ArchivDeutsches Ärzteblatt PP11/2021Suchtkranke Menschen: Leiden an Scham und Schuld

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Suchtkranke Menschen: Leiden an Scham und Schuld

Goddemeier, Christof

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Beim Suchtforum im baden-württembergischen Zentrum für Psychiatrie Emmendingen wurde vor allem das Schulderleben in der Behandlung Suchterkrankter thematisiert.

Was macht Sucht so mächtig und oft schwer behandelbar? Eine wichtige Rolle spielt dabei offenbar das Erleben von Scham und Schuld. Dabei ist das Leiden an Schuld und Scham bisher eher ein Thema für die Seelsorge – in Beratung und Therapie hat es keinen festen Platz. Gründe genug, um sich beim diesjährigen Suchtforum im Zentrum für Psychiatrie Emmendingen mit beiden Affekten zu beschäftigen.

Auf der Traumastation ihrer Klinik komme Scham und Schuld eine wesentliche Bedeutung zu, sagte die Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. med. Christel Lüdecke, Chefärztin am Asklepios Fachklinikum Göttingen, in ihrem Hauptvortrag. 20 Prozent der Alkoholabhängigen und 50 Prozent der polyvalent Abhängigen weisen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf. Dabei handelt es sich laut Lüdecke vor allem um länger dauernde, wiederholte Traumata (Typ II), die durch Menschen verursacht werden, also nicht schicksalhaft sind. Umgekehrt erhöht eine PTBS die Wahrscheinlichkeit für einen gestörten Substanzkonsum deutlich. Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass Opfer von Gewalt, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch dazu neigen, sich selbst die Schuld daran zuzuweisen (sogenannte Täterintrojekte [1]).

Universelle Basisgefühle

Scham und Schuld sind universelle Basisgefühle (2, 3). Laut Lüdecke handelt es sich um „selbstbewertende, selbstreflexive Emotionen“. Dabei entwickelt Scham sich bereits im zweiten, ein Gefühl für Schuld im vierten Lebensjahr. Lüdecke charakterisiert Scham als „externalisierten Affekt“. Sie sei prosozial, fungiere etwa als „Entwicklungsmotivator“. Scham werde körpernah und schmerzlich erlebt. Lüdecke identifiziert unterschiedliche Formen, etwa existenzielle, Abhängigkeits-, Intimitäts- und Kompetenzscham. Dem gegenüber ist Schuld ein „innerpsychischer Affekt“, kognitiver und weniger körperbezogen. Anders als bei der Scham findet sich bei Schuld kein spezifisches physiologisches Muster.

Irrationale Schuldgefühle

Sigmund Freud ordnete die Scham dem nicht erreichten Ich-Ideal zu, Schuld resultiere aus dem Konflikt zwischen Ich und Über-Ich. Einwirkungen des Über-Ich auf das Ich machen sich als konstruktiv-regulierende oder irrationale, unrealistische Schuldgefühle bemerkbar (4). Schulderleben setzt das Erkennen einer Verantwortlichkeit für eine Normverletzung voraus. Mit Hirsch unterscheidet Lüdecke Basis- und Überlebenden-Schuldgefühl sowie Schuldgefühle durch Streben nach Autonomie und Erfolg. Schuldgefühlen stehen Schulderleben und reale Schuld von Tätern gegenüber. Dabei ist Lüdecke zufolge eine gewollte oder fahrlässige unethische Handlung immer etwas Höchstpersönliches, eine Kollektivschuld kann es nicht geben. Sie benennt „Schuldidentitäten und -sozialisierungen“, etwa dass ein Soldat im Krieg tötet und in Friedenszeiten wegen des gleichen Verhaltens zur Rechenschaft gezogen wird. Hirsch zufolge besteht die Eigenheit der Schuld darin, dass sie sich selbst nähre, sie ist also ein dauerhaftes Gefühl.

Was bedeutet das für die Therapie? Lüdecke unterscheidet die Basisgefühle Scham und Schuld von den dysfunktionalen Affekten Schamempfinden und Schuldgefühl. Diese sind häufig tief verankert, bei entsprechenden Triggern ziehen die Betroffenen sich zurück. Auch reale Schuld kann sich in der Behandlung dysfunktional auswirken. Suchtspezifische Schuldgefühle sind etwa die Annahme, die Sucht sei selbst verschuldet und keine Erkrankung. Suchterkrankte sind „ewige Verlierer gegen sich selbst“: Zwar gehört der Suchtmittelrückfall zu den Symptomen einer Abhängigkeitserkrankung, doch Rückfälle sind bei den Betroffenen „extrem schambesetzt“. Hier hilft laut Lüdecke ein Setting, das Scham nicht induziert, etwa dadurch, dass man Person und Krankheit trennt. Dann gehört der Rückfall zur Krankheit und nicht zur Person, was sich entlastend auswirke. Zudem lassen sich Verantwortung und Schuld voneinander trennen. Dann kann eine suchtkranke Person Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, ohne an ihrer Sucht schuld zu sein (5). Lüdecke empfiehlt, Schulderleben und reale Schuld in der Therapie anzuerkennen. Mit der Traumatherapeutin Luise Reddemann plädiert sie dafür, „den Blick zu wenden und die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben“. Christof Goddemeier

1.
Peichl J: Innere Kritiker, Verfolger und Zerstörer. Ein Handbuch für die Arbeit mit Täterintrojekten. Stuttgart: Klett Cotta, 5. Auflage 2019.
2.
Ekman P: All emotions are basic. In: Ekman P, Davidson RJ (eds.), The nature of emotion. Oxford: Oxford University Press 1994.
3.
Dornes M: Gedanken zur frühen Entwicklung und ihre Bedeutung für die Neurosenpsychologie. In: Forum der Psychoanalyse 1995; 11: 27–49.
4.
Hirsch M: Schuld und Schuldgefühl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 7. Auflage 2017.
5.
Wagner J: Engagement für Menschen, die ohne Schuld in Not geraten sind (…) In: psycho-logik, Bd. 15, Eigen- und Fremdverantwortung. Freiburg: Karl Alber Verlag 2021.
1.Peichl J: Innere Kritiker, Verfolger und Zerstörer. Ein Handbuch für die Arbeit mit Täterintrojekten. Stuttgart: Klett Cotta, 5. Auflage 2019.
2.Ekman P: All emotions are basic. In: Ekman P, Davidson RJ (eds.), The nature of emotion. Oxford: Oxford University Press 1994.
3.Dornes M: Gedanken zur frühen Entwicklung und ihre Bedeutung für die Neurosenpsychologie. In: Forum der Psychoanalyse 1995; 11: 27–49.
4.Hirsch M: Schuld und Schuldgefühl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 7. Auflage 2017.
5.Wagner J: Engagement für Menschen, die ohne Schuld in Not geraten sind (…) In: psycho-logik, Bd. 15, Eigen- und Fremdverantwortung. Freiburg: Karl Alber Verlag 2021.

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