MEDIZINREPORT
COVID-19-Impfung unter 12 Jahren: Die Impfentscheidung für Kinder soll wohl individuell bleiben


Nach der bedingten Empfehlung der STIKO zur Impfung der 5 bis 11 Jahre alten Kinder können auf Wunsch auch gesunde Kinder geimpft werden. Die komplexe Nutzen-Risiko-Abwägung bleibt Eltern und Kinderärzten überlassen. Fest steht: Der Eigennutzen für die Kinder selbst ist gering.
Ob alle Kinder gegen SARS-CoV-2 geimpft werden sollten, war schon in der Altersgruppe der 12–17-Jährigen umstritten, und ist es bei den 5–11-Jährigen mit ihrer niedrigen Krankheitslast erst recht. Die Ständige Impfkommission STIKO hat am 9. Dezember 2021 eine Impfung von Kindern mit Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf oder Angehörigen mit hohem Risiko empfohlen. Außerdem könne nach individueller Aufklärung bei entsprechendem Wunsch gesunden jungen Kindern ohne Risikofaktoren ein Impfangebot gemacht werden.
Seit geraumer Zeit wird das Thema kontrovers diskutiert (1, 2, 3). Die STIKO hatte daher unter hohem gesellschaftlichem und politischem Druck folgende Punkte abzuwägen.
- Die 7-Tage-Inzidenzen sind derzeit bei jungen Kindern die höchsten aller Altersgruppen, sie erkranken selbst selten.
- Die 5–11-Jährigen, um die es geht, haben von allen unter 18 die geringsten Hospitalisierungsraten.
- Die Immunogenität der für Kinder zugelassenen Impfstoffe kann überzeugen in puncto Schutz vor schwerer Erkrankung; die Impfreaktionen sind akzeptabel (Kasten).
- Für die fundierte Beurteilung der Sicherheit reichen die Daten nicht.
- Nebenwirkungen wie Myokarditis sind selten, aber so wie Langzeitschäden nicht auszuschließen.
- Gleichzeitig sind die Nebenwirkungen gegen Folgen einer COVID-19-Erkrankung zu bedenken.
- Hinzu kommt, dass die Abschätzung von Effekten der Impfung von jungen Kindern auf die Pandemie anhand von Transmissionsraten schwerfällt, da belastbare Modellierungen hierfür fehlen.
Zulassung und Empfehlung
Die beiden Vakzine von BioNTech/Pfizer (Comirnaty®) und Moderna (Spikevax®) werden derzeit bei Kindern im Alter von 6 Monaten bis 12 Jahren evaluiert. Kontrollierte Studien umfassen weniger als 4 000 Verum-Probanden und zielen auf die Endpunkte Immunogenität, Wirksamkeit gegen COVID-19 und zeitnahe Impfnebenwirkungen ab.
Die Nachbeobachtungszeit der aktuellen Publikation zum BioNTech-Impfstoff bei 5–11-Jährigen liegt unter 2 Monaten (4). Prof. Dr. med. Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz und Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), sagt dazu: „Um die Immunogenität des Impfstoffs zu beurteilen, reichen die Daten schon aus. Um die Sicherheit des Impfstoffs zu beurteilen, ist das natürlich völlig unzulänglich.“ Man sei im Augenblick in einem Dilemma, was das Thema Herzmuskelentzündungen nach Impfung angeht. Die Sicherheit sei erst bei breitem Einsatz der Impfung oder nach Auswertung von Daten aus den USA beurteilbar (5).
Dort sollen bisher rund fünf Millionen 5–11-Jährige mit Comirnaty geimpft worden sein. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte dem Impfstoff am 29. Oktober 2021 eine Notfallzulassung für diese Altersgruppe erteilt – mit der Begründung, dass der individuelle Nutzen größer sei als mögliche Risiken, wenngleich COVID-19 bei jüngeren Kindern meist milde verlaufe.
Skepsis sogar bei Impfwilligen
Die Situation in den USA sei jedoch nicht auf Deutschland übertragbar, wendet Zepp ein, weil die Krankheitslast der Kinder in den USA ungefähr 10 Mal so hoch sei wie hierzulande. „Zum Beispiel sind ganz bestimmte ethnische Gruppen zu 80 % betroffen. Über 60 % der betroffenen Kinder leiden an Adipositas.“ Kindliche Adipositas steigert das Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf mit einer Odds Ratio (OR) von 3,66–3,39 deutlich (6). Der Anteil an hospitalisierten Kindern ist in den USA sehr hoch. Insofern könne man dort zu einer anderen Akuteinschätzung kommen, so Zepp.
Unter US-Experten blieb bis zuletzt umstritten, ob die Impfung allen Kindern zwischen 5 und 11 Jahren empfohlen werden sollte oder nur besonderen Gruppen. Nach einem Bericht der Deutschen Welle sind Eltern in den in Sachen Impfbereitschaft als vorbildlich geltenden Ländern USA und Israel ebenso gespalten wie hierzulande (7).
In Deutschland ist der starke Zuwachs der Infektionsraten in der 4. Welle bei Kindern und Jugendlichen ein Novum. Sie sind derzeit in der Statistik des Robert Koch-Institutes am stärksten von Infektionen, allerdings nicht von Erkrankungen betroffen (8). Doch weil Kinder und Jugendliche die einzige Alterskohorte sind, die regelhaft ohne Anlass getestet wird, erfasst die Statistik permanent sehr viele asymptomatischer „Fälle“.
Krankheitslast der Kinder gering
Es ist evident, dass SARS-CoV-2-Infektionen im Kindes- und Jugendalter häufig asymptomatisch oder mild verlaufen und nur selten einer stationären Therapie bedürfen (9, 10). Daran erinnern die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in ihrer aktuellen Stellungnahme (11). Belegen kann es die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) im COVID-19-Survey. Danach wurden 2 250 stationäre Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren mit SARS-CoV-2-Direktnachweis gemeldet (Stand 12. Dezember 2021) (12).
Hiervon waren 26 % im Alter von 12–17 Jahren und nur 16 % im Alter von 5–11. In absoluten Zahlen: Von den in Rede stehenden geschätzt 6 Millionen Kindern im Alter von 5–11 Jahren kamen seit Pandemiebeginn um die 337 Kinder (0,006 %) mit SARS-CoV-2-Nachweis ins Krankenhaus – noch dazu zu einem Teil nicht einmal wegen dieser Diagnose). Da in den COVID-19-Survey der DGPI nur vollständig dokumentierte Verläufe eingehen, ist die Zahl gegenüber den Meldezahlen des RKI geringer.
Die Diskrepanz zwischen Inzidenzen und Krankheitslast illustriert auch der Umstand, dass derzeit die Rate an Hospitalisierungen bei Kindern nur halb so hoch liegt wie im November/Dezember letzten Jahres, als die Inzidenzen nur ein Zehntel der jetzigen betrugen: „Wir haben im Augenblick keinen Hinweis auf eine schwere Krankheitsaktivität in dieser betreffenden Altersgruppe, um die es hier geht“, sagte Prof. Dr. med. Philipp Henneke, Leiter der Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg, bei einem Pressebriefing Ende November.
Die Kliniken sähen derzeit viel schwerere Verläufe durch Infektionen mit dem respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) als durch SARS-CoV-2. Für die niedergelassenen Pädiater sei COVID-19 eine milde Erkrankung. Das Hospitalisierungsrisiko wird mit unter 2 % angegeben. Von diesen müssen wiederum 2 % bis zu 13 % intensiv behandelt werden (USA – 33 %) (10).
Das DIVI-Intensivregister meldete bei Kindern am 12. Dezember 31 COVID-19-Fälle, gegenüber fast 5 000 bei Erwachsenen (13). Erst recht sind Todesfälle infolge von COVID-19 bei Kindern glücklicherweise sehr selten. Unter den mittlerweile über 100 000 an oder mit COVID-19 Verstorbenen sind laut RKI bislang 35 validierte COVID-19-Todesfälle bei unter 20-Jährigen übermittelt worden. Von ihnen hatten 25 bekannte Vorerkrankungen (14). Britische Autoren, die zwischen „an“ und „mit“ COVID-19-Verstorbenen differenziert haben, geben die allein auf SARS-CoV-2 zurückzuführende Mortalität bei Kindern und Jugendlichen mit 0,2/100 000 an (0,0002 %) (15).
Wenngleich das Risiko akuter schwerer Erkrankung bei SARS-CoV-2-infizierten Kindern sehr gering ist, gewisse Folgeerkrankungen sind im Auge zu behalten. Eine ist das Pädiatrische Inflammatorische Multiorgansyndrom (PIMS), auch als multisystem inflammatory syndrome in children (MIS-C) bezeichnet. Es tritt bei etwa 0,1 % der Kinder 2–6 Wochen nach der Infektion auf und führt sie häufig auf die Intensivstation. In der Regel erholen sich die Kinder binnen 6 Monaten nach der Behandlung. Die Pathogenese von PIMS ist ungeklärt, aber auch die Frage, ob eine Impfung das Syndrom verhindert (10). Diskutiert wird sowohl ein Schutz durch die Impfung als auch das Gegenteil, eine Induktion von PIMS durch impfinduzierte Antikörper im Rahmen von Autoimmunprozessen (16).
Impfnutzen für Kinder begrenzt
Zweitens ist auch Long-COVID bei Kindern zu bedenken. Die Studienlage dazu sei widersprüchlich, schon weil es schwierig ist, zwischen „Long-Lockdown“ und Long-COVID zu unterscheiden, betont zum Beispiel die DGKJ (11). Bei Kindern ist Long-COVID wahrscheinlich seltener als bei Erwachsenen, und in der Altersgruppe unter 12 Jahren wiederum noch einmal seltener als bei älteren (17).
„Es gibt für das einzelne zu impfende Kind wenig zu gewinnen durch den Impfstoff, und deswegen muss dieser Impfstoff wirklich über jeden Zweifel erhaben sein, was die Sicherheit angeht“, betont Henneke.
Inzidenz und Krankheitslast driften also gerade bei jungen Kindern viel weiter auseinander als bei Erwachsenen und älteren Jugendlichen. Daher müsse die Abwägung über Nutzen und Risiken besonders sorgfältig erfolgen, forderten unisono kinderärztliche und pädiatrisch-infektiologische Fachverbände als Reaktion auf die Notfallzulassung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs für diese Altersgruppe (18). Der offensichtlich geringe Eigennutzen der Impfung gerade bei jungen Kindern wird von verschiedenen pädiatrischen Autoren hervorgehoben, die in Fachpublikationen für Vorsicht und Zurückhaltung hinsichtlich einer Impfempfehlung plädieren (4, 5, 6). Die Notwendigkeit eines Impfschutzes werde allenfalls von den Inzidenzen und von den Risiken für einen schweren Verlauf bestimmt (3).
Entsprechende Risikofaktoren, die den Impfnutzen steigerten, bestehen in metabolischen (Adipositas, schlecht eingestellter diabeticher Stoffwechsellage) neurologischen, respiratorischen und malignen Erkrankungen sowie Schädigungen anderer potenziell betroffener Organe, etwa Herz und Nieren (19). Laut Henneke zählen auch Kinder mit Trisomie und natürlich Immunschwäche im weiteren Sinne zur heterogenen Gruppe der Risikokinder, die von einer Impfung profitieren würden.
Wo der Eigennutzen für eine breite Impfempfehlung nicht hinreicht, bleibt das Argument des Schutzes anderer Gruppen in der Pandemie. Infizierte Kinder, junge eingeschlossen, können zwar grundsätzlich das Virus weitergeben, insbesondere ansteckende Varianten. Dies passiert aber offenbar um so seltener, je jünger die Kinder sind (20, 21). Menschen unter 26 zählen praktisch nie zu den „Superspreadern“, deren Merkmal es ist, das sie infolge einer Barrierestörung der Schleimhaut immens viele Viruspartikel ausatmen; der Aerosolausstoß korreliert mit Alter und BMI (22). Die Übertragung in Schulen spielt keine herausragende Rolle, sie folgt den Inzidenzen in der Umgebung und die Indexfälle sind häufig Erwachsene (10). Die Übertragungsrate des Virus aus der Altersgruppe der 5–11-Jährigen heraus ist geringer als bei Erwachsenen, sagen pädiatrische Ärzte und Infektiologen in einer gemeinsamen Stellungnahme; Forderung nach Impfungen der jungen Kinder zur Verhinderung eines allgemeinen Lockdowns lehnen sie als nicht verhältnismäßig ab (23).
Impfanstrengung fokussieren
Kinder werden von einem an COVID-19 erkrankten Mitglied der Familie deutlich seltener angesteckt (34 %) als Erwachsene (58 %), zeigte die COVID-19-Familienstudie in Baden-Württemberg. Die 6–14-jährigen entwickelten überdies nach einer Infektion eine robustere und nachhaltigere Immunantwort als die Älteren – selbst wenn diese symptomlos verlief. Kinder sind zunächst und vermutlich längere Zeit immun (24). Sie würden damit ein Kollektiv darstellen, das länger als geimpfte Personen zur Herdenimmunität beitrüge. Dementsprechend plädierte zum Beispiel Zepp dafür, weiterhin die Impfanstrengungen auf diejenigen Menschen zu fokussieren, die auch die schweren Verläufe und die Hospitalisierungen ausmachen: Erwachsene und Alte.
Hier widerspricht auch die Epidemiologie nicht, deren Modellierungen versuchen, den Einfluss der Impfungen einer Altersgruppe auf andere Kohorten und den Pandemieverlauf zu beschreiben. Laut Dr. med. Berit Lange, Leiterin der Klinischen Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, geht man bei einer Impfung der 12–17-Jährigen von einer Reduzierung der Krankheitslast bei den Erwachsenen um 5–10 % aus, bei den 12–17-Jährigen selbst soll sie um 50 % betragen. Indirekt habe die Impfung einen positiven Effekt auch auf das Infektionsgeschehen der jüngeren Kontaktpersonen.
Entsprechend könnte die Impfung der 5–11-Jährigen einen positiven Einfluss auf die Erkrankungen bei den noch jüngeren Kindern haben, vermutet Lange (5). Es sind in der Tat die 1–2-Jährigen, welche die Hälfte aller hospitalisierten Kinder im DGPI-Survey ausmachen – eine zahlenmäßig kleine, aber gefährdete Gruppe (12). „Relevant ist aus meiner Sicht, dass eine Infektion für die meisten ungeimpften Kinder im nächsten Winter wahrscheinlich ist und für einen relevanten Anteil in den Regionen mit hohen Infektionsdynamiken auch in den nächsten Wochen. Denn das ist ja die Entscheidung, die es individuell und gesellschaftlich zu treffen gilt – Impfung trotz noch fehlender vollständiger Sicherheit oder relevantes Risiko einer Infektion“, fasst Lange zusammen.
Eine Frage der Sicherheit
Wenn die primäre Krankheitslast gering ist, die Impfung also eher aus Gründen des Gemeinschaftsschutzes erwogen würde, müsse ihre Sicherheit auch nach Ansicht des des STIKO-Vorsitzenden Prof. Dr. med. Thomas Mertens über jeden Zweifel erhaben sein. Die aktuelle Datenlage gebe keine ausdrückliche Empfehlung her. „Wir wissen mittlerweile alle hinlänglich, dass die ungefähr 1 500 Kinder, die in der Zulassungsstudie geimpft worden sind, keinen Ausschluss von seltenen, geschweige denn sehr seltenen Nebenwirkungen möglich machen. Das ist unbestreitbar“, erklärte Mertens öffentlich, als er die bedingte Impfempfehlung für 5–11-Jährige begründete. Auf der anderen Seite habe man den Eltern, die die Impfung wünschten – „aus welchen Gründen auch immer“ –, dies nicht verwehren wollen.
Dabei geht es der STIKO nicht um banale Lokalreaktionen, sondern um systemische Nebenwirkungen vom Kaliber einer Myokarditis oder Thrombose und um potenziell weitere bislang unerkannte Sequelae. Bekannt ist, dass nach den beiden mRNA-Impfungen als seltene Nebenwirkung Myokarditiden und Perikarditiden im Vergleich zur Grundinzidenz in der Bevölkerung häufiger auftreten. Typischerweise kommt es innerhalb von wenigen Tagen nach der Impfung zu ersten Beschwerden (25).
In der Tat war dies in den Zulassungsstudien nicht aufgefallen – weder in der Ende 2020 publizierten Comirnaty-Studie mit über 46 000 Teilnehmern ab 16 Jahren (und 22 000 Geimpften), noch in der Folgestudie mit 12–15-Jährigen mit 2 250 Teilnehmer (1 131 Geimpfte) (26, 27). Just am selben Tag gaben die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) die Warnung heraus, die auf die Verbindung von Myokarditis und Perikarditis nach mRNA-COVID-19-Impfung hinwies (28). Diese basierte auf Meldungen an das dem CDC angegliederte Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS). Bis Mitte 2021 waren beim VAERS 1 226 Fälle von wahrscheinlicher Myokarditis/Perikarditis registriert worden.
Abwägung bei Myokarditisrisiko
Um dieses Ausmaß zu erkennen, waren rund 300 Millionen verabreichte mRNA-Impfstoffdosen benötigt worden (29). Bislang sollen in den USA an Kinder im Alter von 5–11 Jahren rund 6 Millionen Dosen verimpft worden sein, davon eine Million als zweite Dosis. Diese laufende Impfkampagne bessere die Datenlage nicht, solange keine Auswertungen vorlägen, sagte Mertens. Folglich wird auch nach der STIKO-Empfehlung die Nutzen-Risiko-Abwägung für oder gegen eine Impfung individuell erfolgen müssen. Diese Abwägung betrifft drei Faktoren, die miteinander ins Verhältnis zu setzen wären: zum Ersten das Risiko von Nebenwirkungen, zweitens die Infektionswahrscheinlichkeit und drittens die Erkrankungswahrscheinlichkeit.
Als prominenteste Nebenwirkungen werden nach mRNA-Impfung Fälle von Myo-/Perikarditis gehäuft bei jüngeren Männern beobachtet, besonders nach der zweiten Dosis. Sie sind nach der Häufigkeitsklassifikation der Nebenwirkungen sehr selten (≤ 1/10 000): Israelische und US-Studien berichten Inzidenzen von 6,3–6,7 je 100 000 bei Jünglingen im Alter von 12–17 Jahren und 10,7 je 100 000 bei 16–19-Jährigen.
In Deutschland sammelt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Spontanberichte, ihm wurden bis Ende September 1 243 Verdachtsfälle einer Myo-/Perikarditis aller Altersgruppen bei über 92 Millionen Impfdosen von Comirnaty und Spikevax gemeldet, ungeachtet eines Kausalzusammenhangs (25). Die Melderate lag für Jungen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren bei 4,81 pro 100 000 Impfdosen.
Schon das sind 7 Mal mehr als laut PEI statistisch zu erwarten gewesen wäre. Kein solches Signal ergab sich bei Mädchen derselben Altersgruppe (0,49 Fälle je 100 000 Dosen). Für die in Rede stehende Gruppe der 5–11-Jährigen sind keine Daten ausgewiesen, sondern nur für Ältere. Die Zahl der Impfdosen bei Kindern und Jugendlichen ist extrapoliert. Die Melderate unterliegt weiteren Unsicherheitsfaktoren (Kasten).
Was den zweiten Punkt angeht, so verglich eine viel zitierte Studie aus Israel das Impf- mit dem Erkrankungsrisiko durch COVID-19. Sie kam auf 2,7 Myokarditisfälle pro 100 000 Personen nach Impfung und 11/100 000 Fälle nach Erkrankung. Allerdings war die Myokarditisrate nach Impfung etwa 4 Mal niedriger als in anderen Studien, wahrscheinlich bedingt durch den Einschluss von Menschen jeden Alters (30).
In puncto Infektionswahrscheinlichkeit sind zum Beispiel Inzidenzen in der Umgebung oder Art und Zahl der persönlichen Kontakte zu berücksichtigen. Infizieren sich viele oder alle Kinder, führen auch relativ niedrige Erkrankungsraten zu hohen absoluten Zahlen. Doch gilt das Gleiche für unerwünschte Impfeffekte. Werden viele oder alle Kinder geimpft, bekommen seltene Nebenwirkungen Relevanz. 5 Myokarditiden je 100 000 Impfdosen (laut PEI) summierten sich bei Grundimmunisierung von 6 Millionen Kindern im Alter von 5–11 Jahren auf 600 Fälle.
Langfristige Nebenwirkungen
Dass Herzmuskelentzündungen nach der Spikevax-Impfung (100 µg modfizierte mRNA) im Vergleich zu Comirnaty (30 µg) häufiger auftreten, deutet auf eine Dosis-Wirkungsbeziehung und gleichzeitig auf einen Klasseneffekt hin; insofern ist die minimierte Dosis beim Kinderimpfstoff (10 µg) aus Sicherheitsgründen naheliegend.
Möglich ist, dass Mechanismen einer autoimmun bedingten Herzschädigung dies erklären könnten (16, 31). Wenngleich sich die meisten Kinder und Jugendlichen erholen, ist offen, ob andere Spätfolgen, die unbestimmte Zeit nach der Impfung auftreten, oder bekannte Nebenwirkungen, die erneut auftreten können, auszuschließen sind. Zum Beispiel könnte eine durchgemachte Vorschädigung am Herzen Jahre später andere kardiale Ereignisse bedingen, die dann nicht mehr in Verbindung gebracht werden.
Das PEI schließt Spätfolgen in diesem Sinne kategorisch aus: „Nebenwirkungen, die erst Jahre nach einer Impfung auftreten, sind bei Impfstoffen nicht bekannt.“ Man wisse aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass die meisten Nebenwirkungen innerhalb weniger Stunden oder weniger Tage nach einer Impfung aufträten (32). Nach dieser Logik wären Studien zu Langzeitfolgen überflüssig. Über theoretisch denkbare Spätfolgen einer Myokarditis können zurzeit keine Aussagen gemacht werden, schreibt indes die STIKO (33). Ralf L. Schlenger
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit5121
oder über QR-Code.
Was die Melderaten über unerwünschte Wirkungen bedeuten
Das PEI berichtete über 172 188 aus Deutschland gemeldete Verdachtsfälle von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung gegen SARS-CoV-2 (25). Aussagen zur tatsächlichen Häufigkeit unerwünschter Ereignisse sind auf Basis solcher, passiver Spontanmeldesysteme – wenn also Betroffene oder Gesundheitspersonal einen Verdacht immer nur von sich aus melden – aus mehreren Gründen nicht möglich.
Zunächst unterliegen sie einem beträchtlichen „underreporting“. Dessen Ausmaß lässt sich laut PEI „nicht exakt beziffern“; eine Anfrage zur geschätzten Höhe der Dunkelziffer im Bezug auf COVID-19-Impfungen blieb unbeantwortet. Laut Prof. Dr. med. Thomas Mertens, Vorsitzender der STIKO, ist zudem auch im Falle eine Meldung von einer erheblichen Verzögerung auszugehen.
Schwerwiegende Nebenwirkungen würden häufiger gemeldet als leichte, so das PEI. Vermutlich werden auch solche, die kurz nach einer Impfung auftreten, eher gemeldet als später beobachtete oder solche, bei denen Ärzte keinen Zusammenhang mit der Impfung herstellen, etwa weil die Symptome einer Grunderkrankung zugeordnet werden. Auch die Häufigkeit von Nebenwirkungen, die Arbeitsbelastung der potenziellen Melder, die mediale Berichterstattung und somit der „Ruf“ eines Impfstoffs können Einfluss auf die Meldebereitschaft nehmen.
Zum Ausmaß der Untererfassung in Spontanmeldesystemen existieren unterschiedliche Schätzungen. Ein amerikanischer Review kam zu einem Underreporting von 94 % bei allen unerwünschten Arzneimittelwirkungen und 85 % für schwere Nebenwirkungen (34). Es ist unklar, wie Spontanmelderaten bei Impfstoffen gegen COVID-19 hier einzuordnen sind. Einerseits stehen sie als neuartige Vakzine verstärkt unter Beobachtung. Die Anwendung erfolgt milliardenfach, häufig unter Zeitdruck, mancherorts unter politischem und gesellschaftlichem Druck. Solche Umstände sorgen für Skepsis. So werden die Verdachtsfälle von Nebenwirkungen, Krankheits- und Todesfällen an die Meldesysteme in sozialen Medien häufig und zum Teil bewusst missinterpretiert, indem man sie als gesicherte Fälle und Impffolgen dargestellt (35). Verdachtsfälle sind per definitionem nur solche, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung ohne Beleg eines kausalen Zusammenhangs auftreten – sie sind zunächst ungeprüft. Botschaften wie „Das Risiko an einem COVID-Impfstoff zu versterben ist 170 Mal größer als nach einer Grippeimpfung“ oder „Die Gesamtzahl an mit COVID-19-Vakzinen assoziierten Todesfällen (13 911) ist größer als die Gesamtzahl von Todesfällen, die mit allen anderen Impfstoffen zusammen seit 1990 beobachtet wurden“, sind zwar nicht fingiert, sondern der US-Meldeseite VAERS durchaus zu entnehmen. Unklar bleibt leider, inwieweit die Zahlen überprüft werden oder wurden und ob eine übersteigerte Meldeaktivität eine Rolle gespielt haben könne. „1 802 Verdachtsfallmeldungen über einen tödlichen Ausgang in unterschiedlichem zeitlichen Abstand zur Impfung“ aus dem PEI-Sicherheitsbericht klingen kaum weniger irritierend, zumal die Zahlen nicht mit entsprechenden Grafiken zur Deckung zu bringen sind.
Mit der „SafeVac“-App wurde für die Bevölkerung der Versuch gemacht, vermutete Nebenwirkungen zeitnah und umfassend zu sammeln. Hier haben sich über 712 000 Personen und somit insgesamt 1,3 % der Geimpften registriert. Gemeldet wurden schwere Nebenwirkungen mit einer Rate von 370 je 100 000 und damit ein Vielfaches der 20 je 100 000 aus dem PEI-Sicherheitsbericht.
Meldeverpflichtungen zu Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen und Impfkomplikationen sind in Deutschland gesetzlich und standesrechtlich festgelegt. Sie können über einen Link online gemeldet werden (37).
1. | Luxi N, Giovanazzi A, Capuano A, et al.: COVID‑-19 Vaccination in Pregnancy, Paediatrics, Immunocompromised Patients, and Persons with History of Allergy or Prior SARS‑-CoV-2 Infection: Overview of Current Recommendations and Pre- and Post-Marketing Evidence for Vaccine Efficacy and Safety. Drug Safety 2021; 44: 1247–69 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Wilkinson D, Finlay I, Pollard AJ, et al.: Should we delay covid-19 vaccination in children? BMJ 2021; 374: n1687 CrossRef MEDLINE |
3. | Bonati M, Benelli E: Vaccinating adolescents wisely against COVID-19. BMJ Paediatrics Open 2021; 5:e001191 . |
4. | Walter EB, Talaat KR, Sabharwal C, et al.: Evaluation of the BNT162b2 Covid-19 Vaccine in Children 5 to 11 Years of Age. N Engl J Med 2021 Nov 9; NEJMoa2116298. doi: 10.1056/NEJMoa2116298 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
5. | COVID-19-Impfung für Fünf- bis Elfjährige – Wie wichtig ist die Impfung zum Schutz der Kinder? Press-Briefing des Science-Media Center Germany, 26. November 2021. |
6. | Fernandes DM, Oliveira CR, Guerguis S, et al.: Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Clinical Syndromes and Predictors of Disease Severity in Hospitalized Children and Youth. J Pediatr 2021; 230: 23–31 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
7. | Deutsche Welle – Bericht https://www.dw.com/de/usa-zweifel-an-corona-impfung-f%C3%BCr-kinder/av-59957367. |
8. | RKI Wöchentlicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) 9. Dezember 2021. |
9. | Götzinger F, Santiago-García B, Noguera-Julián A, et al.: COVID-19 in children and adolescents in Europe: a multinational, multicentre cohort study. Lancet Child Adolesc Health 2020; 4 (9): 653–61 CrossRef |
10. | Zimmermann P, Pittet LF, Finn A, et al.: Should children be vaccinated against COVID-19? Arch Dis Child 2021; 0: 1–8. doi:10.1136/archdischild-2021–323040 CrossRef MEDLINE |
11. | Schutz und Verantwortung für die Jüngsten in der Pandemie. Gemeinsame Presseinformation von DGKJ und BVKJ, 18. November 2021. |
12. | Aktuelle Ergebnisse der DGPI-Datensammlung von stationären COVID-19 Fällen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland https://dgpi.de/covid-19-survey-update/. |
13. | DIVI-Intensivregister. Aktuelle Altersstruktur der ITs-Belegung durch COVID-19-Fälle https://www.intensivregister.de, zuletzt abgerufen 7. Dezember 2021. |
14. | RKI. Wöchentlicher Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 25. November 2021. |
15. | Clare S, David O, Rachel H: Deaths in children and young people in England following SARS-CoV-2 infection during the first pandemic year: a national study using linked mandatory child death reporting data. Research Square 2021. doi: 10.21203/rs.3.rs-689684/v1 CrossRef |
16. | Kraus D, Weinmann-Menke J: MEDIZINREPORT Autoimmunphänomene: Was uns SLE über COVID-19 verrät. Dtsch Arztebl 2021; 118 (49): A-2330/B-1911. |
17. | Molteni E, Sudre CH, Canas LS, et al.: Illness duration and symptom profile in symptomatic UK school-aged children tested for SARS-CoV-2. Lancet Child Adolesc Health 2021; 5: 708–18 CrossRef |
18. | SARS-CoV-2 Impfung bei 5– bis 11-jährigen Kindern. Gemeinsame Presseinformation von Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Deutscher Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). |
19. | Fernandes DM, Oliveira CR, Guerguis S, et al.: Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Clinical Syndromes and Predictors of Disease Severity in Hospitalized Children and Youth. J Pediatr 2021; 230: 23–31 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
20. | National Institute for Public Health and the Environment, Netherlands. Children and COVID- 19. https://www.rivm.nl/en/novel-coronavirus-covid-19/children-and-covid-19, letzter Zugriff 8. Dezember 2021. |
21. | Park YJ, Choe YJ, Park O, et al.: Contact tracing during coronavirus disease outbreak, South Korea, 2020. Emerg Infect Dis.2020;26:2465–2468. https://doi:org/10.3201/eid2610.201315 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
22. | Schlenger R: Was Superspreader auszeichnet. Dtsch Arztebl 2021; 118(11): A-572 / B-481 VOLLTEXT |
23. | SARS-CoV-2-Impfung bei 5– bis 11-jährigen Kindern. Gemeinsame Presseinformation von Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Deutscher Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). PM vom 25. November 2021. |
24. | Renk H, Dulovic A, Becker M, et al.: Typically asymptomatic but with robust antibody formation: Children’s unique humoral immune response to SARS-CoV-2. medRxiv 2021.07.20.21260863; doi: https://doi.org/10.1101/2021.07.20.21260863 CrossRef |
25. | Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19 seit Beginn der Impfkampagne am 27.12.2020 bis zum 30.09.2021. Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Sicherheitsbericht v. 26.10.2021 https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/arzneimittelsicherheit.html. |
26. | Polack FP, Thomas SJ, Kitchin N, et al.: Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine N Engl J Med 2020;383:2603–15 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
27. | Frenck RW, Klein NP, Kitchin N, et al. for the C4591001 Clinical Trial Group: Safety, Immunogenicity, and Efficacy of the BNT162b2 Covid-19 Vaccine in Adolescents. N Engl J Med 2021; 385: 239–50 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
28. | Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Myocarditis and Pericarditis After mRNA COVID-19 Vaccination. https://www.cdc.gov/coronavirus/2019-ncov/vaccines/safety/myocarditis.html. |
29. | Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP) ACIP Presentation Slides: June 23–25, 2021 Meeting. https://www.cdc.gov/vaccines/acip/meetings/slides-2021-06.html. |
30. | Barda N, Dagan N, Ben-Shlomo, et al.: Safety of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine in a Nationwide Setting. N Engl J Med 2021; 385:.1078–90; doi:10.1056/NEJMoa2110475 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
31. | Keiser S, Sabin G, Nguyen HN: Städtische Kliniken Mönchengladbach: Statement zu Pathomechanismen der impfinduzierten Myokarditis, Science Media Center 10. November 2021; https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/aenderung-der-stiko-empfehlung-nach-myokarditisfaellen/. |
32. | Website des PEI/Service/Sicherheit und Wirksamkeit. Müssen Langzeitfolgen von Impfstoffen, die erst Jahre nach der Impfung eintreten, befürchtet werden? https://www.pei.de/DE/service/faq/coronavirus/faq-coronavirus-node.html;jsessionid=1388219621FDA774A6ABA5ACCC92F3CF.intranet211?cms_tabcounter=2. |
33. | Epidemiologisches Bulletin 48 | 2021 2. Dezember 2021 . |
34. | Hazell L, Shakir A: Under-reporting of adverse drug reactions : a systematic review. Drug Saf 2006;.29:.385–96 CrossRef MEDLINE |
35. | Impf-Nebenwirkungen: WHO-Zahlen falsch interpretiert. Deutsche Welle 3. Dezember 2021 https://www.dw.com/de/impf-nebenwirkungen-who-zahlen-falsch-interpretiert/a-59996755?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE. |
36. | VAERS Summary for COVID-19 Vaccines through 8/27/2021; https://vaersanalysis.info/2021/09/03/vaers-summary-for-covid-19-vaccines-through-8-27-2021/. |
37. | Link zur Meldung von Impfnebenwirkungen am PEI https://www.pei.de/DE/arzneimittelsicherheit/pharmakovigilanz/meldeformulare-online-meldung/meldeformulare-online-meldung-node.html. |
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.