es Ruhe, Zeit und Vertrauen, nicht unbedingt neue Weiterbildungsmodule oder „Kultur- und Sprachmittler“ in der Praxis, von Fragen zur praktischen Umsetzbarkeit noch ganz abgesehen!

Dr. Andreas Meißner, 81541 München

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