THEMEN DER ZEIT
Regionale Versorgung: Kooperation vor Ort wird relevanter
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Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Versorgung in den Regionen? Josef Hilbert und Petra Rambow-Bertram vom Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen e.V. erklären, weshalb die Pandemie für die Regionen ein Booster war und welche Herausforderungen sich nun stellen.
Die Vernetzung in den Regionen wird seit ein bis zwei Jahrzehnten von ganz unterschiedlichen Akteuren vorangetrieben. So haben sich niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Praxisnetzen zusammengetan, um die Patientenversorgung zu verbessern und die Organisation der Praxen zu erleichtern. Zugleich haben sich Initiativen auf den Weg gemacht, um ihre Regionen als Zukunftsstandorte der Gesundheitswirtschaft zu profilieren. Getragen wurden diese Initiativen zumeist von Vereinen oder vereinsähnlichen Plattformen, also von zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, in denen Unternehmen, Einrichtungen und Akteure der Gesundheitswirtschaft, Hochschulen, außeruniversitäre Forschungsinstitute und zum Teil auch öffentliche Institutionen mitwirkten. Später wurden ähnliche Plattformen auch von Kommunen oder Bundesländern geschaffen.
Das Engagement dieser Gesundheitsregionen galt anfangs überwiegend dem Herausarbeiten und Kommunizieren der Bedeutung und der Innovationspotenziale der einschlägigen Unternehmen und Einrichtungen. Schnell stellte sich aber heraus, dass insbesondere innovative Wege nur im Verbund Sinn machen. Gesundheitsregionen setzen heute mithin keineswegs nur auf Hightech, Wirtschaftsförderung und Fachkräftesicherung, sondern kümmern sich auch um bessere Prävention und um Fortschritte bei der Versorgung.
Gutes Miteinander
Neben den zahlreichen Praxisnetzen gibt es rund 25 größere zivilgesellschaftlich getragene sowie etwa 80 durch Kommunalpolitik initiierte und durch Landespolitik unterstützte Gesundheitsregionen. Sie sind so heterogen wie die regionalen Versorgungsstrukturen, in denen sie sich befinden. Allen Regionen gemein ist allerdings, dass die Vernetzung von einem oder mehreren engagierten Akteuren angestoßen wurde – und dass es für ein gutes Miteinander essenziell ist, sich gegenseitig zu kennen und im Idealfall auch zu schätzen.
Während der COVID-19-Pandemie ist den Gesundheitsregionen ein Kollateralnutzen widerfahren: eine positive Nebenwirkung einer an sich negativen Entwicklung. Die regionale Ebene konnte ihre Leistungsfähigkeit gerade durch eine gut strukturierte und vernetzte Gesundheitsbranche zeigen. Dabei vollzog sich die Pandemie aus Sicht der regionalen Versorger in drei Etappen: In der frühen Phase waren hochengagiertes Improvisieren und Kooperationen suchende Aktivitäten zu beobachten. Die Herausforderungen waren neu und an vielen Stellen kam es zu erschreckenden Engpässen, vor allem bei der Materialbeschaffung. In dieser Situation gab es eine große Offenheit, die Herausforderungen unkonventionell zu lösen. Viele Regionen konnten ihre branchen- und sektorenübergreifenden Fachkenntnisse und Kommunikationskanäle gut einbringen – etwa bei der Beschaffung und Herstellung von Desinfektionsmitteln oder Masken und beim Aufbau von Testangeboten. Die Vernetzung und eingeübte Kultur der Kooperation bewiesen Leistungsfähigkeit und waren eine fördernde Kraft für schnelle Antworten.
Eine zweite Phase der Pandemiebewältigung brachte eine Rückbesinnung auf etablierte, wenngleich sektorenspezifische Leistungspotenziale. Krankenhäuser wie niedergelassene Ärztinnen und Ärzte richteten ihre Prozesse auf die Pandemieanforderungen aus und erwiesen sich als leistungsfähig und belastbar. Auch der öffentliche Gesundheitsdienst startete durch: Mithilfe von Personal aus anderen Teilen der Kommunalverwaltung und vielerorts auch der Bundeswehr wurde mit bewährter Konsequenz am Nachverfolgen, Isolieren und Ersticken von Infektionsherden sowie am Aufbau von Impfzentren gearbeitet. Rückenwind bekam dieses Erstarken etablierter Leistungswege durch das öffentlichkeitswirksame Auftreten der epidemiologischen und virologischen Forschung: Diese setzte in erster Linie auf großflächige und einheitliche Strategien, in denen sozial- und regionalspezifisch differenzierte Wege der Pandemiebekämpfung nur wenig zur Geltung kamen. Im internationalen Vergleich erwies sich diese schematisch-dynamische Vorgehensweise als sehr leistungsstark. Darüber hinaus stieß sie auch in großen Teilen der Bevölkerung auf beachtliche Akzeptanz. Es blieb aber wenig Platz für die Weiterentwicklung von dezentralen Netzwerksansätzen. Gesundheitsregionen waren in dieser Zeit Randfiguren: geschätzt, aber nicht systemrelevant.
Feinfühlige Lösungswege
In einer dritten Phase der Pandemiebekämpfung stieg die Aufmerksamkeit für regional und sozial zugeschnittene, feinfühligere Lösungswege. Hintergrund dafür ist unter anderem, dass es offensichtlich bei Teilen der Bevölkerung Zugangsprobleme für angemessene Vorsicht, für Kontaktzurückhaltung und für das Sich-Impfen-Lassen gibt, zu deren Überwindung neue Wege erforderlich sind. Bereits seit Anfang 2021 wurde deshalb in den Regionen nach mehr Zielgenauigkeit in der Pandemiebekämpfung gesucht und aufgezeigt, dass dezentrale, zielgruppenspezifische Ansätze nicht nur bereits vereinzelt praktiziert werden, sondern sich auch als vielversprechend erweisen und darauf warten, vertieft und verbreitert zu werden. Aufmerksamkeit erhielten diese Ansätze jedoch erst im Spätherbst 2021. Die massiven Probleme bei der Adressierung besonders impfferner Teile der Bevölkerung haben sich als Aufmerksamkeitsschub für feinfühlig angelegte, regional- und sozialspezifisch ausgerichtete Adressierungswege dargestellt.
Insgesamt kann beim Blick auf die Auswirkungen der Pandemie auf Gesundheitsregionen festgehalten werden, dass die Aufmerksamkeit für regionale Gestaltungswege und für die Leistungspotenziale von Gesundheitsregionen gestiegen ist. Das zeigt sich auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Darin heißt es, dass die Attraktivität von Gesundheitsregionen durch bevölkerungsbezogene Versorgungsverträge erhöht werden soll. Die Ampelkoalitionäre wollen innovative Versorgungsformen stärken, indem sie den gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ausweiten wollen.
In vielen Regionen zeigt sich schon heute, wie eine solche innovative Versorgung aussehen kann. So sind mancherorts Lotsen oder Kümmerer etabliert, die die Versorgung von geriatrischen oder Schlaganfallpatienten in den Regionen koordinieren. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass ihre Arbeit medizinische Vorteile bringt und Kosten spart. Andernorts wird in Videokonferenzen sondiert, ob ein Bewohner eines Altenheims in ein Krankenhaus gefahren werden muss oder ob auch eine niedrigschwellige Intervention im Heim möglich ist. Bislang werden solche Modelle allerdings nicht aus der Regelversorgung heraus getragen, sondern beispielsweise von Stiftungen, Vereinen oder Managementgesellschaften umgesetzt und aus Sondertöpfen – etwa aus dem Innovationsfonds – bezahlt. Was ebenfalls noch verbessert werden muss, sind niedrigschwellige, aber wirkungsvolle Messsysteme, mit denen die innovativen Interventionen in den Regionen auch evidenzbasiert bewertet werden und dann in die Breite gehen können.
In anderen Regionen schauen sich Krankenhäuser, Gesundheitsforschung und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte gemeinsam an, wie die regionale Morbidität beschaffen ist und wie sich diese voraussichtlich bis 2040 entwickeln wird. Auf dieser Basis können sie dann definieren, wie den zu erwartenden Bedarfen mit den gegebenen Mitteln der Versorgung begegnet werden kann: vom Disease Management bis zur Schaffung vermehrter Plätze für Kurzzeitpflege.
Ein sehr wichtiger Aspekt für die zukünftige Versorgung ist auch das Vorhandensein von Fachkräften. Deshalb arbeiten die Regionen schon heute an Konzepten, mit denen sie Fachkräfte für sich gewinnen beziehungsweise bei sich halten wollen. Der Anreiz, den sie dabei setzen, ist nicht in erster Linie das Geld, sondern die Innovation. Sie werben damit, mit neuen Ideen die Versorgung in der Region verbessern zu wollen. Für viele Fachkräfte ist das ein interessanter Anreiz.
Große Herausforderung
Bleibt die Frage, wie die Versorgung in den Regionen künftig finanziert werden soll. Eine interessante Idee sind Regionalbudgets, bei denen die Versorger vor Ort ein bestimmtes Budget erhalten, mit dem sie selbst die Patientenversorgung in der Region finanzieren. Bis dahin wäre es noch ein langer Weg. Bei dem einen oder anderen Kostenträger scheint jedoch Sympathie für diese Idee aufzukeimen.
Klar ist in jedem Fall: Lösungen zu finden, um die Erwartungen an die Regionen beim Durchstarten für patientenorientiert vernetzte Versorgung zu erfüllen, ist eine große Herausforderung. Bislang wurde oft nach „Rückenwind aus Berlin“ gerufen. Jetzt heißt es, die sich weiter öffnenden Gestaltungsspielräume vor Ort offensiv zu nutzen. Dazu sind neben Wissen und Organisationskraft auch Konsens sowie Durchsetzungsgeschick erforderlich ‒ und der Mut, sich einer evidenzbasierten Wirkungsmessung zu stellen.
Prof. Dr. rer. soc. Josef Hilbert,
Dr. med. Petra Rambow-Bertram
Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen e.V.
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