ArchivDeutsches Ärzteblatt49/2021Präferenzen der Bevölkerung für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung

MEDIZIN: Kurzmitteilung

Präferenzen der Bevölkerung für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung

Population preferences for the care of family members in the same primary care practice—results of a representative population survey

Kalitzkus, Vera; Wilm, Stefan; Kotz, Daniel; Kastaun, Sabrina

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Die Familie eines Patienten oder einer Patientin spielt in jeden ärztlichen Kontakt mit hinein, auch wenn sie nicht physisch anwesend ist. Die Allgemeinmedizin zeichnet sich dadurch aus, dass mehrere Familienmitglieder in derselben Hausarztpraxis versorgt werden können – langfristig, kontinuierlich und unabhängig von ihren jeweiligen Beschwerdebildern (1). Dies hat Vorteile, wie zum Beispiel gute Kenntnis der biologischen und psychosozialen Zusammenhänge und etwaiger Belastungen durch familiäre Ereignisse, was vor allem in der longitudinalen Begleitung von Familien und ihren einzelnen Mitgliedern bedeutsam ist (2).

Bisher liegen keine repräsentativen Daten vor, ob sich die Menschen in Deutschland eine Versorgung ihrer Familienmitglieder in derselben Hausarztpraxis wünschen oder ob das traditionelle Modell der die Familie über Generationen begleitenden Hausarztpraxis überholt ist. Diese Arbeit beantwortet auf der Grundlage einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung daher folgende Fragen: Wie hoch ist die Präferenz der in Deutschland lebenden Bevölkerung, mehrere beziehungsweise alle Familienmitglieder in derselben Hausarztpraxis versorgen zu lassen? Sind soziodemografische Personenmerkmale, Haushaltsnettoeinkommen, städtisches/ländliches Setting, Migrationshintergrund oder Haushaltsgröße unabhängig voneinander mit dieser Präferenz assoziiert?

Methoden

Einer repräsentativen Bevölkerungsstudie (Studienregisternummer: DRKS00017157) (3) wurde im August/September 2020 eine Frage zur Präferenz der Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis beigefügt (n = 2 017 Befragte im Alter von 14–96 Jahren). Diese fortlaufende Studie erhebt Daten mittels persönlich-mündlicher Interviews. Die Auswahl der Befragten erfolgte über eine Kombination aus geschichteter, mehrstufiger Zufallsstichprobe und Quotenstichprobe (Details unter www.osf.io/s2wxc/). Ein detaillierter Analyseplan der jetzigen Studie wurde vor der Auswertung veröffentlicht (www.osf.io/yq3xm/).

Die Präferenz wurde mit folgender Frage gemessen: „Hausärztinnen und Hausärzte versorgen die ganze Bevölkerung, einzelne Personen genauso wie Familien. Wenn Sie entscheiden können – wie möchten Sie Ihre Hausarztpraxis auswählen?“

Die Antwortoptionen waren:

  • (1) Ich möchte, dass viele oder alle Mitglieder meiner Familie in einer Hausarztpraxis versorgt werden.
  • (2) Ich möchte, dass die Mitglieder meiner Familie in verschiedenen Hausarztpraxen versorgt werden.
  • (3) Es ist mir egal, ob meine Familienmitglieder in einer Hausarztpraxis oder in verschiedenen Hausarztpraxen versorgt werden.

Zusammenhänge zwischen Personenmerkmalen und dieser Präferenz (dichotomisiert: Antwortoption 1 = in einer Praxis versus 2–3 = in verschiedenen Praxen/nicht wichtig) wurden mittels multivariabler logistischer Regression exploriert. Prävalenzdaten werden für die Gesamtbevölkerung gewichtet dargestellt (ngewichtet = 2 000). Die Versorgung von Kindern/Jugendlichen in Hausarztpraxen wurde nicht explizit erfragt.

Ergebnisse

Während 45,6 % der Bevölkerung mit vielen/allen Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis versorgt werden möchten, gaben 45,3 % an, dass es ihnen nicht wichtig sei, ob ihre Familienmitglieder in einer Hausarztpraxis oder in verschiedenen Hausarztpraxen versorgt werden. Lediglich 6,5 % wünschten explizit die Versorgung ihrer Familienmitglieder in verschiedenen Hausarztpraxen (2,5 % machten keine Angabe). Die Präferenz für die Versorgung mehrerer/aller Familienmitglieder in derselben Praxis war nicht signifikant korreliert mit städtischem oder ländlichem Setting, Geschlecht und Migrationshintergrund der Befragten. Ein höheres monatliches Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf war assoziiert mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit für die Präferenz der Versorgung mehrerer/aller Familienmitglieder in einer Hausarztpraxis, unabhängig von den anderen genannten Personenmerkmalen. Dagegen präferierten Personen aus größeren Haushalten und verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen gegenüber unverheirateten Personen (ledig, geschieden, verwitwet) diese Versorgung mit höherer Wahrscheinlichkeit (Tabelle).

Zusammenhang zwischen Personenmerkmalen und der Präferenz für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis (multivariables logistisches Regressionsmodell, ungewichtetes n = 2 017*1)
Tabelle
Zusammenhang zwischen Personenmerkmalen und der Präferenz für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis (multivariables logistisches Regressionsmodell, ungewichtetes n = 2 017*1)

Diskussion

Die Studie ermöglicht durch ihre repräsentative Stichprobe erstmals einen Einblick in die Präferenz der Bevölkerung in Deutschland für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis. Der Wunsch nach der Versorgung von vielen/allen Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis ist hoch, unabhängig vom Wohnort im städtischen/ländlichen Bereich oder von einem etwaigen Migrationshintergrund. Es ist davon auszugehen, dass bei freier Arztwahl ein großer Teil der Bevölkerung gemäß dieser Präferenz für sich die Versorgung der Familienmitglieder in derselben Hausarztpraxis wählen würde. Die Präferenz der Versorgung in derselben Hausarztpraxis von Personen aus Haushalten mit niedrigerem Einkommen und aus größeren Haushalten lässt möglicherweise auf erhöhten Versorgungsbedarf sozioökonomisch schlechter gestellter Familien und/oder Familien mit Kindern schließen. Die Präferenz der Versorgung in einer Hausarztpraxis von Personen aus größeren Haushalten sowie von verheirateten oder in eingetragener Partnerschaft lebenden Personen könnte organisatorische Gründe haben, ermöglicht aber dennoch die Versorgung der Familie im engeren familienmedizinischen Sinne.

Da nur je ein Mitglied eines Haushalts befragt wurde, kann keine Aussage über die Präferenz der anderen Familienmitglieder getroffen werden. Auch konnten nicht alle potenziellen Einflussfaktoren auf die Präferenz erhoben werden (zum Beispiel Vorliegen einer chronischen Krankheit, häusliche Pflege). Die Datenerhebung fiel in die Corona-Pandemiezeit mit ihren zusätzlichen Belastungen für Familien, wodurch sich die Präferenz zur Versorgung in einer Hausarztpraxis möglicherweise erhöhte.

Resümee

Die Allgemeinmedizin hat durch gleichzeitige Behandlung mehrerer Familienmitglieder in derselben Praxis im Vergleich zu allen anderen Versorgungsstrukturen das Potenzial, eine generationenübergreifende und den sozialen Kontext einbeziehende Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten (4). Fast die Hälfte der Bevölkerung zeigt mit ihrer Präferenz für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis den expliziten Wunsch einer zentralen ärztlichen Anlaufstelle für Familien. Dies ist ein hoher Anteil der in Hausarztpraxen versorgten Patienten, selbst wenn es aufgrund zunehmender Mobilität und unterschiedlicher Wohnorte von Familienmitgliedern oft nicht möglich sein wird, dass die Versorgung tatsächlich in derselben Hausarztpraxis erfolgt. Die Umsetzung dieses Potenzials für die primärmedizinische Versorgung hängt jedoch von förderlichen Rahmenbedingungen ab, wie beispielsweise:

  • Vernetzungsarbeit auf Gemeinde-/Quartiersebene, auch mit strukturellen Erleichterungen neben dem Kollektivvertrag (4)
  • Anreizen für eine Haltung der Verantwortlichkeit der Teampraxis durch Vergütungsziffern für längere Gespräche oder Familienkonferenzen
  • angemessener Honorierung aller beteiligten Professionen für interdisziplinäre Fallkonferenzen zur Koordination der medizinischen Versorgung (5)
  • niedrigschwelligen, räumlich und zeitlich für Familien geeigneten Angeboten von Sprechzeiten.

Vera Kalitzkus, Stefan Wilm, Daniel Kotz, Sabrina Kastaun

Institut für Allgemeinmedizin, Forschungsschwerpunkt Familienmedizin, Centre for Health and Society, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Kalitzkus, Wilm), Stefan.Wilm@med.uni-duesseldorf.de

Institut für Allgemeinmedizin, Forschungsschwerpunkt Suchtforschung und klinische Epidemiologie, Centre for Health and Society, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Kotz, Kastaun)

Institut für Allgemeinmedizin, Forschungsschwerpunkt Patient-Arzt-Kommunikation, Centre for Health and Society, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Kastaun)

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 3. 8. 2021, revidierte Fassung angenommen: 22. 10. 2021

Zitierweise
Kalitzkus V, Wilm S, Kotz D, Kastaun S: Population preferences for the care of family members in the same primary care practice—results of a representative population survey. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 844–5. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0367

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Kalitzkus V, Vollmar HC: Familienmedizin in der Hausarztpraxis. Eine Delphi-Studie zur Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsdefinition. Z Allg Med 2016; 92: 208–12.
2.
Kalitzkus V, Wilm S: Familie in der Medizin – Familienmedizin. In: Wonneberger A, Weidtmann K (eds.): Familienwissenschaft. Grundlagen und Überblick. Heidelberg, Springer: 2017; 417–50 CrossRef
3.
Kastaun S, Brown J, Brose LS, et al.: Study protocol of the German Study on Tobacco Use (DEBRA): a national household survey of smoking behaviour and cessation. BMC Public Health 2017; 17: 378 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Wilm S: Accountable care: Eine Perspektive für das deutsche Gesundheitswesen? In: Baas J (ed.): Perspektive Gesundheit 2030. Berlin, MWV: 2021; 251–8.
5.
DEGAM – Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin: DEGAM-Zukunftspositionen. Allgemeinmedizin – spezialisiert auf den ganzen Menschen. Frankfurt am Main, 2012. www.degam.de/files/Inhalte/Degam-Inhalte/Ueber_uns/Positionspapiere/DEGAM_Zukunftspositionen.pdf (last accessed on 25 June 2021).
Zusammenhang zwischen Personenmerkmalen und der Präferenz für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis (multivariables logistisches Regressionsmodell, ungewichtetes n = 2 017*1)
Tabelle
Zusammenhang zwischen Personenmerkmalen und der Präferenz für die Versorgung von Familienmitgliedern in derselben Hausarztpraxis (multivariables logistisches Regressionsmodell, ungewichtetes n = 2 017*1)
1.Kalitzkus V, Vollmar HC: Familienmedizin in der Hausarztpraxis. Eine Delphi-Studie zur Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsdefinition. Z Allg Med 2016; 92: 208–12.
2.Kalitzkus V, Wilm S: Familie in der Medizin – Familienmedizin. In: Wonneberger A, Weidtmann K (eds.): Familienwissenschaft. Grundlagen und Überblick. Heidelberg, Springer: 2017; 417–50 CrossRef
3.Kastaun S, Brown J, Brose LS, et al.: Study protocol of the German Study on Tobacco Use (DEBRA): a national household survey of smoking behaviour and cessation. BMC Public Health 2017; 17: 378 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Wilm S: Accountable care: Eine Perspektive für das deutsche Gesundheitswesen? In: Baas J (ed.): Perspektive Gesundheit 2030. Berlin, MWV: 2021; 251–8.
5.DEGAM – Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin: DEGAM-Zukunftspositionen. Allgemeinmedizin – spezialisiert auf den ganzen Menschen. Frankfurt am Main, 2012. www.degam.de/files/Inhalte/Degam-Inhalte/Ueber_uns/Positionspapiere/DEGAM_Zukunftspositionen.pdf (last accessed on 25 June 2021).

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote