THEMEN DER ZEIT: Aufsätze
Rückblick aus aktuellem Anlass - Vertragsärzte: Abschied vom Streikrecht


Heute werde ich beantragen, dass in der Krankenversicherung das System der fest an-gestellten Ärzte eingeführt
wird." Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald (Zentrum) befand sich im Frühjahr 1931 auf dem Weg ins
Kabinett, als er dies Maximilian Sauerborn, Ministerialrat in seinem Ministerium, mitteilte. Sauerborn konnte
ihn - so erinnerte er sich 22 Jahre später - von diesem Antrag nur mit dem Versprechen abbringen, dass er
binnen eines halben Jahres für eine Einigung zwischen Ärzten und Krankenkassen sorgen werde. "Wenn Sie es
bis dahin nicht geschafft haben, die beiden Parteien zusammenzukriegen, dann wird das gemacht", soll
Stegerwald ihm darauf mit auf den Weg gegeben haben.
Die "Sozialisierung des Heilwesens" bedeutete in der Zeit der Weimarer Republik für die ärzt-liche
Berufspolitik eine immer wieder ins Gespräch gebrachte mögliche Variante staatlicher Gesundheitspolitik. Die
Folgen der Weltwirtschaftskrise hatten in Deutschland die Hemmschwelle für Eingriffe des Staates in das
Verhältnis von Ärzten und Krankenkassen noch merklich herabgesetzt. Stegerwalds Vorstellungen gingen dahin,
den Krankenkassen die feste Anstellung von etwa 20 000 Ärzten mit einem Jahresgehalt von 15 000 Reichsmark
vorzuschreiben. Die ärztlichen Standesvertreter waren wegen dieser Drohung unter Zugzwang gesetzt und zu
Kompromissen geneigt. Lange Jahre hatte sich der Staat aus dem Verhältnis zwischen Ärzten und
Krankenkassen herausgehalten. Der seit der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr
1883 stetig zunehmenden Nachfragemacht der Krankenkassen für ärztliche Leistungen hatte der Hartmannbund
seit seiner Gründung (1900) mit gewerkschaftlichen Kampfmethoden - das heißt vor allem mit Streik -
entgegenzuwirken versucht. Das nach zahllosen Streikaktionen im Dezember 1913 zwischen den
Krankenkassenverbänden und den Ärzten vereinbarte Berliner Abkommen bedeutete einen wichtigen Schritt für
die ärztliche Interessenvertretung, da es der Ärzteschaft ein Mitspracherecht bei der Zulassung zur
kassenärztlichen Tätigkeit zubilligte. Das Berliner Abkommen kam nicht zuletzt auf Drängen der
Reichsregierung zustande; eine direkte staatliche Beteiligung an dem Vertrag gab es nicht.
Auch die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren zunächst durch heftige Auseinandersetzungen zwischen
Ärzten und Krankenkassen geprägt. Die Kassenärzte erwarteten einen regelmäßigen Inflationsausgleich für ihre
Leistungen, die Krankenkassen litten - bedingt durch die katastrophale Wirtschaftslage - an einem chronischen
Defizit. Die Neuverhandlung über eine Verlängerung des Ende 1923 auslaufenden Berliner Abkommens führte
zu keinem Ergebnis, sodass sich nunmehr das Kabinett Stresemann genötigt sah, auf dem Wege der
Notverordnung dem Berliner Abkommen einen gesetzlichen Charakter zu verleihen. Ein gegenüber 1913 neu
eingerichteter Reichsausschuss für Ärzte und Krankenkassen sollte als zentrale Instanz mit verbind-licher
Wirkung Richtlinien für das Kassenarztrecht erlassen. Ein staatliches Eingriffsrecht für den Fall der
Nichteinigung im Reichsausschuss war allerdings noch nicht vorgesehen.
Im Dezember 1923 begannen die Ärzte aus Protest gegen die Notverordnungen Stresemanns, die eine einseitige
Beschneidung der kassenärztlichen Rechte darstellten, einen landesweiten Generalstreik, der bis Ende Januar
1924 andauerte. Maximilian Sauerborn erinnert sich: "Ich habe damals den Ärztestreik, der ungefähr vier
Wochen - über Weihnachten - dauerte, im Referat Krankenversicherung des Reichsarbeitsministeriums
miterlebt. Ich habe damals täglich Stöße von Telegrammen bekommen, aus denen ich in einer Klarheit
sondergleichen die Auswirkung dieses Streiks gesehen habe. . . . Damals . . . ist in mir der feste Entschluss
entstanden, niemals wieder, soweit ich es beeinflussen und verhindern kann, einen Streik zwischen Ärzten und
Krankenkassen aufkommen zu lassen, weil ich damals kennen gelernt habe, wie die Versicherten darunter
leiden." Als sich die Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen unter den Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise einige Jahre später zuspitzten und im Kabinett Brüning die Verstaatlichung der Kassenärzte
zur Debatte stand, versuchte Sauerborn, zu einer dauerhaften, allen Seiten gerecht werdenden Lösung
beizutragen.
Im Laufe des Jahres 1931 gab es eine Reihe von Verhandlungen mit allen Beteiligten, die das Verhältnis
zwischen Ärzten und Krankenkassen auf eine völlig neue Basis stellten; diese hat sich in ihren Grundzügen bis
heute erhalten. Die Krankenkassen zahlten nunmehr je Versicherten eine Kopfpauschale, die sich nach den
vorliegenden Zahlen für 1930 berechnete, abzüglich eines vom Hartmannbund zugestandenen Abschlages. In
das immer noch zwischen Kassenarzt und Krankenkasse bestehende Vertragsverhältnis wurden nun als ärztliche
Selbstverwaltungsorgane die Kassenärztlichen Vereinigungen geschaltet, denen die Verteilung des
kassenärztlichen Honorars, aber auch die Überprüfung der Nützlichkeit und Notwendigkeit ärztlicher Leistungen
oblag.
Bereits durch die Ortskrankenkassen errichtete Ambulatorien erhielten Bestandsschutz, doch sollte künftig die
ambulante Versorgung den freiberuflichen Ärzten vorbehalten bleiben. Bedingung dafür war, dass damit das
Eintreten eines vertragslosen Zustands, das heißt Streik, ausgeschlossen wurde - ein sicherlich schwieriges
Zugeständnis für den Hartmannbund, der insbesondere in seiner frühen Phase wesentliche Forderungen mit
Kampfmaßnahmen durchgesetzt hatte. In Honorarfragen sollten die Vertragspartner ein gesetzlich geregeltes
Schiedsverfahren befolgen. Bei Nichteinigung im Reichsausschuss für Ärzte und Krankenkassen, der die
einzelnen Bestimmungen zur Regelung der kassenärztlichen Tätigkeit zu treffen hatte, sollte der
Reichsarbeitsminister die Vollmacht zur Zwangsschlichtung erhalten.
Nachdem die ärztlichen Organisationen und die Verbände der Ortskrankenkassen nach langen Diskussionen
1931 der Neuregelung der Vertragsbeziehungen zugestimmt hatten, wurden sie durch Notverordnung des
Reichspräsidenten vom 8. Dezember 1931 ohne wesentliche Änderungen in Kraft gesetzt. Den Ärzten war es
gelungen, die von vielen befürchtete Verstaatlichung des ärztlichen Standes zu verhindern - allerdings um den
Preis der Einbindung des einzelnen Arztes in eine neue gesetzlich legitimierte körperschaftliche Struktur unter
Verzicht auf den vertragslosen Zustand. Die Grundzüge dieses Systems blieben auch über die Zeit des
Nationalsozialismus erhalten.
Nach 1945 wurde eine gesetzliche Neuregelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen
notwendig, da die durch die Verordnung von 1931 geschaffenen zentra-len Gemeinschaftseinrichtungen, der
Reichsausschuss für Ärzte und Krankenkassen und das Reichsschiedsamt, nicht mehr existierten.
Als sich 1949 die wieder errichteten ärztlichen Standesorganisationen im Westen Deutschlands für eine dem
Vorbild von 1931 entsprechende Lösung einsetzten, glaubten die Beteiligten zunächst an eine rasche Lösung.
Dass sich die Verabschiedung des Kassenarztrechts bis ins Jahr 1955 verzögern würde, sah zunächst niemand
voraus. Zu der Verzögerung trug nicht zuletzt ein heftiger Streit bei, der unter den ärztlichen
Berufsorganisationen gerade über die Frage des Streikrechts für Ärzte entbrannte. Hauptkontrahenten waren
dabei die 1948 errichtete Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der 1949 neu gegründete
Hartmannbund, der an die Tradition der ehemals freien ärztlichen Berufsorganisation anknüpfen wollte. Die
ausschließliche Einbindung ärztlicher Interessen in ein öffentlich-rechtliches Vertragssystem wurde vom neuen
Hartmannbund als eine Beschränkung empfunden, von der es sich zu lösen galt.
Vergeblich versuchte die Füh-rungsriege des Hartmannbundes Anfang der 50er-Jahre, an KBV und
Bundesärztekammer vorbei einen berufspolitischen Führungsanspruch durchzusetzen. Gleichwohl gelang es ihr,
den Hartmannbund gerade bei der gesetzlichen Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen
als Widerpart zu den quasi öffentlich-rechtlichen Berufsorganisationen zu etablieren und das von deren Spitzen
verfolgte Konzept an den Rand des Scheiterns zu bringen. Zentraler Streitpunkt war dabei das im Gesetzentwurf
vorgesehene Zugeständnis der Ärzte, sich im Falle einer Nichteinigung mit den Krankenkassen einem gesetzlich
geregelten Schiedsverfahren zu unterwerfen und somit - wie schon in der 1931 erzielten Vereinbarung - einen
vertragslosen Zustand künftig auszuschließen. Im Gegenzug sollte den Vertragsärzten das Monopol bei der
ambulanten Versorgung zugestanden werden.
Als zu Beginn des Jahres 1951 erste Details des Gesetzentwurfs bekannt wurden, reagierte der
Hartmannbund-Vorsitzende Friedrich Thieding empört: "Wie ich vertraulich erfuhr, soll im Referentenentwurf
verankert sein, dass bei Nichteinhaltung der Entscheidung der Schiedsinstanzen der betreffende Vertragspartner
regresspflichtig gemacht werden kann. Wenn dieses der Fall ist, so würde die KV immer gebunden sein und
damit auch jeder einzelne Kassenarzt. Es bestände dann niemals die Möglichkeit, einen vertragslosen Zustand
durchzuführen. Wie eine solche Knebelung mit dem Grundgesetz vereinbar sein soll, ist mir bisher noch unklar."
Ein offener Streit unter den ärztlichen Standesvertretern in dieser Angelegenheit brach Ende des Jahres 1951 aus.
Aus der Führung des Hartmannbundes kam der Ruf nach Ablösung der KBV-Spitze, da diese die Interessen der
Ärzte verraten habe; ein Vertreter des gegnerischen Lagers zog das Resümee, "dass jeder Versuch, den
Hartmannbund zur Vernunft zu bringen, verfehlt ist und die Interessen unseres Berufes schädigt. Nur noch die
rücksichtslose Bekämpfung des Hartmannbundes kann eine katastrophale Entwicklung unserer Berufspolitik
verhindern."
Unter diesen Vorzeichen war die Verhandlungsposition der Ärzte im Gesetzgebungsverfahren erheblich
geschwächt. Gespräche der ärztlichen Verbände brachten zwar in der Folge eine Annäherung in vielen Fragen;
doch war in der Frage Streikrecht oder gesetzlich geregelte Schlichtung keine gemeinsame Linie möglich. Auch
bei den 1953 beginnenden
Anhörungen in den Bundestagsaus-schüssen blieb der Hartmannbund bei der kategorischen Ablehnung der
"Zwangsschlichtung". Die damals noch schlechte wirtschaftliche Lage vieler niedergelassener Ärzte verschaffte
dem Hartmannbund auch an der Basis einen Rückhalt.
Als am 29./30. November 1952 ein außerordentlicher Deutscher Ärztetag in Bonn zusammentrat, stand die
gesamte gesetzliche Neuregelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen auf der Kippe. Der
Ärztetag befasste sich ausschließlich mit dem Gesetzentwurf zum Kassenarztrecht.
Knappe Abstimmung
Für Zündstoff sorgte der vom Hartmannbund eingebrachte Beschlussantrag, der sich gegen die verbindliche
Schlichtung bei Nichteinigung zwischen Ärzten und Krankenkassen wandte und ein auf Freiwilligkeit
beruhendes Schiedswesen forderte. Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Herbert Britz, entgegnete darauf:
"Meine Herren, die Frage der Schlichtung und der Schiedsinstanzen wird von einigen Leuten zu einer Frage der
Weltanschauung gemacht. . . . Es wird nämlich folgendermaßen argumentiert: Ihr, die Ihr für die
Zwangsschlichtung seid, Ihr seid die Feinde der Freiheit, aber wir, die dagegen sind, wir haben die Freiheit
gepachtet." Nach langer Diskussion lehnten die Ärztetags-Delegierten mit 79 gegen 62 Stimmen den Antrag des
Hartmannbundes ab. Ein anders lautendes Votum des Ärztetages hätte Konsequenzen für die weitere
Entwicklung des Kassenarztrechts gehabt, war doch der Verzicht der Ärzte auf die Möglichkeit eines
vertragslosen Zustands die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass den Kassenärztlichen Vereinigungen vom
Gesetzgeber das Monopol der ambulanten ärztlichenVersorgung zugestanden wurde. Bundesarbeitsminister
Anton Storch (CDU) erklärte dem KBV-Vorsitzenden Ludwig Sievers nach dem Ärztetag, dass er bei einem
anderen Abstimmungsergebnis den Bundeskanzler gebeten hätte, den Gesetzentwurf zurückzuziehen, sodass
Ärzte und Krankenkassen ihre Beziehungen auf dem Wege völliger Vertragsfreiheit hätten regeln müssen.
Die Abstimmungsniederlage beim Ärztetag hielt den Hartmannbund bis zur Verabschiedung des Gesetzes über
das Kassenarztrecht 1955 nicht davon ab, weiter gegen die "Zwangsschlichtung" zu streiten. Bei sich
verändernden Mehrheitsverhältnissen fürchtete man politische Einflussnahme auf die Besetzung der
Schiedsinstanzen. Dem Hartmannbund galt als sicher, "dass dieser Unparteiische in einem linksregierten Staate
ohne weiteres aus der Reihe derer genommen wird, die auf der Seite der Krankenkasse stehen". Noch
unmittelbar vor der Abstimmung im Bundestag versuchte der Hartmannbund mit einer Telegrammaktion seinem
Anliegen bei den Abgeordneten Gehör zu verschaffen, was aber den gegenteiligen Effekt hatte. Mit Zustimmung
von Abgeordneten aller Parteien passierte das Gesetz den Bundestag. Trotz der Befürchtungen des
Hartmannbundes trug das Kassenarztrecht in den folgenden Jahrzehnten entscheidend zum friedlichen
Miteinander der Vertragspartner in der Gesetzlichen Krankenversicherung bei.
Wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Gesetzes über das Kassenarztrecht hatte erneut Maximilian
Sauerborn, der seit 1949 Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium war.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-826-828
[Heft 13]
Anschrift des Verfassers
Dr. phil. Thomas Gerst
Ottostraße 12, 50859 Köln
Maximilian Sauerborn (1889-1963): lange Jahre Mitgestalter der kassenärztlichen Rechtsbeziehungen
Noch unmittelbar vor der Abstimmung über das Kassenarztrecht im Deutschen Bundestag 1955 versuchte der
Hartmannbund mit einer Telegrammaktion die befürchtete "Zwangsschlichtung" zu verhindern.
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